aus spektrum de, 3. 11. 2024 zu Jochen Ebmeiers Realien
Mathematik offenbart Überraschungen in einem Kinderspiel
Wenn der Ausgang eines Spiels allein vom Glück abhängt, ist es eigentlich ziemlich uninteressant. Spannend wird es aber, wenn man die Mathematik
von Florian Freistetter
Glücksspiele sind beliebt – und das, obwohl man dafür keine besonderen Fähigkeiten braucht. Man kann darüber streiten, ob es überhaupt als »Spiel« betrachtet werden sollte oder nicht. Ich möchte mich aber nicht mit dieser philosophischen Frage beschäftigen, sondern mit der Mathematik dazu.
Das erste Glücksspiel meines Lebens war vermutlich das »Leiterspiel«, das im englischen Sprachraum als »Snakes and Ladders« bekannt ist. Das Prinzip ist einfach: Auf einem Spielfeld muss man, je nach Würfelergebnis, eine gewisse Zahl an Feldern vorrücken. Wer zuerst im Ziel ist, hat gewonnen, mit der zusätzlichen Komplikation, dass es bestimmte Felder gibt (Leitern), auf denen man ein Stück näher ans Ziel gebracht wird, und andere (Schlangen), durch die man zurück in Richtung Start muss. Es gibt keine Taktik oder Strategie, die einen gewinnen lässt, man ist komplett dem Würfel und den Schlangen und Leitern ausgesetzt.
Als Kind hat mir das Spiel dennoch Spaß gemacht. Die
Mathematik dahinter habe ich erst vor Kurzem kennen gelernt. Es geht
dabei um eine Reihe an Zufallsvariablen und so weiter, welche die »Markow-Eigenschaft« erfüllen müssen:
Frei übersetzt bedeutet das: Die Wahrscheinlichkeit des Übergangs von einem Zustand zum nächsten hängt nur vom aktuellen Zustand ab. So ist es auch beim Leiterspiel: Es spielt keine Rolle, wie mein Spiel bisher verlaufen ist. Was im nächsten Zug passiert, wird allein vom Zufall bestimmt.
Eine Folge von Variablen, die diese Bedingung erfüllt, nennt man »Markow-Kette«. Diese steckt im Zentrum der mathematischen Analyse des Leiterspiels. Dazu muss man zuerst eine Übergangsmatrix konstruieren. In der ersten Zeile dieser Matrix stehen die Wahrscheinlichkeiten, mit denen man jedes andere Spielfeld vom Startfeld aus erreicht. In der zweiten Zeile stehen entsprechend die Wahrscheinlichkeiten für das Erreichen der Felder ausgehend vom ersten Feld, und so weiter.
Wenn man Schlangen und Leitern ignoriert, ist die Sache ziemlich einfach. Der erste Eintrag der ersten Zeile ist null, denn es geht immer vorwärts und man bleibt nie auf dem Feld, auf dem man schon steht. Die folgenden sechs Einträge sind gleich ein Sechstel, denn das ist die Wahrscheinlichkeit, die entsprechende Zahl zu würfeln. Der Rest der Zeile besteht aus Nullen, denn diese Felder kann man nicht erreichen. Für jede Zeile verschiebt sich der Block aus den sechs 1⁄6-Einträgen um eine Stelle weiter nach rechts.
Im realen Leiterspiel sieht die Sache aber anders aus. Wenn zum Beispiel auf Feld 17 eine Leiter ist, die mich direkt zu Feld 45 bringt, dann wird in der entsprechenden Zeile der Matrix an Position 45 ebenfalls der Wert 1⁄6 stehen (und an der Stelle für Feld 17 eine Null, weil man auf dieser Position ja nicht stehen bleiben kann).
Hat man diese Matrix für das jeweilige Spielbrett erst einmal konstruiert, lässt sich damit berechnen, wie viele Runden man im Durchschnitt benötigt, um ans Ziel zu gelangen (die Berechnung ist nicht trivial, aber auch nicht allzu komplex; man muss dazu unter anderem die Matrix invertieren). Ich habe probiert, das mit dem Spielbrett meiner Kindheit zu machen, aber das existiert leider nicht mehr. Vermutlich hatte es die üblichen 10 mal 10, also 100 Felder – aber ohne die genaue Anzahl und Position der Leitern und Schlangen lässt sich die erwartete Spieldauer nicht berechnen.
Das ist schade, denn die Mathematik der Markow-Ketten hat durchaus einige Überraschungen auf Lager. Es kann zum Beispiel passieren, dass man das Ziel schneller erreicht, wenn man auf dem Spielfeld zusätzliche Felder einfügt. Das klingt zwar widersprüchlich, aber wenn man zurückgeworfen wird, hat man erneut die Chance, eine der zuvor verpassten Abkürzungen zum Ziel zu nehmen. Womit wir wieder bei den philosophischen Aspekten des Spiels sind – aber das ist eine andere Geschichte.
Nota. - Was lernt uns dieses?
Dass es im echten Leben - und das ist alles, was uns begegnet und dem wir begeg-nen können - den Zufall wirklich gibt. Denn die Ausgangsbedingungen sind in ihrer Möglichkeit so unermesslich viele, dass ich sie gar nicht formalisieren - und mit ihnen gar nicht rechnen, sondern nur spekulieren kann. Das kann ich aber mit meinem Vorstellungsvermögen ebenso gut, und das Ergebnis ist nicht spekulativer als die fingierte Berechnung: Wie viele Würfel zuvor auch gefallen wären - was immer schon geschehen ist, beschränkte wohl das, was beim ersten Zug möglich war. Aber nicht beim zweiten Zug. Die sachlichen Bedingungen sind nun andere, aber nicht die Freiheit meiner Wahl. Der Jasager kann bei neuer Gelegenheit nein sagen.
Es ist nämlich so: Das Leben geht weiter, egal wie ich gewählt habe. Neues Spiel, neues Glück. Doch eben: Das Leben ging weiter! Was gestern möglich war, ist es heute womöglich nicht mehr. Aber was gestern unmöglich schien... usw. Es geht immer um die Sache, die Form ist Sache der Sachbearbeiter.
Will sagen, für die Lebensführung ist die mathematische Wahrscheinlichkeit uner-heblich. Beim ersten Zug ist alles offen. Beim zweiten Zug auch - mehr oder we-niger. Nur wissen wir nicht, was mehr und was weniger
Das ahnten wir alle intuitiv a priori. Dann kamen Fachleute und wollten uns eines andern belehren. Doch was sachlich möglich war, wussten wir beim ersten Durch-gang nicht und auch nicht beim zweiten; oder beim dritten oder vierten. Man muss es eben drauf ankommen lassen.
JE
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