Samstag, 9. August 2025

Argumentum auctoritatis.

Aristoteles                                                                          aus Philosophierungen
 
aus spektrum.de, 9. 8. 2025 

Selberdenken und Vertrauen: Aufklärung im Zeitalter der Experten
Selberdenken ist ein Ideal der Aufklärung – funktioniert aber nur, wenn man sich auf verlässliche Quellen und echte Autoritäten stützt. Um diese zu finden, braucht es auch »Charakterbildung«, erklärt unser Philosophie-Kolumnist.


von Matthias Warkus 

Es ist so abgedroschen, dass es mich Überwindung kostet, es noch aufzuschreiben: Wir leben in einer Ära, die sich selbst als aufgeklärt begreift. Aufklärung heißt be-kanntlich, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Nach Immanuel Kants sprichwört-licher Definition aus seinem Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklä-rung?« von 1784 handelt es sich um den »Ausgang des Menschen aus seiner selbst-verschuldeten Unmündigkeit«. Kant im Original: »Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«

Dem Selberdenken als Ideal steht nun allerdings einiges im Wege, nicht zuletzt die Notwendigkeit, bestimmte intellektuelle Aufgaben zu delegieren. In einer Zeit, in der Wissenschaft und Technik sich so weit ausgedehnt und differenziert haben wie in unserer, kann niemand mehr alles wissen und können. Jemand kann ein ganzes Leben daransetzen, alles über Knochenschäden im Mittelohr, eine kleine Gruppe von Fluorverbindungen oder einen einzelnen vergessenen Barockdichter zu ler-nen – und selbst daran noch scheitern. Das Wissen, auf das wir uns verlassen, wenn wir selbst denken, kommt notwendigerweise zum allergrößten Teil von anderen Menschen. Manchmal direkt, meist aber medial vermittelt. Doch wer oder was ist eine vertrauenswürdige Quelle? Wie können wir dies beurteilen außer durch Ver-such und Irrtum, was nur selten praktikabel ist?

Eine Vorgehensweise besteht darin, das Problem einfach zu leugnen. Von dem legendären rechtslibertären US-amerikanischen Sciencefiction-Autor Robert A. Heinlein (1907–1988) stammt folgendes Zitat:

Ein menschliches Wesen sollte eine Windel wechseln können, eine Invasion planen, ein Schiff kommandieren, ein Gebäude entwerfen, ein Sonett schreiben, Konten bilanzieren, eine Mauer bauen, einen gebrochenen Knochen richten, Sterbende trösten, Befehle empfangen, Befehle geben, zusammenarbeiten, allein handeln, Gleichungen lösen, eine neue Aufgabe analysieren, Mist streuen, einen Computer programmieren, ein leckeres Essen kochen, wirkungsvoll kämpfen und tapfer sterben. Spezialisierung ist etwas für Insekten.

Die Vorstellung, dass sich jemand mit genügend Hirnschmalz und einer breiten All-gemeinbildung in jedes Problem »hineinarbeiten« kann, ist beliebt. Gerade in den letzten Jahren haben wir aber erleben können, wohin dieses Ideal führen kann. Ausgerechnet die Anhänger von Pseudowissenschaften, Verschwörungstheorien und letztlich irrationalen und vernunftfeindlichen politischen Ideologien glauben meist, aufgeklärte Selbstdenker zu sein. Der deutsche Philosoph Thomas J. Spiegel, der an der Miyazaki International University in Japan lehrt, notierte 2022: »In Ver-schwörungstheorien offenbart sich eine Weiterführung des Grundgedankens der Aufklärung.« Doch Selberdenken ist nicht alles; es ist auch wichtig, worauf sich das Selberdenken stützt. Spiegel schreibt, »dass wir Kants Gebot zum Selberdenken nur dann sinnvoll Folge leisten können, wenn wir dabei auf den Schultern von Riesen stehen«.

Es geht um epistemische Autorität

Jeder von uns muss also zwischen Riesen und Zwergen unterscheiden können: zwischen Vordenkern, deren Gedanken uns auf dem Weg zu Wahrheit und Auto-nomie nutzen, wenn wir sie im Selberdenken einbeziehen – und solchen, bei denen es uns schadet. Fachsprachlich ausgedrückt: Es geht um epistemische Autorität. Aber wie gelingt diese Unterscheidung? Der US-amerikanische Erkenntnistheore-tiker Alvin Goldman (1938–2024) hat dazu im Jahr 2001 in einem vieldiskutierten Aufsatz mit dem Titel »Experts: Which Ones Should You Trust?« fünf Vorschläge gemacht.

Erstens können wir versuchen, echte von falschen Riesen an ihrer Art, sich in Dis-kussionen zu verhalten, zu unterscheiden. Wer höflich vorgebrachte Einwände gegen seinen Standpunkt sofort empört und beleidigt zurückweist, ist womöglich ein schlechterer Experte für ein bestimmtes Thema als jemand, der differenziert auf sie eingeht. Zweitens kann man, statt auf Einzelmeinungen zu blicken, die Tendenz einer bestimmten »scientific community« heranziehen. So herrscht unter Fahrleh-rern der Konsens, dass sich schnelles Fahren auf langen Strecken zeitlich kaum rentiert; man wird ihnen vielleicht eher glauben als dem einen Onkel, der darauf schwört, er spare stets enorm viel Zeit damit, seinen Cayenne auszufahren. Drittens bietet die formale Ausbildung einen Anhaltspunkt: Eine Fachärztin für Rheumato-logie kennt sich vermutlich besser mit Rheuma aus als ein Landschaftsgärtner. Vier-tens kann man die »nichtepistemischen Interessen« eines eventuellen Experten versuchen einzubeziehen (etwa Lobbytätigkeiten oder familiäre Verstrickungen) und fünftens seine bisherige Erfolgsbilanz.

Mit den Tücken richtig umgehen

Alle diese Kriterien sind allerdings anfällig für Unterwanderung, Täuschung und Irrtum. Ohne selbst ein Experte für ein Thema zu sein, kann man die Qualität fremder Expertise also immer nur näherungsweise beurteilen.

Daraus ergeben sich drei wichtige Folgerungen: zunächst einmal, dass ein effektiver Gebrauch des eigenen Verstands notwendigerweise stets auf Vertrauen in andere angewiesen ist. Zweitens, dass das Urteilsvermögen, mit dem wir abschätzen, ob wir anderen in ihren Überzeugungen vertrauen können, eine eigene Fähigkeit ist, die mit den Inhalten gar nichts zu tun haben muss, obwohl sie für glückenden Verstandesgebrauch faktisch unverzichtbar ist. Das gilt für wissenschaftliche und politische Zusammenhänge ebenso wie für den Alltag: Die Kompetenzen und Erfahrungen, die wir nutzen, um zu entscheiden, ob wir jemandem vertrauen können, von dem wir etwa eine Versicherung oder eine Wärmepumpe kaufen möchten, haben mit inhaltlichen Kenntnissen der jeweiligen Themen wenig zu tun. Somit hat drittens die Fähigkeit einer Gesellschaft, echte aufgeklärte Individuen hervorzubringen, nicht nur mit dem Sammeln und Weitergeben von Daten zu tun, sondern – wie Thomas J. Spiegel es nennt – mit »Charakterbildung«. Tugenden wie intellektuelle Demut, Hingabe, Menschenkenntnis sind mindestens so wichtig wie Skepsis, Genauigkeit und scharfer Verstand.

 

Nota. - Matthias Warkus sollte wissen, da er ja von epistemischer Autorität spricht, dass es Wissen in zweierlei Ausfertigung gibt - nein, es wird nicht "zweierlei aufge-fasst", sondern ist zweierlei: Da gibt es das Dafürhalten im Alltag, das Meinen, das sich im geschäftigen Leben als richtig und zutreffend erweist - oder eben nicht. Das nennt man seit den alten Griechen doxa. Es hat einen Spielraum für Ungenauigkei-ten, die im gesellschaftlichen Verkehr dann doch nicht ins Gewicht fallen. Ungefähr reicht.

Anders ist es bei der Wissenschaft, die neben den Alltagsgeschäften entstanden ist und seither dort fortbesteht. Das ist ein Wissen, das nicht für den unmittelbaren Gebrauch da ist und das wenigstens pro forma so tut, als geschähe es um seiner selbst willen. Das haben die Griechen epistémê genannt. Der Unterschied ist: Das eine erweist sich im alltäglichen Gebrauch als zuverlässig (oder nicht). Das andere gilt als wahr, solange es der Kritik der Andern standhält.

Das ist der phänomenale Unterschied. Der wissenslogische Unterschied ist: Das eine bewährt sich in der pp. Praxis, das andere muss sich durch den Erweis seiner Gründe bewähren. Nur bei dem ersten ist es, sofern es nicht augenscheinlich ist, ratsam, sich zuerst einmal an einer sachlichen Autorität zu orientieren. Bei der an-dern ist es ratsam, gerade dies nicht zu tun, sondern bei der Prüfung der Gründe 'ohne Ansehn der Person' zu verfahren.

Nichts gilt ohne zureichenden Grund. Der erste Grund, den man finden kann, be-ruht, denn sonst wäre er nicht begründet, wieder auf einem Grund, und so weiter fort. Bis ins Unendliche? Da wäre kein Grund. Unendlich ist aber der Regress nicht: Am untersten Ende stößt man unausweichlich auf die Bestimmung: Ich urteile, dass. Ohne das lässt sich nichts  aussagen. Den nicht nur wahren, sondern auch wirkli-chen Grund des Wissens kann man so aussprechen. Und Wissen muss sich ausspre-chen lassen, sonst könnte es lediglich für Einen gelten; und eigentlich auch für den nicht.
JE

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