Montag, 3. November 2025

Der Revolution ausweichen.

Historische Illustration einer Konfrontation zwischen bewaffneten Polizeikräften in Uniform und Zivilisten, die mit Stöcken und Werkzeugen kämpfen. Im Hintergrund sind weitere Menschen und erhobene Waffen sichtbar. Die Szene zeigt heftige Unruhen mit umherfliegenden Gegenständen. Text darunter: 
aus derStandard.at, 30. Oktober 2025               Chartistenaufstand in England                 zu öffentliche Angelegenheiten 

Drei Faktoren bewahrten historische Gesellschaften vor dem Untergang
Die Opferbereitschaft von Eliten und zwei Arten von Reformen haben die Resilienz entscheidend gestärkt und so manchen Kollaps verhindert, fanden Komplexitätsforscher heraus
 
Woran liegt es, dass eine Gesellschaft krachend in sich zusammenbricht? Wie kommt es zu gewaltsamen Revolutionen und dramatischen Umbrüchen? Diese Fragen stellen sich Historikerinnen und Sozialwissenschafter immer wieder. Einer der führenden Köpfe auf dem Gebiet ist der russisch-amerikanische Komplexitäts-forscher Peter Turchin.

Anhand von mathematischen Modellen analysierte der Leiter einer Forschungs-gruppe am Complexity Science Hub (CSH) in Wien den Aufstieg und Fall von einst dominanten Gesellschaften wie der des Alten Ägypten, des Römischen Reiches oder den Maya – aber auch solche unserer heutigen Zeit. Ein internationales Team um Turchin hat nun den Spieß umgedreht. Was musste passieren, damit es in bestimmten historischen Situationen zu keinem Kollaps kam? Wie konnte es selbst unter extremem Druck gelingen, das Blatt noch zu wenden und einen Zusammenbruch zu verhindern?

Das ist nicht nur historisch gesehen interessant, sondern kann auch neue Erkenntnisse zur Krisenbewältigung für die heutige Welt bringen, die verstrickt ist in komplexe Probleme wie Klimawandel, Kriege, wirtschaftliche Turbulenzen und politische Polarisierung.

Eskalation verhindert

Die Studie, die im Journal Cliodynamics erschienen ist, untersuchte vier Fälle, in denen ein Kollaps abgewendet werden konnte: das frühe republikanische Rom (494 bis 287 v. Chr.); das England des 19. Jahrhunderts während der Reformbewegung der Chartisten, die erstmals Arbeiterrechte einforderten; Russland in der Reformperiode Mitte des 19. Jahrhunderts sowie die sogenannte Progressive Era in den USA Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, während der ebenfalls eine Reihe von Reformen angestoßen wurde.

Basis für die Analyse war die Seshat Global History Databank, in der seit mehr als einem Jahrzehnt Wissen über Gesellschaften im Laufe der Menschheitsgeschichte so strukturiert wie möglich erfasst wird. Aufgrund seiner Analysen identifizierte das Forschungsteam drei interne Faktoren, die für die Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft entscheidend sind:

  • Opferbereitschaft der Elite: Ein erheblicher Teil der Machthabenden erkannte die ersten Anzeichen von Unruhen und war bereit, tiefgreifende institutionelle Reformen durchzuführen, selbst wenn dies mit dem Verlust eines Teils ihres persönlichen Vermögens oder ihrer Privilegien verbunden war. Dies habe sich insbesondere in den frühen Phasen einer Krise als entscheidend erwiesen, um eine Eskalation zu einem noch destruktiveren Konflikt zu verhindern, schreiben die Forschenden.
  • Umfassende institutionelle Reformen: Es wurden weitreichende, miteinander verknüpfte Reformen umgesetzt, die gleichzeitig mehrere Ursachen sozialer Spannungen adressierten. Dabei handelte es sich nicht um bloße "Notlösungen", sondern um bedeutende Veränderungen der Strukturen wie etwa Landumverteilung, Schuldenerlass, erweiterte politische Vertretung und Arbeitsschutz, heißt es in der Studie.
  • Fähigkeit des Staates, Reformen aufrechtzuerhalten: Ebenso entscheidend war die Fähigkeit des Staates, diese Reformen durchzusetzen, zu institutionalisieren und aufrechtzuerhalten. Der Ausbau der bürokratischen Strukturen, die Umsetzung von Finanzreformen und die Verabschiedung entsprechender Gesetze stellten sicher, dass die ersten Maßnahmen zu dauerhafter Stabilität führten. Das sei besonders in England und den USA zu beobachten gewesen.
Kurzfristiger Verzicht

Als Beispiele für solche Reformen führt das Forschungsteam die Ausweitung der repräsentativen Regierungsform und die Umverteilung von Ressourcen im frühen republikanischen Rom wie auch im England der Chartistenzeit an. Entscheidend seien auch Arbeitsgesetze bereits zu Beginn der Industrialisierung im England des 19. Jahrhunderts und in den Vereinigten Staaten des frühen 20. Jahrhunderts gewesen. In Russland wiederum habe die Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland unter Alexander II. eine große Rolle dabei gespielt, dass es zu keinem gewaltsamen Umbruch kam.

Die verschiedenen Maßnahmen verbesserten die Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung und ermöglichten neuen Gruppen, gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen.

„Die Ironie besteht darin, dass gerade in dem Moment, in dem Reformen am dringendsten nötig wären, diejenigen, die über die größte Macht zu ihrer Umsetzung verfügen, am wenigsten geneigt sind, sie auch durchzuführen“, erklärt Jenny Reddish, Co-Autorin und Wissenschafterin am CSH. "Unsere Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass der kurzfristige Verzicht auf einige Privilegien langfristig zu größerer Stabilität und höherem Wohlstand für alle Teile der Gesellschaft führen kann."

Externe Faktoren

Neben den internen Faktoren kamen aber auch externe zum Tragen, wie die Forschenden betonen. In allen vier Fällen verschaffte die territoriale Expansion in den Jahrzehnten vor den Krisen den Staaten zusätzliche Ressourcen, die sie für die Umsetzung von Reformen und zur Bewältigung von Unruhen nutzen konnten.

Diverse Kriege und Eroberungen beeinflussten zudem die Bevölkerungsdynamik. Viele Menschen starben frühzeitig oder wanderten ab, was den sozialen Druck auf den Arbeitsmärkten verringerte. Zudem hätte die ständige Präsenz äußerer Bedrohungen von den Herrschenden erfordert, einen gewissen Zusammenhalt in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, um sie im Bedarfsfall mobilisieren zu können. Mitunter hätten daher auch äußere Zwänge die Eliten dazu gebracht, Reformen zu unterstützen, die die gesellschaftliche Stabilität stärkten.

Orientierung für heute

"Diese 'abgewendeten Krisen' liefern ein wichtiges Gegen-Narrativ, indem sie zeigen, dass Gesellschaften selbst angesichts enormer Massenarmut, einer Überproduktion von Eliten – also, wenn mehr potenzielle Führungskräfte entstehen, als es Macht- oder Einflusspositionen gibt – und finanzieller Belastungen des Staates, Wege zu Stabilität und erneuertem Wohlstand finden können", fasst Daniel Hoyer, Mitglied der Associate Faculty am CSH, die Bedeutung der Ergebnisse für die Gegenwart zusammen.

Auch wenn abgewendete Krisen selten perfekte Lösungen hervorgebracht hätten und Ungleichheiten häufig weiter bestehen bleiben, könnten historische Beispiele eine Orientierung geben, wie Stabilität gesichert und widerstandsfähigere, gerechtere Zukunftsperspektiven möglich sind. 

 

Nota. - Auf die Idee, die USA zwischen der Great Depression, dem New Deal und dem Beginn des II. Weltkriegs in die Untersuchung einzubeziehen, sind sie nicht ge-kommen. Eigenanrtig.
JE 

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