Dienstag, 7. Januar 2025

Die Frage nach dem freien Willen ist eine praktische.

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Kommentar zu Stephan Schleim: Von der theoretischen zur praktischen Freiheit.

... Die Frage nach dem freien Willen ist so, wie er sie darstellt, eine Frage der prakti-schen Lebensklugheit

Der normale Sterbliche fragt sich im wirklichen Leben nicht, ob seine Entscheidung frei, sondern ob sie richtig war. Für die Richtigkeit hat er einen doppelten Standard: erstens seinen eigenen Vorteil, zweitens sein sittliches Urteil. Zwischen denen muss er abwägen, nicht zwischen frei oder fremdbestimmt. Frei würde er sich fühlen, wenn er ungeniert seinem Vorteil den Vorzug gäbe; durch sein sittliches Urteil fühl-te er sich eher eingeengt. Bizarrerweise fühlt er sich aber auch leichter, wenn er letz-terem gehorcht. Und wäre leichter nicht auch freier?

Ebensowenig ist die philosophische Frage der Willensfreiheit ein praktisches Pro-blem für den Strafjuristen, da hat er Recht. Der muss in einem konkreten Fall ein Urteil fällen und nicht im Seminar einen Vortrag halten. Statt abstrakt um den frei-en Willen, geht es da um die Frage persönlicher Zurechenbarkeit. Im Seminar hat er sein Fach freilich studiert, und in Sachen Rechtsdogmatik geht es allerdings um die Willensfreiheit als doktrinalen Grundsatz, denn ohne sie wäre die Frage der Zure-chenbarkeit ja gar nicht zu formulieren.

Und an dieser Stelle schwillt mir langsam der Hals. Philosophische Fragen seien nicht praktisch? An sich selbst sind sie das nicht. Aber praktische Fragen sind viel-leicht durch Umstände bedingt, die ihrerseits nicht nur, aber auch philosophisch zu beurteilen sind. 

Was für ein Rechtssystem wir uns geben, ist natürlich ein praktische Frage. Und praktisch sei alles, was... durch Freiheit möglich ist, sagt Kant (der in oben erwähn-ten Seminaren nicht zu knapp vorkommen dürfte). Wir haben uns unser Rechts-system - unsere politische Verfassung - aus Freiheit gegeben, weil sie nur so ver-nünftig sein kann; doch vernünftig kann ein Rechtssubjekt nur handeln, wenn es in seiner Willensentscheidung frei ist. Wie kann Stephan Schleim über Freiheit schrei-ben, ohne dass das Wort Vernunft ein einziges Mal vorkommt? 

Als liberum arbitrium war die Willensfreiheit jahrhundertelang ein theologisches Thema - kein rechtliches, kein philosophisches. Nicht um Strafe ging es, sondern ob man der Vergebung würdig sei. Da geht es um Schuld wohl auch, doch nur unter manchem andern. Besondere Virtuosen auf dem Gebiet waren die Jesuiten, ihr Lieblingsfach was Kasuistik: nicht das abstrakt-Allgemeine, sondern die tausend denkbaren Einzelfälle.

Freiheit, Vernunft und Gleichberechtigung gehören zusammen. Philosophisch mag man darüber streiten, wie. Doch ein freiheitlicher Rechtsstaat ist nur möglich, wo sie als ein und einziger Grund-Satz verfassungsmäßige Geltung haben. Nur wer frei ist, dem kann Vernunft angemutet werden, und nur von dem, der vernünftig ist, kann man Rechenschaft verlangen; und wenn alle vernünftig und alle rechenschafts-pflichtig sein sollen, müssen sie alle frei sein - und in dieser und jeder andern Hin-sicht gleich berechtigt.

Das gedankliche Fundament der westlichen Zivilisation ist das Subjekt. Es muss als frei gedacht werden, weil es sonst nicht vernünftig sein könnte; und als vernünftig, weil es anders nicht als frei gedacht werden kann. Ob es faktisch so ist, kann im Einzelfall geprüft werden. Doch dass es so sein soll, ist der Maßstab, an dem die Einzelälle zu prüfen sind.

Das ist nicht theoretisch, sondern ist in öffentlicher Hinsicht das Praktischste, was es gibt.

Vernunft setzt mich auch insofern frei, als ich meine Meinungen und also auch die kognitven Ergebnisse meiner Sozialisation reflektieren kann. Das ist auch für den Staatsanwalt ein praktischer Gesichtspunkt.
29. 5. 21 

 

 

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