Unter die verschiedenen Arten von Einheit nach Begriffen des Verstandes gehört auch die der Kausalität einer Substanz, welche Kraft genannt wird. Die verschiede-nen Erscheinungen eben derselben Substanz zeigen beim ersten Anblicke soviel Ungleichartigkeit, daß man daher anfänglich beinahe so vielerlei Kräfte derselben annehmen muß, als Wirkungen sich hervortun, wie in dem menschlichen Gemüte die Empfindung, Bewußtsein, Einbildung, Erinnerung, Witz, Unterscheidungskraft, Lust, Begierde usw. Anfänglich gebietet eine logi-sche Maxime, diese anscheinende Verschiedenheit soviel als möglich dadurch zu verringern, daß man durch Vergle-ichung die versteckte Identität entdecke, und nachsehe, ob nicht Einbildung, mit Bewußtsein verbunden, Erinnerung, Witz, Unterscheidungskraft, vielleicht gar Verstand und Vernunft sei.
Die Idee einer Grundkraft, von welcher aber die Logik gar nicht ausmittelt, ob es derglei-chen gebe, ist wenigstens das Problem einer systematischen Vorstellung der Mannigfaltig-keit von Kräften. Das logische Vernunftprinzip erfordert diese Einheit soweit als möglich zustande zu bringen, und je mehr die Erscheinungen der einen und anderen Kraft unter sich identisch gefunden werden, desto wahrscheinlicher wird es, daß sie nichts, als verschie-dene Äußerungen einer und derselben Kraft sei-en, welche (komparativ) ihre Grundkraft heißen kann. Ebenso verfährt man mit den übrigen.
Die komparativen Grundkräfte müssen wiederum untereinander verglichen
werden, um sie dadurch, daß man ihre Einhelligkeit entdeckt, einer
einzigen radikalen, d. i. absoluten Grund-kraft nahe zu bringen. Diese
Vernunfteinheit aber ist bloß hypo-thetisch. Man behauptet nicht, daß
eine solche in der Tat angetroffen werden müs-se, sondern, daß man sie
zugunsten der Vernunft, nämlich zu Errichtung gewisser Prinzipien, für
die mancherlei Regeln, die die Erfahrung an die Hand geben mag, suchen,
und, wo es sich tun läßt, auf solche Weise systematische Einheit ins
Er-kenntnis bringen müsse.
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 649/B 677
Nota. - Das ist eine von den Stellen, wo Kant die Möglichkeit ins Auge fasst, dass es sich bei den 'Kräften' der Menschen im Grunde um eine einzige handeln könnte, die jeweils nur auf verschiedene Gegenstände verwendet wird - so wie es Fichte schließlich für die Vermögen feststellt; und nicht nur ins Auge fasst, sondern dem Erfahrungswissenschaftler als heuristisches Prinzip nahelegt. Er bezieht auch Lust und Begierde mit ein, um sie im folgenden Satz gleich wieder auszuschließen und sich auf die geistigen Gemütskräfte zu beschränken - nänlich jene, durch die Frei-heit und Selbstbestimmuung möglich werden.
Mhd. diu witze hat übrigens dieselbe Wurzel wie nhd. Wissen, bedeutet aber eher Intelligenz und Klugheit, was noch in unserm Adjektiv gewitzt nachklingt. Kant übersetzt den engl. common sense mit Mutterwitz, und Fichte nennt den Witz eine "sehr ernsthafte Sache".
In der Sache versteht Kant unter Witz das Aufspüren einer "versteckten Identität" in den erscheinenden Gegensätzen - ähnlich wie Lichtenberg: "Ohne Witz wäre eigentlich der Mensch gar nichts, denn Ähnlichkeit in den Umständen ist ja alles was uns die wissenschaftliche Erkenntnis bringt, wir können ja bloß nach Ähnlich-keiten ordnen und behalten."*
Und
wenn wir uns heute einen Witz erzählen, dann lachen wir über eine
unverhoff-te Ähnlichkeit zwischen zwei Phänomenen, die auf den ersten
Blick gar nichts mit-einander zu tun haben - oder umgekehrt über einen
entlarvenden Doppelsinn in ein und derselben Sache: in jedem Fall aber
über eine Synthesis, die der verstandesküh-len Analysis spottet. Eine solche wäre die erwähnte Grundkraft.
*) Sudelbücher, Heft J, N° 936
JE, 26. 12. 21
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