
aus scinexx.de, 28. August 2025 Unsere Beckenanatomie ist einzigartig unter den Primaten – erst sie ermöglicht uns den aufrechten Gang. zu Jochen Ebmeiers Realien
Einzigartig menschlich: Kein anderes Tier beherrscht den aufrechten Gang wie wir Menschen. Jetzt enthüllt eine Studie erstmals, wie eine entscheidende Anpassung dafür entstanden ist – unser Becken. Seine einzigartige Schaufelform entwickelte sich demnach in zwei Schritten: Der erste ist eine 90-Grad-Drehung und Verkürzung des Darmbeinknochen, der zweite eine grundlegender Wandel im Verknöcherungsmuster der Beckenschaufel, wie das Team in „Nature“ berichtet. Erst beides zusammen ermöglichte unseren Vorfahren den aufrechten Gang.
Der aufrechte Gang war ein entscheidender Durchbruch in der menschlichen Evolution – vollzog sich aber nur allmählich: Vor rund 4,4 Millionen Jahren bewegte sich der Vormensch Ardipithecus zwar schon sporadisch auf zwei Beinen, doch erst der Australopithecus hat vor rund 3,2 Millionen Jahren den aufrechten Gang perfektioniert. „Lucy“ und ihre Nachfolger hatten dadurch die Hände frei, um immer komplexere Werkzeuge zu entwickeln und ihre Fähigkeiten zu erweitern – der Weg zum Menschen war geebnet.

Eine Kernvoraussetzung für unseren aufrechten Gang ist die einzigartige Anatomie unseres Beckens. Die breite Schaufelform unseres Darmbeinknochens stützt unsere inneren Organe und bietet den Muskeln von Oberschenkeln, Gesäß und Rumpf genug Ansatzfläche, um uns aufrecht zu halten und uns beim Gehen auszubalancieren. Menschenaffen und alle anderen Säugetiere haben dagegen ein schmales Becken mit nach hinten zeigendem Darmbein. Dadurch können sie sich nur kurze Zeit und auch nicht perfekt senkrecht aufrichten.
Doch wie hat sich unser einzigartig menschliches Becken entwickelt? Das haben nun Gayani Senevirathne von der Harvard University und ihre Kollegen erstmals umfassend untersucht und aufgeklärt. Dafür kombinierten sie histologische, genetische und anatomische Analysen von Gewebeproben menschlicher Embryos in verschiedenen Entwicklungsstadien sowie von in Museen konservierten Primatenembryos. Dadurch konnte das Team nachverfolgen, wie und wann sich die menschentypische Form des Darmbeinknochens ausbildet.
Die Analysen enthüllten: Die Beckenform des Menschen entstand in zwei entscheidenden Schritten. Diese zeigen sich bis heute in der Embryonalentwicklung, spiegeln aber auch die Evolution unserer Vorfahren wider. Der erste Schritt erfolgt im frühen Embryonalstadium, rund 53 Tage nach der Befruchtung. Das bis dahin säugetiertypisch nach hinten gerichtete Knorpelgerüst des Darmbeins verändert plötzlich seine Richtung. Statt sich parallel zur Körperachse zu verlängern, wächst die Darmbeinplatte nun zur Seite.
Diese abrupte Drehung überraschte selbst die Forschenden: „Ich hatte eine allmählich Veränderung erwartet. Aber die Histologie zeigt, dass sich die Darmbeinplatte um 90 Grad dreht“, erklärt Seniorautor Terence Capellini von der Harvard University. „Dadurch wird das Darmbein kurz und gleichzeitig breit.“ Am 72. Tag nach der Befruchtung ist dieser Wandel abgeschlossen – der menschliche Fötus hat nun typisch menschliche Beckenschaufeln.

Der zweite entscheidende Schritt betrifft die Verknöcherung des Darmbeins. Normalerweise reifen die Knochenzellen zuerst in der Mitte jedes Knochens aus und wachsen dann langsam in Richtung der Knochenenden. Dadurch wandelt sich der Knorpel allmählich in stabilen Knochen um. „Alle nichtmenschlichen Primaten und auch die Maus haben Darmbeinknochen, die diesem typischen Verknöcherungsmuster folgen“, erklären Senevirathne und ihre Kollegen.
Doch beim menschlichen Embryo zeigt sich ein ganz anderes Bild: „Die Bildung des Darmbeinknochens beginnt einseitig am hinteren Rand nahe des Kreuzbeins statt in der Mitte“, berichtet das Team. Diese Verknöcherungsfront bewegt sich dann entlang des Rands weiter und lässt die Mitte des schaufelförmigen Darmbeins aus. „Dieses Muster ist einzigartig und kommt nur beim menschlichen Darmbein vor“, erklären die Forschenden.
Ungewöhnlich auch: Die Darmbeinmitte verknöchert bei uns Menschen erst mit 16 Wochen Verzögerung. Dadurch bleibt dieser Teil des Beckens noch bis in die 24. Woche knorpelig – das ist bei keinem anderen Primaten der Fall. Doch diese Verzögerung hat einen Grund, wie die Analysen enthüllten: In dieser Zeit bilden sich im knorpeligen Teil des Beckens Ansatzstellen für die Sehnen und Muskeln, die unser Becken und unseren Oberkörper beim aufrechten Gang stabilisieren.
Erst diese beiden Schritte formen unser typisch menschliches Becken und unterscheiden uns von allen anderen Primaten und Säugetieren. „Diese Erkenntnisse demonstrieren, dass die menschliche Evolution hier einen kompletten mechanischen Wandel vollzog“, erklärt Capellini. „Es gibt hierfür keine Parallele bei einem der anderen Primaten.“
Dieser tiefgreifende Wandel spiegelt sich auch in den Genen wider: Analysen der Genaktivität enthüllten, dass mehr als 300 Gene an der menschlichen Beckenentwicklung beteiligt sind. Die wichtigste Rolle spielen dabei drei Gene: SOX9 und PTH1R kontrollieren die 90-Grad-Drehung des Darmbein-Knorpelgerüsts. Sind diese Gene defekt, kommen Menschen mit anomal schmalen, fehlgebildeten Becken zur Welt. Das dritte Gen, RUNX2, ist für das ungewöhnliche Verknöcherungsmuster des menschlichen Darmbeins verantwortlich.
Aber wie lässt sich all dies auf die Menschheitsgeschichte übertragen? Wie Senevirathne und ihre Kollegen erklären, entwickelten sich die beiden Hauptschritte zum menschlichen Becken wahrscheinlich nacheinander. Den Anfang machte vor acht bis fünf Millionen Jahren die Drehung des Darmbeins. „Dies ereignete sich, als sich die Fortbewegung der Homininen von einem affentypischen Gang zur fakultativen Zweibeinigkeit wandelte“, schreiben die Forschenden. Am nun verbreiterten Darmbein fanden die stabilisierenden Muskeln besseren Halt.
Als dann unsere Vorfahren vor fünf bis zwei Millionen Jahren dauerhaft aufrecht gingen, optimierte sich das Zusammenspiel von Knochen und Muskeln. Weitere anatomische Anpassungen kamen hinzu, darunter der schon „moderne“ Fuß des Australopithecus. Vor rund zwei Millionen Jahren kam dann auch das einzigartige Verknöcherungsmuster und seine Verzögerung dazu – etwa um die Zeit, als die ersten Vertreter unserer Gattung Homo entstanden.
„Damit eröffnet diese Studie uns einen faszinierenden Einblick darin, wie der Mensch im Laufe der Evolution ein so einzigartiges Becken entwickelt hat“, kommentiert die nicht an der Studie beteiligte Genetikerin Camille Berthelot vom Pasteur Institut in Paris. (Nature, 2025; doi: 10.1038/s41586-025-09399-9)
Quelle: Nature, Harvard University; 28. August 2025 - von Nadja Podbregar
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