Montag, 25. November 2024

Vagusnerv

Die Hirnnerven mit dem Vagusnerv in gelb 
aus spektrum.de, 21. 11. 2024                                                          zuJochen Ebmeiers Realien

Vagusnerv: Der Schlüssel in der Depressionsbehandlung?
Stress, Burnout, Depression… Wenn man den Schlagzeilen im Internet Glauben schenkt, gibt es dafür eine neue Lösung: die Vagusnervstimulation. Doch was genau hat es damit auf sich und wie genau sieht die wissenschaftliche Datenlage aus?

 
Was ist der Vagusnerv?

Der Mensch besitzt zwölf Hirnnerven, also Nerven, die dem Gehirn entspringen oder in dieses einstrahlen. Der zehnte dieser Nerven ist der sogenannte „Nervus Vagus“, beziehungsweise der Vagusnerv (gelb in der Abbildung). Dieser ist der Hauptnerv des Parasympathikus und ist an der Regulation der meisten inneren Organe beteiligt.

Gehen wir kurz einen Schritt zurück und betrachten wir die Rollen von Sympathikus und Parasympathikus. Beide sind Bestandteil des vegetativen (autonomen) Nervensystems. Das vegetative Nervensystem regelt jene Abläufe in unserem Körper, die wir nicht willentlich steuern können, also z.B. unsere Atmung, unseren Herzschlag, oder unsere Verdauung. Sympathikus und Parasympathikus sind Gegenspieler. Während der Sympathikus unseren Körper hochfährt und ankurbelt, beruhigt der Parasympathikus diesen wieder. Diese Dynamik ist evolutionär sehr alt und in den meisten Tieren zu finden.

Wenn sich ein Organismus in einer Situation befindet, die subjektiv als gefährlich bewertet wird, bereitet die Aktivierung sympathischer Signalketten den Körper auf mögliche Umgangsweisen (Kampf, Flucht, Erstarren) vor. Die Lungen und Muskel werden besser durchblutet und mit Sauerstoff versorgt, die Herzfrequenz und Atmung werden erhöht, während die Tätigkeit von Magen und Darm gehemmt wird – es geht immerhin ums Überleben, da muss der Körper bereit sein, schnell rennen zu können. Der Sympathikus wird dann durch den Parasympathikus abgelöst, wenn sich der Organismus wieder in Sicherheit befindet. Herz und Atmung beruhigen sich, die Verdauung wird wieder angeregt, Entspannung und Aufatmen werden erst hierdurch möglich. Damit das funktioniert, braucht es den Vagusnerv.

Psychische Gesundheit und das vegetative Nervensystem

Bei psychischen Störungen geraten Sympathikus und Parasympathikus oft aus dem Gleichgewicht. Z.B. ist bei Angststörungen, Traumafolgestörungen oder Depressionen der Sympathikus oft überaktiv und der Parasympathikus unteraktiv. Betroffene fühlen sich getrieben, gestresst, und können nur selten noch Ruhe finden. Der neue Therapieansatz ist eine logische Schlussfolgerung: Wenn der Parasympathikus angeregt werden kann, wieder eine gesunde Rolle im Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems einzunehmen, z.B. indem der Vagusnerv stimuliert wird, nimmt die Überaktivität des Sympathikus ab und psychologische Störungen normalisieren sich.

Die Vagusnervstimulation

So neu ist die Vagusnervstimulation (VNS) gar nicht. In der Europäischen Union wurde sie erstmals 1994 zugelassen, für therapieresistente Epilepsie und Depression. Traditionell wird die VNS durch ein Stimulationsgerät durchgeführt, welches ähnlich wie ein Herzschrittmacher operativ eingesetzt wird und regelmäßige elektrische Impulse abgibt. Seit 2010 ist ebenfalls die transkutane (transkutan=durch die Haut hindurch) VNS (t-VNS) zugelassen, bei der keine Operation nötig ist. Stattdessen wird eine Elektrode an der Ohrmuschel platziert. So wird ein Ast des Vagusnervs, der durch die Ohrmuschel läuft, erregt, der die Stimulation an den Hauptnerv weitergibt. Eine andere, für die Behandlung von Angststörungen, Depressionen, Kopfschmerzen und Epilepsie zugelassene transkutane Methode stimuliert den Vagusnerv auf Höhe der Halsschlagader elektrisch.

Wie wirkt Vagusnervstimulation?

Vagusstimulator, operativ eingesetzt

VNS funktioniert nach dem sogenannten „bottom-up“ Prinzip: Eine Stimulation des Nervs im Körper führt durch die Weitergabe des Signals nach oben ans Gehirn zu momentanen Veränderungen im Gehirn. Für traditionelle VNS ist dieser Wirkmechanismus gut belegt. Die Stimulation beeinflusst zuerst eine Region im Hirnstamm, welche die Informationen sammelt und an das Großhirn weitergibt.

Dort werden das limbische System und andere subkortikale Strukturen der Informationsverarbeitung beeinflusst. Des Weiteren werden Regionen aktiviert, die die parasympathische Reaktion steuern, sodass im Körper z.B. die Herzfrequenz sinkt und entzündliche Prozesse reduziert werden. Die antidepressiven Wirkmechanismen von t-VNS sind weniger gut erforscht. Wahrscheinlich reduziert auch t-VNS entzündliche Prozesse und erhöht die Verbindung wichtiger neuronaler Regionen, die bei Menschen mit Depressionen oft eingeschränkt ist.

Vagusnervstimulation und Depression: Die Datenlage

Forschende sind sich zu der Effektivität von VNS in der Behandlung therapieresistenter Depressionen nicht immer einig: Während manche die Studien hervorheben, welche Verweise auf die Wirksamkeit liefern konnten, erinnern andere an Arbeiten, die keine Wirkung über den Placeboeffekt hinaus feststellen konnten sowie an methodische Mängel anderer Studien.

In einer Meta-Analyse aus 2020 wollten Bottomley und Kolleginnen und Kollegen genau das adressieren. Für ihre Übersichtsarbeit betrachteten sie 22 Studien, wobei nicht alle für die Rechnungen der Meta-Analyse verwendet werden konnten. Bei den meisten Studien handelte es sich um Längsschnittstudien, die manchmal Vergleiche zu anderen Gruppen zogen. Jedoch waren nur zwei der 22 Studien randomisiert-kontrollierte Studien, die das methodisch belastbarste Studiendesign abbilden. Die zusammengefassten Daten der Längsschnittstudien geben Hinweise darauf, dass die gewöhnliche Behandlung in Kombination mit VNS wirkungsvoller war als die gewöhnliche Behandlung alleine. Dabei war die Definition der „gewöhnlichen Behandlung“ jedoch sehr weit gefasst und beinhaltete rein pharmakologische Behandlungen, die laut verschiedener internationaler Behandlungsleitlinien gar nicht die bevorzugte Behandlung schwerer depressiver Störungen sein sollte.

Die beiden randomisiert-kontrollierten Studien zeigten also einerseits, dass die Wirkung von VNS nur kurzfristig über den Placeboeffekt hinausgingen und dass es keinen Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung gab; wie oft und wie stark der Vagusnerv stimuliert wurde, machte also keinen Unterschied. Es gab demnach Hinweise darauf, dass die VNS, vor allem die traditionelle Form, langfristige Vorteile bringen könnte, diese Ergebnisse konnten aber bis jetzt nicht durch methodisch starke und unabhängige Studien belegt werden. Zu vermerken ist jedoch, dass die VNS kaum Nebenwirkungen hatte und so gut verträglich zu sein scheint.

Fazit

VNS scheint die Behandlung von therapieresistenten Depressionen ergänzen zu können, wie effektiv diese Ergänzung jedoch ist, muss noch in qualitativ hochwertigen Studien untersucht werden. Prinzipiell ist eine Stärkung des Parasympathikus für viele Menschen, auch jene ohne Depressionen, sinnvoll. Neben VNS können hier aber bereits einfachere Übungen wie z.B. Atemübungen, Meditation, oder selbstmitgefühlsbasierte Interventionen nachweislich zu Entlastung führen, indem unsere autonome körperliche Stressreaktion durch sie gesenkt wird. Für komplexe psychische Störungen gilt nach wie vor: Es gibt kein Wunderheilmittel. Psychische Störungen entstehen aufgrund diverser komplexer Faktoren und in Fällen, die über eine leichte Depression hinausgehen, sollte die Behandlung ebenso multifaktoriell sein. Nur eine Tablette oder ein elektrischer Impuls führen selten zur kompletten Remission. Meistens ist die Psychotherapie oder die Kombination von Medikamenten und Psychotherapie nach wie vor die Behandlung erster Wahl. Dennoch können für Betroffene therapieresistenter Störungen die an Universitäten laufenden klinischen Studien von Interesse sein.

Quellen

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