Samstag, 24. August 2024

Das Rätsel der Mathematik

Wurde die Mathematik aus der Natur heraus-gefunden...
...oder vom Menschenhirn in sie hinein-gedacht?
 
Galileos Tabellen            zu Philosophierungen

Erst mit Galileo ging, streng genommen, das mythische Zeitalter zu Ende. “Der Mythos braucht keine Fragen zu beantworten. Er erfindet, bevor die Frage akut wird und damit sie nicht akut wird.”(Hans Blumenberg). Seit Galileo stellen die Wissenschaften nicht nur Fragen, sondern beantworten sie auch, und jede Antwort wirft (mindestens) eine neue Frage auf.

Das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben, hatte Galileo verkündet. Das ist seither zum Gemeinplatz westlicher Bildung geworden. Descar-tes hatte die Welt in zwei Substanzen zerteilt, eine res extensa, die Materie, die sich durch ihre räumliche Ausdehnung zu erkennen gibt, und die res cogitans, den Geist, der außerhalb von Raum und Zeit ist. Doch eines ist ihnen gemeinsam: die mathe-matische Struktur, und an der erkennt man ihre gemeinsame Abkunft vom selben Schöpfergott. Spinoza tat die beiden Teile wieder zusammen, bei ihm ist es die eine, geistige Substanz, die sich selber ausdehnt, “deus sive natura”, und wie tut sie das? “More geometrico”, auf geometrische Weise! War bei Descartes Gott ein Mathema-tiker, so ist die Gottnatur bei Spinoza Mathematik. Isaac Newton, der erste Syste-matiker der modernen Physik, betitelte sein Hauptwerk ”Philosophiae naturalis principia mathematica”, die mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie. Und Leibniz endlich, der die strenge Naturwissenschaft in Deutschland eingeführt hat, überlegte ernstlich, ob nicht Gott selber in mathematischen Formel dächte.

Die Herrschaft des Rationalismus war Herrschaft der Metaphysik. Die Metaphysik sei aus der abendländischen Wissenschaft inzwischen vertrieben? Nur die metaphy-sische Verpackung ist gefallen. Der Kern bleibt. Der Einfall, die Gesetze der Mathe-matik seien gleichzeitig die Gesetze der Vernunft und der Natur, bedarf keiner zu-sätzlichen Metaphysik. Er ist selber metaphysisch.

Die Mathematik ist nicht, wie unsere eigne Schullaufbahn vermuten macht, aus dem kleinen Einmaleins hervorgegangen. Zwar hatten die Babylonier ihr Interesse auf die Arithmetik konzentriert; aber sie dienten ihnen nur zur Astrologie. Mathematik entstand erst, als die Griechen Thales und Pythagoras die Zahlen in den Dienst der Geometrie, der Anschauung räumlicher Verhältnisse nahmen. Das Leitbild der Ma-thematik – die vollkommene Gestalt – ist ästhetisch. Ihre Verfahren sind Anschau-ung und Konstruktion. Auf etwelche sinnliche Erfahrung – über die man streiten könnte – ist sie nicht angewiesen. Sie begründet sich aus sich selbst, und nur so konnte sie zur Grundlage der allgemeinen wissenschaftlichen Methode werden.

Aber ist nicht gerade die Geometrie aus den Dingen der Welt abgeschaut?! 
 
Plato kannte fünf vollkommene Körper: Kugel, Würfel, Pyramide; Zylinder, Konus.

Es sind die jeweiligen dreidimensionalen Kombinationen von Kreis, Quadrat und Dreieck. Drei Dimensionen sind ‘vollkommener’ als zwei, bzw. Körper sind voll-kommener als Flächen.*

Hat man eines von denen ‘von der Natur abgeschaut’? Mehr oder minder runde Formen kommen in ‘der Natur’ vor; Kugeln nicht. Kugel ‘entsteht’ als Idee des vervollkommneten ‘runden’ Körpers. Wobei Vollkommenheit eben keine logische, sondern eine anschauliche, eine ästhetische Qualität ist! Finden sich Würfel, Pyra-miden, Zylinder usw. in der Natur vor? Es finden sich Formen, die wie fehlerhafte Annäherungen aussehen. Damit sie so aussehen können, müssen die reinen For-men dem inneren Auge aber schon gewärtig sein. Und das geht nur, wenn das in-nere Auge die Konstruktion aus Kreis, Quadrat und Dreieck schon vorgenommen hat! Das ist eine erhebliche Abstraktions- und Reflexionsleistung.

(Abstraktion und Reflexion sind nur zwei Sichtweisen auf denselben Denkakt: Absehen auf das jeweils Wichtige ist zugleich Absehen von dem jeweils Uner-heblichen.)

Denn zuvor mussten vor dem inneren Auge die Flächen selber konstruiert werden! Allein den vollkommenen Kreis kann man in der Außenwelt sehen – am wolkenlo-sen Himmel.

Es ist ja denkbar, dass der Anblick des einzig perfekten Kreises – der Sonnenschei-be – und ihrer imperfekten Parodie, des Mondes – den Anlass zur Idee anschauli-cher Vollkommenheit gegeben hat; aber eine erfahrungsmäßige Abstraktion aus dem Anblick vieler perfekten Kreise war es nicht: weil es nur diesen einen gibt; und eine Reihe imperfekter Karikaturen – die werdenden und vergehenden Ringe auf dem Wasser usw… Nachgemacht werden kann dieser eine perfekte Kreis aber nicht auf ‘anschaulichem’ Weg; er muss konstruiert werden aus Punkt und Radius: wieder eine Abstraktionsleistung.

Die andern beiden Grundformen finden sich nicht in perfekter Gestalt in der Na-tur vor. Sie müssen – vielleicht in anschaulicher Analogie zur Sonnenscheibe – er-dacht werden, um bemerken zu können, dass sich in der Natur... unvollkommene Annäherungen vorfinden.

Und erst nach all dem können die fünf perfekten Körper erdacht werden; und kann man sich einbilden, diese Idealentwürfe lägen ihren unvollständigen natürlichen Nachbildungen “in Wahrheit” zu Grunde; in einer verborgenen Wahrheit selbstver-ständlich.

Die Arithmetik hat ältere Wurzeln, die bis zu den Babyloniern zurückreichen. Ist nun die Zahl ein “Naturverhältnis”? Beruht sie nicht darauf, dass die Dinge ‘im Raum’ eine Grenze haben und man sie neben einander stellen und also zählen kann? Das sieht nur so aus. Tatsächlich zählen wir die Dinge nicht neben-, sondern nach einander! Und das geschieht in der Zeit. 
 

Paläoanthropologen haben aus frühester Vorzeit Stäbchen geborgen, die in regel-mäßigen Abständen mit Kerben versehen sind. Sie interpretieren sie als Zählstäbe, die Vorläufer der Zahlensysteme; nämlich so, dass ihre Hersteller den Daumennagel auf die erste Kerbe gehalten haben: “zuerst…”; auf die zweiter Kerbe: “dann…”; dritte Kerbe: “und danach…”. Da wird das zeitliche Nacheinander der Zahlen ar-chäologisch sinnfällig!**

Und wem die erwähnten Zählstäbe der Paläontologen als Indiz zu dürftig scheinen, der kann es ja mit einem Gedankenexperiment versuchen.

Was immer Zahlen sonst auch noch sein mögen, eins sind sie ganz bestimmt: Zei-chen. Was muss man bezeichnen? Etwas, das man nicht stets vor Augen hat und doch ‘behalten’ will. Denn auf alles andere kann man mit dem Finger zeigen. Kleine Mengen hat man stets vor Augen: 3 Äpfel, 4 Beine usw. Bezeichnen müsste man größere Mengen. Mit welchen größeren Mengen könnten aber unsere Vorfahren – ihres Zeichens Jäger und Sammler – regelmäßig zu tun gehabt haben? So regelmä-ßig, dass sie sie dauerhaft bezeichnen mussten?!

Sie waren Nomaden; große Vorräte kannten sie nicht. Bleibt also übrig – die Zeit. Die Zeiträume müssen bezeichnet werden: wie viele Tage bis Vollmond, Sonnen-wende und Tag- und Nachtgleiche, Jahreszeiten, Jahre… Gerade Nomaden, die ihr Leben buchstäblich durch Zeit und Raum führen, müssen mental Zeiträume ‘vor-weg nehmen’ können, müssen wissen, ‘wie lange wir brauchen bis...’ – z. B. bis zur nächsten Wasserstelle. Denn solange sie keine Wanderkarten und keine Tachome-ter haben, können sie Wege nur als Zeit darstellen. (Noch im Mittelalter wurden Ackergrößen als ‘Tagewerke’ gemessen.)

Sagt nicht aber schon der gesunde Menschenverstand, dass eins und ein zwei sind? ‘Ursprünglich’, d. h. in unmittelbarer sinnlicher Anschauung, kommen Zahlen nur als Ordnungszahlen vor: als Nacheinander in einem ‘an sich’ ununterschiedenen Zeitverlauf: erstens, zweitens, drittens… zählen kann ich so noch nicht. Denn es könnte bedeuten: erstens ein Lufthauch, zweitens ein Elefant, drittens eine Unter-tasse. Um aus den Momenten im Zeitverlauf ein Werkzeug (”Denkzeug”) zum Zählen zu machen, muss ich von der Zeit selber absehen und auf die zu zählenden Sachen reflektieren.


Vorab: Warum, wozu sind sie ‘zu’ zählen? Es braucht zunächst einmal eine Absicht; zum Beispiel die Absicht, Sachen zu verteilen. Ich verteile Sachen, die ‘in einer ge-wissen Hinsicht’ gleich sind, auf so und so viele Posten, die ihrerseits in gewisser Hinsicht gleich sind; zum Beispiel Essbares an Hungrige. Ich muss aus der Mannig-faltigkeit der Sachen dasjenige heraus suchen, das sich unter der Bedeutung des Ess-baren zusammenfassen lässt. Danach muss ich auf diejenigen achten, die mir als hungrig bekannt sind. Erst dann kann ich aus den Ordnungszahlen erstens, zwei-tens, drittens… die Zahlen 1, 2, 3… abstrahieren.

Und erst, nachdem all diese Denkleistungen vollbracht wurden, kann von “Erfah-rung” geredet werden. Erfahrung ist nicht das bloße Registrieren von Erlebens-daten, sondern ihre sinnvolle Unterscheidung und Anordnung. Die Absicht geht voraus. Ohne vorgängige Absicht keine vorfindliche Bedeutung.
aus 2007
 
*) Nachtrag. Das Internet hat viele Vorzüge. Ein Nachteil ist, dass es zu voreiligem Veröf-fentlichen verführt - in diesem Fall: zum Vortrag nach dem bloßen Gedächtnis, ohne Vergleich mit der Quelle. Plato hat (Timaios 54-55) die fünf vollkommenen Körper anders und einiger-maßen komplizierter verstanden:
 

Doch von ihrer Begründung durch Schönheit muss ich nichts abstreichen!

(Einer der vielen Vorteile des Internet ist, dass man nachträglich korrigieren kann. Die Versu-chung, es heimlich zu tun, ist groß, aber nicht unwiderstehlich.)

**) Die jüngsten, d. h. ältesten Funde in dieser Sache stammen aus Südafrika - noch aus Zeiten des Homo erectus. Und zwar handelt es sich um Stäbe, auf denen je sieben Kerben in Vierer-gruppen angeordnet waren: offenbar ein Mondkalender. Und als solcher nicht ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs, sondern das Kultgerät eines Schamanen. 

24. 10. 2013

Nota. - An der Frage entscheidet sich die Gültigkeit der Transzendentalphilosophie. Denn wäre die Mathetmatik aus der Natur herausgelesen, dann wäre Menschenver-stand in das Ansich der Welt eingedrungen. Die Transzendentalphilosophie bestrei-tet nicht, dass es ein solches geben könnte: Davon weiß sie gar nichts. Aber wenn, dann könnte sie nicht verstehen, wie unsere Intelligenz zu ihm Zugang gefunden hätte. Und wenn sie das nicht erklären könnte, dann hätte sie... gar nichts erklärt.
JE

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