Dienstag, 19. August 2025

Ultrafinitismus - der pragmatic turn der Mathematik.

Buntes Fraktalbild mit spiralförmigen Mustern, das auf die unendliche Mandelbrot-Menge zoomt, in Blautönen mit orangenen und braunen Elementen.             zu Jochen Ebmeiers Realien
aus derStandard.at, 16. August 2025                       Mancher könnte meinen, dass dieses Bild einen Blick ins Unend-liche bietet. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Muster auf einer  endlichen und  nicht  einmal sehr  großen Zahl von Pixeln.

Angst vor Größe
Mathematische Strömung lehnt nicht nur das Unendliche, sondern auch große Zahlen ab
Ein eine Gruppe von Fachleuten glaubt, dass das Unendliche der Wissenschaft schadet und man es in der Mathematik nicht benötigt. Die Idee findet zunehmend Anhänger

Das Unendliche ist seit jeher von einer Aura des Mystischen umgeben. Schon vor 1000 Jahren stellte sich Anselm von Canterbury Gott als etwas vor, zu dem nichts Größeres gedacht werden kann, und zimmerte aus dieser Idee der Unendlichkeit einen Gottesbeweis, der später den großen Logiker Kurt Gödel beeinflusste.

Über diese metaphysische Komponente hinaus hat das Unendliche aber in der Mathematik heute immense praktische Bedeutung. Große Teile der Mathematik und mit ihr der modernen Physik würden ohne einen freizügigen Umgang mit dem Unendlichen nicht funktionieren, weshalb der deutsche Mathematiker David Hilbert, ebenfalls in religiösen Jargon verfallend, von einem "Paradies" sprach, aus dem er sich nicht vertreiben lassen wolle.

Vertreibung aus dem Paradies

Seine Angst war begründet. Jahrzehnte zuvor hatte sein deutscher Mathematikerkollege Georg Cantor einen Tabubruch begangen, indem er das Unendliche – genauer gesagt, Mengen mit unendlich vielen Elementen – als mathematische Objekte ernst nahm und mit ihnen zu arbeiten begann. Das schuf eine Basis für Konzepte wie den nach Hilbert benannten "Hilbertraum", der die Grundlage der Quantenphysik bildet und der mehr Dimensionen hat, als es natürliche Zahlen gibt.

Hilberts Angst, aus diesem zu Teilen von ihm entdeckten (oder geschaffenen – in diesem Artikel ist das ein großer Unterschied) Paradies vertrieben zu werden, war durchaus begründet. Es gab einige prominente Stimmen wie den deutschen Mathematiker Leopold Kronecker oder den niederländischen Mathematiker Luitzen Egbertus Jan Brouwer, die sich gegen eine Verwendung des Unendlichen wehrten. Letzterer versuchte eine Mathematik aufzubauen, in der nur "handgemachte" mathematische Objekte erlaubt waren, die man auch wirklich konstruiert hatte.

Das Unendliche existert demnach nicht wirklich. Dahinter steht die Idee, dass mathematische Gegenstände nicht unabhängig von Gedanken existieren. Sie werden also konstruiert, nicht entdeckt. Hilbert waren diese Ansätze ein Gräuel.

Letztlich blieben die Bestrebungen der Kritiker erfolglos. Hilbert scheiterte zwar daran, sein Paradies auf ein stabiles mathematisches Fundament zu stellen. Doch auch zu viele andere hatten sich darin verliebt und wollten es nicht mehr verlassen.

Kleine Brötchen backen

Neuerdings gibt es aber wieder Stimmen, die das fordern. Davon berichtet nun das Wissenschaftsmagazin New Scientist. Das Unendliche, behaupten sie, werde gar nicht gebraucht. Doch das ist bei Weitem noch nicht alles: Auch manche endliche Zahlen sind für diese Gruppe, die sich Ultrafinitisten nennt, nicht mehr akzeptabel. Sie fordern damit mehr als die sogenannten Finitisten, zu denen Leopold Kronecker gehörte.

Ganz abwegig ist das nicht: Nicht nur das Unendliche selbst, als reales Objekt gedacht, ist schließlich unendlich groß. Auch für die Anzahl der endlichen Zahlen lässt sich keine Grenze angeben. Das hat zur Folge, dass zu allen denkbaren Zahlen, die der Mensch je zur Beschreibung der Welt benötigen wird, immer eine noch viel größere Zahl von Zahlen denkbar ist, die dafür viel zu groß ist. Und wer braucht wirklich all diese Zahlen?

Detailaufnahme von Romanesco.
Fraktale Strukturen, die an Unendlichkeit denken lassen, gibt es auch in der Natur. Doch natürlich besteht dieser Romanesco aus einer endlichen Zahl von Atomen.

Folgt man den Ideen der Ultrafinitisten, könnte alles erheblich einfacher sein. Die Mathematik sollte sich demnach nur solcher Zahlen bedienen, die auch wirklich relevant für die Beschreibung der Welt sein könnten. Alles andere, behaupten sie, schwäche die Fundamente der Wissenschaft insgesamt.

Nun wurde bereits erwähnt, dass die Beschreibung der Welt in der Quantenmechanik wesentlich auf dem Konzept unendlichdimensionaler Räume basiert, mit denen dort problemlos gerechnet wird. Das ist es aber nicht, was die Ultrafinitisten meinen. Was erlaubte und was unerlaubte mathematische Konzepte sind, lässt sich also gar nicht so einfach unterscheiden, weshalb der Bewegung in der Vergangenheit auch vorgeworfen wurde, sich selbst in Widersprüche zu verwickeln. Klar ist, dass sie bei Zahlen, die größer als etwa 10^80 sind, beginnen, sich unwohl zu fühlen. Das ist in etwa die Anzahl der Atome im Universum, eine Zahl mit 80 Nullen.

Endlichkeitskonferenz

Dazu kommt, dass es keine zentrale Lehrschrift gibt, die definiert, was eigentlich die Position des Ultrafinitismus ist. Im vergangenen April veranstaltete nun der Mathematiker Justin Clarke-Doane eine Konferenz, die frischen Wind bringen sollte. "Es gibt nun eine kritische Masse von Leuten, die sich genügend Gedanken über diese Fragen gemacht haben", ist er überzeugt.

An markanten Aussagen fehlte es nicht. So verglich etwa der israelische Mathematiker Doron Zeilberger das Unendliche mit Gott: Von beidem wisse man nicht, ob es existiere, und beide seien eigentlich überflüssig.

Ein wichtiger Kritikpunkt an Versuchen einer neuen Mathematik, wie sie schon Brouwer unternahm, ist, dass damit schon einfache Konzepte der Naturbeschreibung versagen würden. Die Quantenmechanik wurde als Beispiel schon genannt. Die Argumente lassen sich auch auf den Ultrafinitismus anwenden, und es stimmt, dass viele wichtige physikalische Konzepte ohne das Unendliche nicht mehr formuliert werden könnten.

Doch die Vertreter der Theorie lassen sich nicht unterkriegen und versuchen, zumindest Teilergebnisse zu erzielen. Ein solches ist eine Beschreibung des Universums, das auf das Unendliche verzichten kann. Dass eine solche möglich sein soll, erscheint erst einmal abwegig. Aktuell geht man davon aus, dass die Dunkle Energie die Ausdehnung des Universums fortwährend beschleunigen wird, sodass es sich letztlich bis ins Unendliche ausdehnt.

Die Lösung ist, dass das ultrafinitistische Universum, das der Physiker Sean Carroll von der US-amerikanischen Johns Hopkins Universität bei der Ultrafinitismus-Konferenz vorstellte, abgeschlossen und periodisch ist, also eine geschlossene Schleife bildet. Dass wir wirklich in einem solchen Universum leben, behaupten die Ultrafinitisten dabei nicht konkret. Das wäre auch wenig glaubwürdig. Ihnen genügt, dass sich das Szenario nicht völlig ausschließen lässt und sich zeigen lässt, dass eine mathematische Beschreibung des Universums nach ihren Regeln überhaupt möglich ist.

Lästige Unendlichkeit

Mit den aktuell besten Theorien des Universums kann sich der Ansatz also nicht messen. Dafür sind die Zustände in der Mathematik mit dem Unendlichen zu paradiesisch. Zumindest auf den ersten Blick, denn bei genauerem Hinsehen gibt es doch einige Probleme, die die Argumente der Ultrafinitisten in einem etwas anderen Licht erscheinen lassen.

Die aktuelle beste Beschreibung des Mikrokosmos, das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik, beruht auf einem Konzept, das sich Quantenfeldtheorie nennt. Sie entstand beim Versuch, Einsteins Relativitätstheorie, und zwar ihre einfachere, "spezielle" Variante, mit der Quantentheorie zu vereinen. Während solche Versuche mit der Allgemeinen Relativitätstheorie, die die Gravitation beschreibt, bisher scheiterten, gelang die Übung bei der speziellen Relativitätstheorie nach Überwindung einiger Schwierigkeiten.

Konkret musste die Idee eines Antiteilchens zu jedem Teilchen eingeführt werden. Damit geht einher, dass Teilchen entstehen und wieder vernichtet werden können. Sie sind nicht mehr unveränderlich und ewig, sondern gewissermaßen die Quanten von Materiefeldern. Das Konzept des Teilchens und des Quantums verschmilzt damit in gewissem Sinn zu einer konzeptionellen Einheit.

Doch der Prozess ging nicht ohne schwerere Geburtswehen vonstatten. Quantenfeldtheorien von isolierter Materie im leeren Raum, auf die keine Kräfte wirken, ließen sich formulieren und zeigten, dass der Weg der richtige war. Doch sobald man diesen Feldern erlaubte, in Wechselwirkung zu treten, war das Unendliche plötzlich ungebeten zu Gast in diesen Theorien. Sobald es also darum ging, nicht nur Modellsysteme, sondern die Wirklichkeit zu beschreiben, ließ die Mathematik die Physik im Stich.

Die Lösung war ein Prozess, der sich Renormierung nennt und der verblüffend an den Kniff Ludwig Wittgensteins erinnert, der sein Hauptwerk Tractatus Logico-Philosophicus am Ende des Buches als Leiter bezeichnet, die man hinter sich wegstoßen muss. Das Ergebnis ist eine äußerst genaue, bis heute alternativlose Beschreibung des Mikrokosmos. Über das Unendliche, das daraus entfernt werden musste, spricht niemand mehr.

Vorbereiten auf das Schlimmste

Niemand außer den Kritikern des Unendlichen. Tatsächlich gibt es seit einiger Zeit intuitionistische Versuche, die Renormierungsprobleme zu lösen. Wie weit sich der Zugang treiben lässt, ist aber bislang nicht klar.

Dass sie keine bessere Theorie haben, um das Standardmodell zu ersetzen, ist den Ultrafinitisten bewusst. Die Probleme damit sind auch nicht ihre eigentliche Sorge. Vielmehr geht es um die Angst, die schon David Hilbert umtrieb: dass die Mathematik einen Widerspruch enthalten könnte. Er forderte zu beweisen, dass das nicht passieren könnte. Wir verdanken es dem eingangs erwähnten großen Logiker Kurt Gödel, dass wir heute wissen, warum das unmöglich ist.

Bis heute lässt sich damit nicht ausschließen, dass das Unendliche irgendwann für einen Fehler im Gefüge der Mathematik sorgt und damit ein Gutteil unseres technischen Wissens in Bedrängnis gerät. Für diesen Fall wollen die Ultrafinitisten bestmöglich vorbereitet sein. "Ich hoffe, dass diese Konferenz einen Wendepunkt in der ultrafinitistischen Forschung darstellen wird", sagt Clarke-Doane.  

 

  

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