Sonntag, 31. Dezember 2023

Maniero-barock

Bartolomeo Schedoni, Die drei Marien am Grab                                                                                                                 zu Geschmackssachen

Schedoni wurde in Modena geboren und war meist in Parma im Dienste des Hauses Farnese tätig. Seine frühen Werke gehören zu den besten Beispielen des italienischen Manierismus und verraten Michelangelo Merisi da Caravaggio Einfluss. Später passte er sich dem Stil Caravaggios an und gebrauchte Lichteffekte mit viel Charme. Sein früher Tod ist angeblich das Resultat seiner unkontrollierten Leidenschaft fürs Spielen gewesen.
wikipedia deutsch

 

Schedoni wird im Netz - einer Autorität sui generis - gern umstandslos als Caravaggist be-zeichnet; gelegentlich aber auch als eine Art später Manierist, der von Caravaggio 'den Stil übernommen' hätte - die Faktur, eine neue Manier: das Hell-Dunkel. Das ist auch nicht zu bestreiten, es springt ja ins Auge. Das wäre nichts besonderes, das taten sie in Schedonis letzten Lebensjahren alle. 

Mich gemahnen aber seine Bilder, und gerade die spätesten, diesseits des Chiaroscuro vor allem an die sog. Florentiner Manieristen Pontormo, Rosso Fiorentino und Bronzino. Die hatten ein gutes Jahrhundert vor ihm gemalt!

Sch. hat wohl nicht selber in Florenz gewirkt, es ist aber kaum vorstellbar, dass er bei den kurzen Wegen nicht wenigstens dort studiert haben sollte.  

Die späten Manieristen - Tintoretto, Tizian, Veronese - hatten die große Errungenschaft der italienischen Renaissance, die Perspektive, in einem schwindelerregenden Ichweißnichtwas wieder aufgelöst - während die besagten Florentiner Manieristen sie zuvor plattgeklopft hatten; von einem 'modernen' Standpunkt beide auf ihre Weise 'progressiv'. Schedoni dagegen tut wohl das eine, fügt aber Caravaggios naturalistische Wiederhersellung des Raumes durch Licht-und-Schatten wieder hinzu. Das ist eine individuelle Erfindung, die es als eine solche zu würdigen gilt.

Leider war er wohl ein Zocker und hat seine Kunst rasch verspielt. Er ist nicht groß in Erinnerung geblieben. Aber ein paar Nachahmer hat zu seiner Zeit auch er gefunden.

Für Caravaggio bedeutete sein Barock einen Bruch mit dem Manierismus. Für Schedoni und andere, nicht zuletzt für Theotokopolous el Greco, war es dessen Vollendung.

Caritas, 1611

Die Enthauptung von Johannes dem Täufer.

Amor und Psyche

Johannes der Täufer als Kind

Die Heilige Familie.

Grablegung Jesu

Das letzte Abendmahl, 1613
 

Study for The  Charity of St. Elizabeth


 

 

 
zeitgenössische Kopie nach Caritas



 

 

 

 

JE, 4. 4. 21 

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Samstag, 30. Dezember 2023

Plattgeklopft.

 
Jacopo Carucci gen. Pontormo, Das Gastmahl in Emmaus, um 1525                                                                       zu Geschmackssachen

In einem früheren Beitrag schrieb ich, während die späten italienischen Manieristen die Perspektive, die größte Errungenschaft der Renaissance, in einem schwindelerregenden Ichweißnichtwas wieder aufgelöst hätten, hätten ein, zwei Generationen zuvor die Flo-rentiner Manieristen sie bereits "plattgeklopft". 

Dafür sehen Sie oben ein krasses Beispiel von Pontormo, dem Senior der Gruppe.

Dazu fällt mir ein: Pontormo war direkt von Michelangelo inspiriert. Hatte mit dem das Plattklopfen nicht angefangen? Ebenso die Verdrehungen der prallen Gliedmaßen, die den Manierismus charakterisieren und einen flachen Hintergrund brauchen, vor dem sie erst zur Geltung kommen.
7. 4. 21

 

 

Freitag, 29. Dezember 2023

Das Gastmahl.


aus spektrum.de, 26. 12 2023                                                                                                                zu Jochen Ebmeiers Realien

Essen in Gesellschaft
Kleine Psychologie der gemeinsamen Mahlzeit
Zu Weihnachten zu viel gegessen? Das könnte an der guten Gesellschaft gelegen haben. Warum wir im Beisein anderer Menschen mehr und ungesünder essen und was wir dagegen tun können.

Gemütlich zusammensitzen, gut essen und trinken: So wünschen sich viele Menschen die Feiertage im Kreis ihrer Liebsten. Nachmittags gibt es Plätzchen, abends Vorspeise, Hauptspeise, Dessert und Alkohol. Das Gelage zieht sich über mehrere Tage, und am Ende zeigt die Waage drei Kilo plus. Das ist aber weniger einer persönlichen Schwäche geschuldet als einem verbreiteten psychologischen Phänomen: In Gesellschaft fällt es besonders schwer, maßvoll und gesund zu essen.

Dennoch speisen die meisten Menschen lieber in Gesellschaft als allein, und das mit gutem Grund: Das Ritual der gemeinsamen Mahlzeit verbindet. Zu diesem Schluss kam der Sozialpsychologe Robin Dunbar von der University of Oxford nach einer repräsentativen Umfrage unter rund 2000 Erwachsenen im Vereinigten Königreich. Mehr als 90 Prozent aßen den eigenen Angaben zufolge zumindest manchmal zusammen mit Familie oder Freunden, und je häufiger sie das taten, desto mehr Menschen gab es in ihrem Leben, auf die sie sich verlassen konnten. Wer viele Kontakte hat, isst zwar sicherlich auch seltener allein. Aber mit einer so genannten Pfadanalyse konnte Dunbar belegen, dass der Zusammenhang vor allem andersherum zu Stande kam: Das gemeinsame Essen förderte ein Gefühl von Verbundenheit.

Die Kehrseite: Manchmal essen wir nur den anderen zuliebe. Das legt ein Experiment nahe, zu dem US-Forscherinnen rund 100 Studierende ins Labor eingeladen hatten. Nachdem diese in einem Fragebogen Auskunft über sich gegeben hatten, sollten sie gemeinsam mit einer zweiten Versuchsperson noch eine Weile warten und bekamen dazu eine Schüssel Süßigkeiten. Die zweite Person war eine Verbündete der Forscherinnen: Sie nahm eine Hand voll Schokolinsen und bot sie der anderen wartenden Versuchsperson an: »Would you like some?« Rund 80 Prozent griffen zu und nahmen im Mittel die gleiche Anzahl Schokolinsen wie die Person, die sie angeboten hatte. Die meisten Versuchspersonen gaben später an, dass sie das zumindest teilweise getan hatten, um nett zu sein. Und je mehr sie gemocht werden wollten, desto mehr aßen sie mit – vor allem wenn sie glaubten, dass das von ihnen erwartet würde.

Essen zum Einschmeicheln

Beim gemeinsamen Essen geht es offenbar nicht nur darum, gleich viel zu verspeisen wie die anderen. Sich ungesund zu ernähren, wirke per se schon sympathisch, berichten die Forscherinnen. Wer wenig oder gesund isst, bekomme zwar Respekt und erscheine attraktiver, intelligenter, moralisch höher stehend – aber auch weniger nett und weniger humorvoll. Und im Zweifelsfall lieber ein bisschen öfter zugreifen: Frauen mögen andere Frauen lieber, wenn sie mehr essen als sie selbst.

Dass hinter dem sozial motivierten Essen das Bedürfnis steht, von anderen akzeptiert und gemocht zu werden, fand ein Team um Eric Robinson und Suzanne Higgs von der University of Birmingham schon 2011 heraus. Ihre Probandinnen sollten zu zweit ein Problem lösen und bekamen dazu Schokolinsen oder Popcorn. Wurde vorab dafür gesorgt, dass sich die Frauen sozial akzeptiert fühlten, sank das Bedürfnis, den Süßigkeitenkonsum der Mitstreiterin nachzuahmen. Was zur Folge hatte, dass sich bei diesen Duos die verspeisten Süßigkeitenmengen weniger ähnelten als bei denen, die kein Gefühl von Akzeptanz eingeimpft bekamen.

Robinson und Higgs deuten die Tendenz, sich beim Essen am Gegenüber zu orientieren, als »ingratiation« – Einschmeicheln. Und das sei unter Fremden wie Freunden gleichermaßen üblich. Und auch in der Familie: Ein Team um Higgs und Robinson beobachtete 38 Töchter, die mit einem Elternteil zu Mittag aßen. Wenn Vater oder Mutter nach einer bestimmten Speise griffen, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind sich in den folgenden 2 bis 15 Sekunden genau dasselbe einverleibte.

Suzanne Higgs ist Professorin für die Psychobiologie des Essens und erforscht seit mehr als 25 Jahren das menschliche Essverhalten. Von einem ihrer jüngsten Befunde war sie jedoch überrascht: Die Befragten glaubten, dass sie sich bei einem gemeinsamen Essen kleinere Portionen nehmen würden als beim Essen allein. Doch das Gegenteil sei der Fall, berichtet Higgs. »Das legt nahe, dass den Leuten nicht bewusst ist, wie sie sich vom sozialen Kontext beeinflussen lassen.«

Damit wir uns an anderen orientieren, müssen diese nicht einmal anwesend sein. Es genügt eine Information über das vermeintlich »normale« Essverhalten – etwa die Menge von Cookies, die andere Versuchspersonen vermeintlich zuvor gegessen haben, wie wiederum ein Team um Higgs und Robinson berichtete. In einer Übersicht über 15 Experimente kommen sie zu dem Schluss: Eine Information darüber, was und wie viel andere essen, bestimmt mit, was und wie viel wir selbst für angebracht halten. Und in diesem Fall, wenn wir die Information über eine soziale Norm bewusst verarbeiten, wissen wir auch eher um deren Einfluss auf das eigene Verhalten.

Weniger offensichtlich ist der Effekt der Portionsgröße. Die niederländischen Sozialforscherinnen Iris Versluis und Esther Papies setzten ihren Versuchspersonen entweder eine kleine oder eine große Portion auf dem immer gleich großen Teller vor: Reis, Nudeln, Chips oder Cookies. Von den großen Portionen wollten die Leute mehr essen – je nach Nahrungsmittel in etwa zwischen 100 und 300 Kalorien mehr. Wenn sich die Portionsgröße angeblich an einer Mehrheit orientierte, war der Effekt größer. Im vertrauten Umfeld wirkt sich die Portionsgröße sogar noch stärker aus als im Labor.

Fazit: Wir lassen uns beim Essen von vielen Einflüssen lenken. Die eigenen Maßstäbe bestimmen zwar mit, was wir als normal und gut empfinden. Aber beim gemeinsamen Essen kommt es auch darauf an, was wir für sozial erwünscht halten und wie sehr wir gefallen wollen. Wer den impliziten Verhaltenscodes folgt, fühlt sich der Bezugsgruppe verbunden und erfüllt sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit.

Nur: Ist das Essen selbst dabei wirklich so entscheidend? Der britische Sozialpsychologe Robin Dunbar hat untersucht, was die Menschen beim gemeinsamen Essen näher zusammenbringt. Die bindungsförderlichsten Voraussetzungen: gemeinsam zu lachen, in Erinnerungen zu schwelgen – und Alkohol zu trinken. Es könnte zwar auch sein, dass das synchrone Essen dazu beiträgt, sagt Dunbar. Doch vielleicht dient es nur als Anlass und Gelegenheit für die wichtigeren Dinge: miteinander zu trinken, zu reden und zu lachen.

Donnerstag, 28. Dezember 2023

Das Sprechspiel.

  Marlon Brando als Marc Anton
aus philosophie magazin, 21. 12. 2023                                                                                                  zu Philosophierungen

„Es gibt eine Analogie zwischen Spielen und dem Gebrauch der Sprache“
Wenn wir sprechen, spielen wir auch auf eine Weise. So lautet eine zentrale These im neuen Buch von Martin Seel. Im Interview erläutert der Philosoph, wie unsere Kommunikation unser Handeln und Denken prägt.

von Martin Seel

Herr Seel, warum spielen wir, wenn wir sprechen? 

Weil wir uns im Spielraum der Sprache bewegen. Es gibt eine aufschlussreiche Analogie zwischen gewöhnlichen Spielen und dem Gebrauch der Sprache. In beiden Zusammenhängen folgen wir Regeln, die uns nicht im voraus festgelegte Möglichkeiten des Denkens und Handelns eröffnen. In einem derartigen Möglichkeitsraum spielt sich auch die menschliche Kommunikation ab. Der Erkundung dieses Spielraums der Sprache ist mein Buch gewidmet.

Hat dieses Spiel irgendwann einmal einen Anfang gehabt?

Es hat wohl nicht den einen, genau datierbaren Anfang gehabt, sondern sich über eine lange Zeit hinweg sukzessive eingespielt. Es gab im 18. Jahrhundert eine wilde Diskussion darüber, wie Sprache hat entstehen können – ob sie eine göttliche Gabe war, durch Verabredung oder durch Nachahmung der Natur entstanden ist. Das Interessante hierbei ist, dass die Autoren eigentlich darüber diskutieren, welche Rolle der Sprache in menschlichen Kulturen und Gemeinschaften zukommt und gar nicht so sehr darüber, wie sie ihren Anfang genommen hat.

Welche Philosophen waren in diesen Diskussionen federführend?

Das war eine weit verzweigte europäische Diskussion, an der viele Autoren beteiligt waren, die man heute kaum mehr kennt – nicht nur Vico, Rousseau oder Herder, sondern auch Pierre Louis Moreau de Maupertuis oder Johann Peter Süßmilch. Es heißt immer, das 20. Jahrhundert sei das sprachphilosophische Jahrhundert gewesen. Aber bereits im 18. Jahrhundert kommt die Frage nach der Bedeutung von Sprache in Fahrt und alles Spätere ist eigentlich eine Weiterführung und Differenzierung damaliger Debatten, die viele der späteren Autoren gar nicht so gut kennen. Die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts bewegt sich also in einer Diskussionslage, die sich schon im 18. Jahrhundert entwickelt hat. 

Da hätte sich die analytische Philosophie vielleicht mehr der Geschichte der Philosophie zuwenden sollen?

Nicht nur die analytische Philosophie, die auf Charles Sanders Peirce und Gottlob Frege am Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeht, hat die Breite der Diskussion nicht ernst genug genommen. Das gilt auch für andere Autoren. Jacques Derrida kennt beispielsweise Herder und Humboldt so gut wie gar nicht (und macht einen großen Bogen um Ludwig Wittgenstein). Wenn man sich Derridas sprachtheoretische Überlegungen anschaut, kann man Ähnlichkeiten mit den Debatten aus dem 18. Jahrhundert erkennen, die ihm gar nicht bewusst waren. Viele der unterschiedlichen Theorien der Sprache führen einen untergründigen Dialog miteinander, den ich ans Licht zu heben versuche. 

In Bezug auf die Sprachphilosophie im 18. Jahrhundert erläutern Sie auch einen recht eigentümlichen Streit über den Primat von Poesie oder Prosa in der Sprache. Warum sollte man sich darüber Gedanken machen, was vom Folgenden prioritär ist: eine Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre oder die Duineser Elegien?

Wenn man die Frage so stellt, klingt es natürlich absurd. In den sprachphilosophischen Kontroversen geht es jedoch darum, welche Formen der Rede  für die Verfassung und den Begriff der Sprache grundlegend sind. Ist Sprache eigentlich poetische Rede und die Prosa, die wir heute meistens sprechen, eine ausgetrocknete Verfallsform? Oder ist Sprache zunächst einmal die nüchterne Behauptung möglichst eindeutiger Aussagen, von der auch die vieldeutige poetische Rede zehrt? Wenn Letzteres der Fall ist, dann sind bildliche Redensarten, sind figürliche und fiktionale lediglich ein Beiwerk der Sprache, um das sich ihre Theorie nicht groß kümmern muss. Dergleichen Hierarchien aber führen in die Irre. Sprache ist immer schon beides. Sie ist einerseits sachbezogene, wörtliche Rede und andererseits vergegenwärtigt sie Perspektiven auf das, wovon jeweils die Rede ist. Sie ist stets sach- und sichtbestimmend zugleich. Das meint Herder, wenn er sagt, dass Sprache „Demokratie“ sei und „nicht zu bändigen“ ist.

Wie kann man das verstehen?

Damit wendet er sich gegen eine einseitige Auffassung von Sprache, die einen ihrer Modi zu ihren Originalmodus erklärt. Eine „demokratische“ Theorie dagegen gesteht ihren grundlegenden Modi einen Gleichrang zu. Die Konsequenz ist ein bedeutungstheoretischer Egalitarismus: Wenn man über das Potential der Sprache nachdenkt, muss man von vornherein ihr ganzes Spektrum in den Blick nehmen. 

Damit geht auch eine Würdigung unserer Alltagssprache einher, nicht wahr?

Wenn man sich unseren tatsächlichen Sprachgebrauch anschaut und nicht nur auf theoretische Modelle blickt, erweist sich der sprachliche Verkehr als ein vielstimmiger Prozess. Wir argumentieren nicht nur, sondern wir erzählen Geschichten, wir fluchen, manche Menschen beten oder führen Klatschgespräche. Alles das gehört zum Potenzial der menschlichen Sprache und nichts davon ist nebensächlich oder anrüchig. Die Sprache ist eine sehr reiche Quelle der Welt- und Selbstbegegnung, die wir in theoretischer Hinsicht nicht unnötig trockenlegen sollten.

 

 

Ein weiterer interessanter Aspekt betrifft das Denken. Nach Humboldt kann man „Sprache und Denken nie identisch genug denken.“ Denken wir immer nur in Sätzen, also im dauerhaften Selbstgespräch?

Humboldts Aussage fasst den Begriff des Denkens an dieser Stelle zu eng. Wenn wir irgendetwas mit einigem Bedacht tun, läuft nicht wie in heutigen Opernhäusern ständig ein Spruchband in unserem Kopf ab. Es gibt viele intelligente Handlungen, die nicht von Sprache begleitet werden. Eine Komponistin beispielsweise wälzt nicht ständig Worte, während sie ihre Partitur entwirft. Wir führen auch keine innere Rede, wenn wir einen Tanz lernen oder einen Kuchen backen. Dennoch aber sind unsere nicht-sprachlichen Tätigkeiten vielfältig durch unsere sprachlichen Unterscheidungen geprägt. Denken Sie nur an das exzentrische Vokabular von Weinkennern, das diese zur Beschreibung des Geschmacks von Wein nutzen. Sie könnten gar nicht so nuanciert schmecken, wenn sie nicht über das entsprechende Vokabular verfügten. Sprache, unsere Sinne und Gefühle hängen auf eine oft unscheinbare Weise miteinander zusammen. 

In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich vor allem mit dem Spätwerk Wittgensteins. Inwiefern hat Wittgenstein der Philosophie die Augen für sprachliche Vielfalt geöffnet? 

Der späte Wittgenstein verwirft die Vorstellung einer eng gefassten Funktion der Sprache und schaut sich an, wie Sprache tatsächlich gesprochen wird. Da zeigt es sich, dass Sprache auf vielfältige Weise genutzt wird, die nicht auf eine in der Theorie erdachte Grundform reduziert werden kann. Ich nehme einen einzigen Paragrafen von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen zum Anlass, um diesen Reichtum der Sprache zu vergegenwärtigen. Dort schreibt Wittgenstein, dass man einen Satz auf zwei Weisen verstehen kann: einerseits so, dass er durch einen anderen ersetzt werden kann, der dasselbe sagt; andererseits aber so, dass eine bedeutungsgleiche Ersetzung nicht möglich ist. Der letztere Fall beschreibt das Verstehen eines Gedichts, denn hier kommt es auf genau diese Stellung genau dieser Wörter an. Bei anderen Sätzen ist das nicht so. Beispielsweise lassen sich philosophische Texte im besten Fall mit eigenen Worten paraphrasieren, ohne dass von dem Thematisierten etwas verloren geht. Ich lese Wittgenstein jedoch so, dass beide Arten des Verstehens grundsätzlich auf jeden Satz anwendbar sind.

 

 

Haben Sie ein Beispiel?

Nach der Vorrunde der Fußballweltmeisterschaft 1982, in der die Italiener eine sehr bescheidene Vorrunde gespielt hatten, sagte der bis dahin torlose Stürmer Paolo Rossi, der noch nicht wissen konnte, dass er das Turnier als Weltmeister und Torschützenkönig verlassen würde, diesen Satz: „Il mio mito è finito“. Man kann diesen Satz leicht übersetzen. Er bedeutet dann: „Mein Mythos ist dahin“. Dieser alltägliche Satz ist gleichzeitig aber ein wunderbar poetischer Satz. Man kann ihn sich als Liedzeile in einem Musical vorstellen. Dieses Beispiel zeigt, dass man es einzelnen Sätzen gar nicht immer ansieht, ob sie buchstäblich oder figürlich bzw. auf poetische Weise zu verstehen sind.

Was folgt daraus für die Philosophie?

Es folgt, dass der traditionelle Kontrast zwischen Prosa und Poesie als Modellen sprachlicher Bedeutungshaftigkeit dynamisiert werden muss. Um das zu verdeutlichen, eigne ich mir Wittgensteins in seinem Frühwerk prominente Unterscheidung von sprachlichem „Sagen“ und „Zeigen“ auf eine veränderte Weise an: so, dass diese Begriffe nicht länger einen Gegensatz innerhalb der Formen der Rede, sondern ein konstitutives Zusammenspiel bezeichnen. Die Polarität zwischen sachbezogen „sagendem“ und sichtbezogen „zeigendem“ Sprachgebrauch prägt das sprachliche Geschehen in seiner ganzen Breite. 

Musik und Sprache werden von Wittgenstein häufig analogisch betrachtet. Warum?

Wittgenstein will nicht sagen, dass Musik eigentlich auch Sprache ist. Gerade die Differenz von Musik und Sprache lässt aber eine Ähnlichkeit zwischen beiden erkennen. Auch der Rhythmus und der Klang eines Satzes und die Dramaturgie von Texten jedweder Art nämlich sind bedeutungstragend. Wenn ich „Der Schnee ist weiß“ sage, kann es etwas anderes sein, als wenn ich eine Gedichtzeile mit „Weiß ist der Schnee“ beginne. Hier macht die Wortstellung einen Unterschied. Auch einzelne Wörter vermögen das. „Schnee“ lässt sich, so denkt man, ohne Weiteres ins Englische übersetzen. Wenn man aber auf den Klang der Wörter hört, dann hat der Klang von „Schnee“ etwas vom Knirschen des Schnees und „Snow“ etwas vom sanften Fallen der Schneeflocken. Wittgensteins Analogien von Sprache und Musik weisen auf solche Nuancen hin, die vielen Theoretikern meist gar nicht auffallen. 

Die Philosophischen Untersuchungen von Wittgenstein besitzen eine ungewöhnliche Komposition, oder?

Die Philosophischen Untersuchungen haben in der Tat eine besondere Form. In einem Arrangement aphoristischer Kurztexte führt Wittgenstein den Denkprozess vor, dessen Resultat die Lesenden in den Händen halten. Indem sein Text die Anlage einer hierarchisch aufgebauten Theorie verweigert, entwirft er eine systematische Theorie der Bedeutung, die ohne ein irreführendes Gefälle auskommt und stattdessen demonstriert, wie eng Sprache, Handeln und Denken miteinander zusammenhängen. 

Würden Sie dem Text auch literarische Qualität zuschreiben? 

Mehr noch als das: Die Philosophischen Untersuchungen sind ein veritables Stück Literatur. Philosophische Texte haben häufig eine literarische Dimension, da die großen Philosophien stets auch ein neues Idiom für die behandelten Probleme erfinden. Das Besondere bei Wittgenstein ist aber, dass die Philosophischen Untersuchungen durchweg auf dem schmalen Grad zwischen Literatur und Philosophie operieren. 

Das Frühwerk Wittgensteins ist der Tractatus logico-philosophicus, der unglaublich effizient, knapp und streng geordnet geschrieben ist. Überrascht da die Literarizität des Spätwerks?

Nein, da auch der Tractatus eine Art Kunstwerk ist – allein schon deshalb, weil Wittgenstein seine Leserschaft dazu auffordert, seine Sätze als unsinnig zu verwerfen, sobald sie glauben, sie verstanden zu haben. Der Text gibt sich wie ein strenges System, ist aber gleichzeitig die Parodie eines philosophischen Systems. Mit den Philosophischen Untersuchungen findet Wittgenstein dann noch einmal eine neue Form der philosophischen Darstellung, genauso wie er es schon im Tractatus getan hat; insofern bleibt Wittgenstein auch im Spätwerk ganz bei sich.

Am Ende Ihres Buches schreiben Sie: „Sprachen im Ganzen unterliegen keiner Regie, so sehr die Potentaten dieser Welt sich dies wünschen mögen.“ Wer ist, Ihrer Meinung nach, in folgender Sache der größere Potentat? Progressive Kräfte, die eine gendergerechte Sprache flächendeckend etablieren möchten, oder ein bayerischer Ministerpräsident, der diese Art der Rede verbieten will?

Wenn Sie mich so fragen, sehe ich eher den Letzteren in der Rolle des Potentaten, sofern er denn glaubt, er könnte den Leuten von oben herab vorschreiben, wie sie nicht zu sprechen und schreiben haben. Es gibt ja einen guten Grund, sich um eine gendergerechte Sprache zu bemühen, einfach deshalb, weil die Menschen in demokratischen Verhältnissen erwarten dürfen, so angesprochen zu werden, wie sie angesprochen werden möchten. Eine Frau, die von ihrer Bank ein Schreiben mit „Sehr geehrter Kunde“ bekommt, wird das heute nicht mehr akzeptieren. Was in jeweiligen Bereichen die angemessene Sprache ist, muss gesellschaftlich ausgehandelt werden, wobei nicht in jedem Bereich dieselben Regelungen angebracht sind. Umsichtig gebraucht, kommt die Diversität der Sprache der Verschiedenheit ihrer Verwenderinnen und Verwender entgegen. Herauszufinden, wie dies gelingen kann, ist ein Prozess, der nicht durch irgendwelche Dekrete gesteuert werden kann. 

Letzte Frage: Welches Einstiegswerk würden Sie jemandem empfehlen, der sich mit der Sprachphilosophie auseinandersetzen möchte?

Meine Empfehlung wäre Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache aus dem Jahr 1772. Eine lebendigere Betrachtung der Sprache ist nie geschrieben worden.

Martin Seel ist Professor em. für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt/M. Seine Schwerpunkte liegen in der Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes, Ethik und Ästhetik. Zu seinen Büchern zählen u. a.„Ästhetik des Erscheinens“ (2000) und „Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste“ (2014). Jüngst erschien sein Buch „Spiele der Sprache“ bei S. Fischer (2023).

 
Nota. - Eine unmittelbare Realität, von der erst in der Reflexion abstrahiert werden kann, ist aber das Sprechen. Sprache ist eine Hypostase, ein nachträglich 'voraus'-gesetztes substan-ziviertes Derivat, von dem ohne weiteres abstrahiert werden kann: Der obige Text beweist es.
JE

 

Mittwoch, 27. Dezember 2023

Das Unendliche kann man denken, aber nicht vorstellen.

                                                                                
aus derStandard.at, 26. Dezember 2023                                                                      
                                                                                                                                                         zu Philosophierungen
Entscheiden ist schwer
Als Paul Cohen die Unergründlichkeit des Unendlichen mathematisch bewies
Der Beweis der Kontinuumshypothese wurde einst intensiv gesucht. Vor 60 Jahren konnte gezeigt werden, dass die Frage nicht entscheidbar ist

Mathematik gilt als die einzige Wissenschaft, die nicht irren kann. Ein Schelm könnte einwenden, dass sie derlei nur vermag, weil sie von eingebildeten Gegenständen handelt. In der Fantasie ist jeder sein eigener König.

Tatsächlich mag es in einer Welt, die derzeit von quälender Unsicherheit geplagt wird, unsportlich sein, die unbedingte Verlässlichkeit mathematischer Wahrheiten als Maßstab für andere Wissensgebiete zu nehmen. Doch die Mathematik nimmt tatsächlich eine ganz besondere Rolle ein. Dass ihre Gegenstände nicht real sind, hindert sie nicht daran, Wissen über sehr reale Dinge zu generieren. Die Natur scheint ein Fan von Mathematik zu sein, immer wieder werden dort Muster entdeckt, die zuvor nur als Gedankenkonstrukte bekannt waren.

Bei all ihren spektakulären Anwendungen ist gleich geblieben, dass die Gegenstände, von denen Mathematik handelt, in gewissem Sinn wählbar und eine Frage der Tradition sind. Das führte immer wieder zu faszinierenden Grundlagenstreitigkeiten. Einen solchen Streit konnte der US-amerikanische Mathematiker Paul Cohen schlichten. Im Dezember vor 60 Jahren zeigte er, dass das Unendliche ein Mysterium bleiben muss.

Was tun mit dem Unendlichen

Das Unendliche hatte die Mathematik schon seit der Antike verwirrt. Existiert es wirklich? Lässt es sich vorstellen? Oder sollte man es gar nicht erst zum Gegenstand von mathematischer Analyse machen? Der deutsche Mathematiker Georg Cantor schuf gegen Ende des 19. Jahrhunderts Tatsachen, indem er Methoden zur Behandlung des Unendlichen entwickelte, die so faszinierend und praktisch waren, dass sie sich nicht ignorieren ließen.

Eine seiner Entdeckungen ist die Unterscheidbarkeit verschiedener Formen des Unendlichen. So zeigte er etwa, dass die Menge der reellen Zahlen größer ist als die der natürlichen Zahlen. Plastischer gesprochen: Die Menge der möglichen Positionen auf einer Strecke ist größer als alle Mengen von Objekten, die einen Vorgänger und einen Nachfolger haben. Was "größer" in diesem Zusammenhang heißen soll, wird in Cantors Beweis greifbar, der zeigt, dass man die reellen Zahlen mithilfe der natürlichen Zahlen nicht "abzählen" kann, selbst wenn man erlaubt, bis ins Unendliche zu zählen. Es müssen immer Lücken bleiben.

Cantors forsche Methoden zur Behandlung des Unendlichen ermöglichten eine Hochblüte der Mathematik, die schon bald als paradiesisch bezeichnet wurde. Manchen war ein derart freier Umgang mit etwas so Verwirrendem wie dem Unendlichen unheimlich, doch aufgrund des Erfolgs schien kein Weg zurück zu führen.

Der deutsche Mathematiker David Hilbert, hier mit modischem Hut abgebildet.

Ein für alle Mal Klarheit

Doch der Boden, auf dem man dieses Mathematikgebäude errichtet hatte, erwies sich als weniger fest als anfangs geglaubt. Der deutsche Mathematiker David Hilbert, ein vehementer Verteidiger der offensiven Nutzung des Unendlichen, wollte um 1900 Klarheit schaffen. Er forderte, die gesamte Mathematik auf ein Fundament aus wenigen Grundaussagen zu stellen. Und diese Aussagen sollten mithilfe mathematischer Mittel auf Herz und Nieren geprüft werden.

Nun ist eine unabhängige, kritische Überprüfung wissenschaftlicher Methoden keine einfache Angelegenheit. Je sorgfältiger etwas untersucht wird, desto mehr wird die Untersuchung selbst zu Wissenschaft, und die Unabhängigkeit steht infrage. Auch für die Mathematik gilt, dass die einzigen Methoden, denen ihre Untersuchung zuzutrauen ist, mathematische sind. Dass derlei tatsächlich machbar ist, erkannte im 19. Jahrhundert George Boole. Er zeigte, dass das menschliche Denken verblüffend mathematisch ist, wobei das "und" einer Multiplikation und das "oder" einer Addition entspricht. Aussagen lassen sich in Reihen mathematischer Symbole umwandeln, die mathematisch untersucht werden können.

Was erwartet man sich von einer solchen Analyse? Mathematische Beweise selbst bedürfen nicht unbedingt einer Untersuchung, sie gelten schließlich als sicher. Doch man erkannte, dass mithilfe der von Boole begründeten Methoden beurteilt werden könnte, welche mathematischen Aussagen beweisbar sind und welche nicht.

Eine frühe Aufnahme von Georg Cantor, der zeigte, wie sich unendliche Mengen mathematisch bändigen ließen.

Wider den Widerspruch

Hilbert forderte, diese Methoden zu verwenden, um die Mathematik noch sicherer zu machen. Das schien gerade aufgrund der Zweifel an der Verwendung des Unendlichen nötig. Seine Forderung beinhaltete daher, dass die Grundaussagen, auf denen die Mathematik aufgebaut werden sollte, einander nicht widersprechen dürften. Diese Widerspruchsfreiheit sollte mathematisch bewiesen werden. Damit begann eine faszinierende Epoche, in der die Mathematik auf sich selbst angewandt wurde, allerdings nicht mit dem Ergebnis, das sich Hilbert erhofft hatte.

Es kam dem Logiker Kurt Gödel zu, Hilberts Hoffnungen zu zerstören. Er konnte zeigen, dass jedes System aus Formeln, das mächtig genug ist, daraus die gesamte Mathematik herzuleiten, entweder tatsächlich Widersprüche enthält oder aber unvollständig sein muss.

Der Logiker Kurt Gödel bei einer Preisverleihung am Amherst College im Jahr 1967.

Anders gesagt: In der Mathematik lässt sich nicht alles, was wahr ist, beweisen. Seine geniale Methode bestand darin, dass er einen Satz konstruierte, der eine Aussage über sich selbst machte und behauptete: "Ich bin falsch." Wäre er beweisbar, führte das zu einem Widerspruch. Den Trick, den Gödel benutzte, gibt es in verschiedener Form seit der griechischen Antike. Besonders schön findet er sich in der Definition, dass ein Barbier ein Mann sei, der alle rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Wer rasiert ihn? (Hier bietet sich eine schöne Gelegenheit, sich einen Kaffee zu machen und darüber nachzudenken, wenn das Ihr Ding ist.)

Es wird schon nicht so schlimm sein

Gödel hatte Hilberts Hoffnungen zunichtegemacht, aber wie weitreichend das Ergebnis war, erschien anfangs nicht klar. Dass das Gebäude aufgrund unbekannter Widersprüche zusammenstürzen konnte, befürchtete kaum jemand. Gödels sonderbarer Satz erschien als Kuriosität, und es gab keinerlei Anzeichen, dass es weitere Sätze geben könnte, die sich nicht beweisen ließen. Doch dann betrat Paul Cohen die Bildfläche. Er führte die Diskussion in gewissem Sinn an ihren Ursprung zurück: zum Unendlichen.

 

 

Der 1934 in den USA geborene Cohen fiel früh durch seine Begabung für Mathematik auf. Er galt als Wunderkind, das sich bei diversen Wettbewerben hervortat, lernte gern im Alleingang anhand alter, klassischer Fachliteratur und schloss die Schule vorzeitig ab, um auf die Universität zu gehen. Cohen galt nicht nur als ausgezeichneter Fachmann, sondern erwies sich abseits seines Fachgebiets als charismatisch und scharfsinnig, wobei er logische Ungereimtheiten von Gesprächspartnern in Diskussionen mit Genuss bis zum bitteren Ende verfolgte. Die Mathematikerin Kathy Driver sagte über ihn: "Paul war ein erstaunlicher Mann. Ungeduldig, rastlos, kämpferisch, provokativ und brillant." Sein Interesse galt den "großen Fragen", und schon bald lieferte er Arbeiten, die später mit Mathematikpreisen ausgezeichnet wurden.

1961, in seinem ersten Jahr an der Universität Stanford, begann er sich als Quereinsteiger mit den von Hilbert und Gödel aufgeworfenen Fragen der mathematischen Logik zu beschäftigen. Er entwickelte 1963 eine revolutionäre Methode, die "Forcing", zu deutsch "Erzwingen" genannt wird. Das Verfahren erlaubt es, sehr vereinfacht gesprochen, ein bestehendes mathematisches System zu erweitern und dabei zwingend bestimmte Eigenschaften vorauszusetzen. Die Auswirkungen waren so tiefgreifend, dass sie ihm die höchsten Auszeichnungen der Mathematik einbrachten, darunter die Verleihung der Fieldsmedaille im Jahr 1966. Was war es, das für so großes Aufsehen sorgte?

 
 Paul Cohen bei einem Auftritt in Wien, ein Jahr vor seinem Tod. ericcohen911

Das Unendliche entzieht sich

Cohen schloss eine Arbeit ab, die Kurt Gödel begonnen hatte. Gödel hatte sich im Zuge seiner Untersuchungen der Beweisbarkeit von mathematischen Aussagen auch mit einer Vermutung beschäftigt, die auf Georg Cantor zurückgeht. Cantor hatte ja gezeigt, dass es verschiedene Formen des Unendlichen gibt und sich die reellen Zahlen nicht mithilfe der natürlichen Zahlen abzählen lassen.

Doch es gab eine Frage, die Cantor nicht beantworten konnte und die auf David Hilberts Liste der wichtigsten mathematischen Probleme Platz eins einnahm: Gibt es zwischen den natürlichen und den reellen Zahlen weitere Formen der Unendlichkeit? Anders gesagt: Gibt es eine Menge, die sich nicht abzählen lässt, die aber weniger Elemente enthält als die reellen Zahlen? Cantor vermutete, dass es keine solche Menge gebe. Diese Vermutung wurde als Kontinuumshypothese bekannt.

Hilbert hielt das Problem für lösbar, doch noch in den 1960er-Jahren war eine Lösung in weiter Ferne. Cohen konnte zeigen, warum das so war. Er machte Gebrauch von einer Entdeckung Kurt Gödels, der gezeigt hatte, dass sich die Kontinuumshypothese mit den Standardmethoden nicht widerlegen lässt.

Das könnte man eigentlich als Hinweis darauf auffassen, dass die Kontinuumshypothese wahr ist. In vielen Bereichen unseres Lebens haben wir kein Problem damit, etwas als wahr anzuerkennen, das sich nicht widerlegen lässt, man denke nur an die Wissenschaftstheorie Karl Poppers, laut der das Scheitern von Widerlegungsversuchen das Beste ist, was wir von einer wahren Aussage über reale Gegenstände erhoffen dürfen.

Paul Cohen bei einer Konferenz im Jahr 1977.

Doch Cohen gelang ein genialer Schachzug: Er bewies mithilfe des Forcings, dass die Kontinuumshypothese auch nicht beweisbar ist. Das tat er, indem er zeigte, wie Mengen "erzwungen" werden konnten, die die Kontinuumshypothese verletzten. Der Versuch eines Beweises ist damit hinfällig. Da sie also weder widerlegbar noch beweisbar ist, lässt sich ihre Wahrheit mathematisch nicht feststellen. Die Frage ist unentscheidbar. Das war das Ergebnis, das Cohen vor 60 Jahren bewies. Das Forcing etablierte sich seither als Standardmethode für ähnliche Untersuchungen. "Das Forcing wird uns begleiten, solange Menschen über Mathematik und Wahrheit nachdenken", stellte der Mathematiker Hugh Woodin in einer Vorlesung fest. Cohen selbst sagte später, er fühle sich "wie ein Vater, dessen Sohn viel weiter gekommen ist, als er es je für möglich gehalten hätte".

Es bleibt der Glaube

Übrig bleibt die Erkenntnis, dass kein Weg darum herumführt, sich gewisse Eigenschaften der Gegenstände, von denen Mathematik handelt, auszusuchen. Die Kontinuumshypothese kann als wahr oder falsch angenommen werden, ohne zu Problemen für die Mathematik zu führen. Die Natur des Unendlichen ist keine metaphysische Wirklichkeit, der man sich mittels logischer Mittel annähern kann. Sie muss vorausgesetzt werden wie ein Glaubenssatz. Die Mathematik nimmt dem Menschen die Entscheidung, wie er oder sie sich das Unendliche vorstellen will, nicht ab.

Link:

American Mathematical Society

 

Nota. -  Die obige Formulierung "Das Unendliche entzieht sich" ist natürlich falsch und irreführend. 'Das Unendliche' tut gar nichts - wenn man nicht davon ausgeht, dass es das wirklich gibt, wofür es soviel oder sowenig Evidenz gibt wir für das Gegenteil. Richtig ist aber, dass es als seiend vorausgesetzt werden muss, wenn eine Reihe von Denkoperationen möglich sein sollen.Voraus gesetzt: nämlich jeder möglichen Erfahrung 'voraus'; oder dar-über hin aus. Es entzieht sich nicht, sondern liegt apriori außerhalb.

Kann man es denken? Man setzt es einfach, wie einen ordentlichen Begriff: so, als ob es aus definierten Teilen zusammengesetzt ('bestimmt') wäre, die aber nirgends analysiert werden, sondern nur synthetisch 'zu Grunde gelegt', ohne weitere Bestimmung. Woraus allerdings folgt, dass man sie sich nicht vorstellen kann, denn wenn man meint, ihre Anschauung sei möglich, kann man nicht zugleich einräumen, dass sie faktisch unmöglich ist. Dasselbe gilt für die Null usw.

JE

Montag, 25. Dezember 2023

Hervorbringen kann die Philosophie nichts

O. Redon, Der Wagen Apolls                 aus Wissenschaftslehre - die fast vollendete...

Die Philosophie soll nicht mehr antworten, als sie gefragt wird.

Hervorbringen kann sie nichts. Es muß ihr etwas gegeben werden. Dieses ordnet und er-klärt sie, oder welches ebensoviel ist, sie weist ihm seine Stelle im Ganzen an, wo es als Ur-sache und Wirkung hingehört.

Welches ist aber ihr eigentlicher Wirkungskreis? Keine gelehrte Kunst kann es sein. Sie muß nicht von Gegenständen und Kenntnissen abhängen, die erworben werden müssen, von einer Quantität der Erfahrung, sonst wäre jede Wissenschaft Philosophie. Wenn also jene Wissenschaften sind, so ist sie keine.

Was könnte es wohl sein?

Sie handelt von einem Gegenstande, der nicht gelernt wird. Wir müssen aber alle Gegenstände lernen – also, von gar keinem Gegenstande. Was gelernt wird, muß doch verschieden sein von dem Lernenden. Was gelernt wird, ist ein Gegenstand, also ist das Lernende kein Gegenstand. Könnte also die Philosophie vielleicht vom Lernenden handeln, also von uns, wenn wir Ge-genstände lernen? 

Die Philosophie ist aber selbst im Lernenden. Nun, da wird sie Selbstbetrachtung sein. Ei! wie fängt es der Lernende an, sich selbst in dieser Operation zu belauschen? Er müßte sich also lernen, denn unter Lernen verstehn wir überhaupt nichts als den Gegenstand anschaun und ihn mit seinen Merkmalen uns einprägen. Es würde also wieder ein Gegenstand. Nein, Selbst-betrachtung kann sie nicht sein, denn sonst wäre sie nicht das Verlangte. Es ist ein Selbstgefühl vielleicht. Was ist denn ein Gefühl?

(Die Philosophie ist ursprünglich Gefühl. Die Anschauungen dieses Gefühls begreifen die philosophischen Wissenschaften.)

Es muß ein Gefühl von innern, notwendig freien Verhältnissen sein. Die Philosophie bedarf daher allemal etwas Gegebenen, ist Form – und doch real und ideal zugleich wie die Urhand-lung. Konstruieren läßt sich Philosophie nicht. Die Grenzen des Gefühls sind die Grenzen der Philosophie. Das Gefühl kann sich nicht selber fühlen.

Das dem Gefühl Gegebne scheint mir die Urhandlung als Ursache und Wirkung zu sein. Unterscheidung der Philosophie von ihrem Produkt: den philosophischen Wissenschaften.

Was ist denn ein Gefühl? 

Es läßt sich nur in der Reflexion betrachten, der Geist des Gefühls ist da heraus. Aus dem Produkt läßt sich nach dem Schema der Reflexion auf den Produzenten schließen.

Anschauungsvermögen. Der Anschauung liegt kein besondrer Trieb zum Grunde.

Die Anschauung ist für das Gefühl und die Reflexion geteilt. Eins ist sie ohne Anwendung. Angewandt ist sie Tendenz und Produkt. Die Tendenz gehört dem Gefühl, das Produkt der Reflexion. Das Subjektive dem Ge- fühl, das Objektive der Reflexion. (Beziehung zwischen Vermögen und Kraft.)

Gefühl und Reflexion bewirken zusammen die Anschauung. Es ist das vereinigende Dritte, das aber nicht in die Reflexion und Gefühl kommen kann, da die Substanz nie ins Akzidens krie-chen kann, die Synthese nie ganz in der These und Antithese erscheinen. (So entsteht ein Ob-jekt aus Wechselwirkung zweier Nichtobjekte. Anwendung auf die Urhandlung.)

Gefühl scheint das erste, Reflexion das zweite zu sein. Warum?

Im Bewußtsein muß es scheinen, als ginge es vom Beschränkten zum Unbeschränkten, weil das Bewußtsein von sich, als dem Beschränkten, ausgehn muß –, und dies geschieht durchs Gefühl, ohnerachtet das Gefühl, abstrakt genommen, ein Schreiten des Unbeschränkten zum Beschränkten ist: diese umgekehrte Erscheinung ist natürlich. Sobald das Absolute, wie ich das ursprünglich ideal Reale oder real Ideale nennen will, als Akzidens oder halb erscheint, so muß es verkehrt erscheinen: das Unbeschränkte wird beschränkt et vice versa. (Anwendung auf die Urhandlung.) Ist das Gefühl da im Bewußtsein, und es soll reflektiert werden, welches der Formbetrieb verursacht, so muß eine Mittelanschauung vorhergehen, welche selbst wieder durch ein vorhergehendes Gefühl und eine vorhergehende Reflexion, die aber nicht ins Bewußtsein kommen kann, hervorgebracht wird; und das Produkt dieser Anschauung wird nun das Objekt der Reflexion. Dieses scheint nun aber ein Schreiten vom Unbeschränkten zum Beschränkten und ist eigentlich gerade ein umgekehrtes Schreiten.

Beim Gefühl und der Reflexion wird freilich Unbeschränkt beidemal in einer verschiednen Bedeutung genommen. Das erstemal paßt der Wortsinn Unbeschränkt oder Unbestimmt mehr, das zweitemal würde Unabhängig passender sein. Das letztere deutet auf Kausalver-bindung, und der Grund davon mag wohl darin liegen, daß die zweite Handlung durch die erste verursacht zu sein scheint. Es ist also eine Beziehung auf die erste Handlung. Hingegen deutet das erstere auf die Reflexionsbestimmung und ist also eine Beziehung auf die zweite Hand- lung, welches den innigen Zusammenhang dieser beiden Handlungen auffallender zeigt.

Woher erhält aber die erste Reflexion, die die Mittelanschauung mit hervorbringt, ihren Stoff, ihr Objekt? Was ist überhaupt Reflexion?

Sie wird leicht zu bestimmen sein, wie jede Hälfte einer Sphäre, wenn man die eine Hälfte, als Hälfte, und die Sphäre, als geteilt, hat. Denn da muß sie gerade das Entgegengesetzte sein, weil nur zwei Entgegengesetzte eine Sphäre in unserm Sinn erschöpfen oder ausmachen. 

Die Sphäre ist der Mensch, die Hälfte ist das Gefühl.

Vom Gefühl haben wir bisher gefunden, daß es zur Anschauung mitwirke, daß es dazu die Tendenz gebe oder das Subjektive, daß es der Reflexion korrespondiere, die Hälfte der Sphäre Mensch, im Bewußtsein ein Schrei- ten vom Beschränkten zum Unbeschränkten, im Grunde aber das Gegenteil sei, daß ihm etwas gegeben sein müsse, und daß dieses ihm Gegebene die Urhandlung als Ursache und Wirkung zu sein scheine.

Theoretische und praktische Philosophie, was ist das? Welches ist die Sphäre jeder?

Die Reflexion findet das Bedürfnis einer Philosophie oder eines gedachten, systematischen Zusammenhangs zwischen Denken und Fühlen, denn es ist im Gefühl. Es durchsucht seinen Stoff und findet, als Unwandelbares, als Festes zu einem Anhalten, nichts als sich und sich selbst rein, i. e. ohne Stoff, bloße Form des Stoffs, aber, wohlverstanden, reine Form, zwar ohne wirklichen Stoff gedacht, aber doch, um reine Form zu sein, in wesentlicher Beziehung auf einen Stoff überhaupt.

Denn sonst wäre es nicht reine Form der Reflexion, die notwendig einen Stoff voraussetzt, weil sie Produkt des Beschränkten, des Bewußtseins in dieser Bedeutung, kurz Subjektivität des Subjekts, Akzidensheit des Akzidens ist. Dies ist die Urhandlung usw.

Das ist das Kontingent, was die Reflexion, scheinbar allein, zur Befriedigung jenes Bedürf-nisses liefert. Die Kategorie der Modalität schließt deshalb mit dem Begriff der Notwendig-keit. Nun geht die Wechselherrschaft an. Die Urhandlung verknüpft die Reflexion mit dem Gefühle. Ihre Form gleichsam gehört der Reflexion, ihr Stoff dem Gefühle. Ihr Geschehn ist im Gefühl, ihre Art in der Reflexion. Die reine Form des Gefühls ist darzustellen nicht möglich. Es ist nur eins, und Form und Stoff, als komponierte Begriffe, sind gar nicht darauf anwendbar. Die Reflexion konnte ihre reine Form darstellen, wenn man ihre partielle Funktion in der Gemeinschaft mit dem Gefühl Form nennt und diesen Namen auf ihre abstrakte Wirksamkeit überträgt. Nur im Gefühle gleichsam kann die Reflexion ihre reine Form aufstellen: neues Datum des überall herrschenden Wechselverhältnisses zwischen den Entgegengesetzten, oder der Wahrheit, daß alles durch Reflexion Dargestellte nach den Regeln der Reflexion dargestellt ist und von diesen abstrahiert werden muß, um das Entgegengesetzte zu entdecken.

Das Gefühl gibt nun der Reflexion zu seinem Kontingente den Stoff der intellektualen Anschauung. So wie das Gefühl der Reflexion in Aufstellung seiner ersten Formen behilflich sein mußte, so muß die Reflexion, um etwas, für sie zu bearbeiten Mögliches zu haben, mitwirken: und so entsteht die intellektuale Anschauung. Diese wird nun der Stoff der Philosophie in der Reflexion. Nun hat die Reflexion eine reine Form und einen Stoff für die reine Form, also das Unwandelbare, Feste, zu einem Anhalten, was sie suchte, und nun ist die Aussicht auf eine Philosophie, als gedachten (systematischen) Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen eröffnet. Wie finden wir nun den Stoff, das Objekt, was nicht Objekt ist, das Gebiet der Wechselherrschaft des Gefühls und der Reflexion bestimmt? Der Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen muß immer sein, wir müssen ihn im Bewußtsein überall finden können. Aber wie finden wir ihn systematisch?

Aus den reinen Formen der Reflexion haben wir das Verfahren der Reflexion mit dem Stoff überhaupt gelernt. Sie hat nun einen bestimmten Stoff, mit dem wird sie also ebenso verfah-ren. Dieser bestimmte Stoff ist die intellektuale Anschauung. Nach dem Gesetze der Urhand-lung wird er geteilt. Sie zerfällt in ihre zwei Teile, in das Gefühl und in die Reflexion, denn aus diesen ist sie zusammengesetzt. Die Synthesis dieser These und Antithese muß eins, Grenze und Sphäre von beiden, absolute Sphäre sein, denn es ist Synthesis; wir sind aber im bestimmten Stoff, also muß es, es kann nicht anders sein – Mensch oder Ich sein. Der Mensch denkt und fühlt, er begrenzt beides frei, er ist bestimmter Stoff.

(Dies wäre Fichtens Intelligenz. Das absolute Ich ist dieser bestimmte Stoff, eh die Urhand-lung in ihn tritt, eh die Reflexion auf ihn angewendet wird.)

So haben wir in unsrer Deduktion der Philosophie den natürlichsten Weg beobachtet: Bedürfnis einer Philosophie im Bewußtsein, scheinbares Schreiten vom Beschränkten zum Unbeschränkten, Reflexion darüber, scheinbares Schreiten vom Unbeschränkten zum Be-schränkten, Resultate dieser Reflexion, Resultate des Gefühls dieser Reflexion, Reflexion über diese Resultate nach jenen Resultaten, gefundner Zusammenhang oder Philosophie. 
___________________________
Novalis, Fragmente

ed. Kamnitzer, Dresden 1929


Nota I. - Das ist Fichtes gedanklicher Ausgangspunkt: Die Philosophie - lies: Transzen-dentalphilosophie - bringt selber nichts hervor. Sie hat ihren Gegenstand, nämlich das tatsächlich gegebene vernünftige Bewusstsein ihrer Zeitgenossen - den 'gemeinen Stand-punkt' -, und dieses gilt es zu verstehen: auf seine wirklichen Voraussetzungen zurückzu-führen und seine Reichweite zu ermessen. Um dies zu können, muss die Philosophie einen Standpunkt über ihm einnehmen.

Fichte war Novalis' Ausgangspunkt, ihn wollte er interpretierend verstehen; stets mit dem Hintergedanken, "darüber hinaus" zu gehen. Im Einzelnen kommt er gelegentlich zu ver-blüffenden Einsichten. Aber insgesamt findet er doch nicht zu dem Verständnis, dass Transzendentalphilosophie an keiner Stelle Realphilosphie wird. So sind etwa Einbildungs-kraft und Reflexion nicht zwei real existierende antagonistische Kräfte, sondern lediglich zwei Ansichten ein und derselben intellektuellen Tätigkeit, die nur der philosophische Be-trachter unterscheidet, um aus der Vorstellung von ihrer Wechselwirkung zu verstehen, was sie eigentlich 'tut'.

So macht z. B. Fichte auch von dem 'Gefühl' einen ganz und gar nüchternen, sensualistisch-materialistischen Gebrauch. Es ist der faktische Ausgangspunkt allen Wissens. Und das Ab-solute Ich 'ist' nicht ein 'bestimmter Stoff', sondern lediglich die Gedankenkonstruktion von Etwas, das Gefühle hat - und in der Anschauung darauf reflektiert. 

Die Wissenschafstlehre sei "bloße Reflexionsphilosophie", hat Hegel gesagt, mit andern Worten: Sie reflektiert lediglich auf das, was im faktischen Wissen wirklich vorkommt. Sie erfindet nichts hinzu. Aus Hegels Mund ist das ein Lob und kein Tadel. Novalis hat es von Fichte selbst gehört, aber so ganz mag er's nicht glauben. Gern würde er die Einbildungs-kraft darüber hinausschießen lassen, man merkt es an jeder Stelle.
27. 5. 2017

Nota II. - Wenn Fichte reale und ideale Tätigkeit von einander unterscheidet, so meint er nicht zwei verschiedene Kräfte; er kennt überhaupt nur eine 'Energie', eine prädikative Qua-lität, die er allenthalben Einbildungskraft nennt. Sie ist ein breiter Strom, der sich teilt und hierhin und dahin wendet. Er sondert sich nicht nach der Substanz, sondern nach dem Ge-genstand, den er wählt oder, was dasselbe ist, nach der Weise seiner Tätigkeit: Real nennt Fichte die Tätigkeit, durch die das Ich sich wirklich etwas vorstellt, sich ein Bild macht, eine Qualität prädiziert. Diese setzt der Tätigkeit einen Gegenstand, jenen nimmt es wahr durch ein Gefühl, das ihm zuteil wird, und das nichts anderes ist als der Widerstand, den der Ge-genstand seiner Tätigkeit entgegen
setzt. Das Gefühl scheint ihm von außen beizukommen, es wird angeschaut.

Dieses Anschauen nennt Fichte eine ideale Tätigkeit; sie 'setzt' nicht mehr, sondern be-stimmt. Sie ist die ursprüngliche Weise der Reflexion. Sie ist der Teil der Einbildungskraft, der sich nicht an den Gegenstand gebunden hatte und frei geblieben ist. Und so ist die Re-flexion in allen Fällen: Sie ist frei, weil sie unendlich ist und zu keinem Moment festgebun-den wird.

Das alles ist natürlich nicht wirklich geschehen. Es ist selber ein Bild, ein Schema dessen, was sich zugetragen hat, als ein Bewusstsein entstand: wie und unter welchen Bedingungen es möglich war und inwiefern es notwendig war, um zur Verunft zu führen. Es stellt eine Dynamik dar, die, weil sie in Gedanken stattfindet, nicht selber anschaubar ist, sondern gedacht wird, als ob sie anschaubar wäre.

*

So komplex dieses Bild eines Bildes immer ausfallen mag: Der Sache selbst setzt es nichts hinzu; es macht sie lediglich einsichtig.
JE,
11. 6. 19

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