Kopernikusstandbild in Thorn (Toruń)
aus nzz.ch, 26. 11. 2025 zuJochen Ebmeiers Realien
Nikolaus Kopernikus rückte die Sonne ins Zentrum des Kosmos und degradierte die Erde zu einem gewöhnlichen Planeten. Die meisten Zeitgenossen hielten seine Idee aber bloss für ein Rechenmodell. Der vierte Teil unserer Serie zu den grössten Erkenntnissen der Wissenschaft.
von Martin Amrein (Text) und Daniel Röttele (Infografik)
Dieses Werk beschreibe zwar, dass die Erde sich bewege und die Sonne im Zentrum des Universums ruhe, stand da. Doch diese Hypothese müsse nicht wahr sein, sie diene nur als Hilfe, um die Bahnen der Himmelskörper zu berechnen. Rheticus versuchte noch, eine Neuauflage in die Wege zu leiten, scheiterte jedoch. Dafür erreichte der unbekannte Autor des Vorworts sein Ziel: Viele Leser glaubten, die einleitenden Zeilen stammten von Kopernikus, und betrachteten das Buch als reine Rechenhilfe, nicht als Manifest eines neuen Weltbilds.
Dieses Weltbild, das heliozentrische, mit einem Kosmos, in dessen Mitte die Sonne stand, hatte Kopernikus im Stillen entwickelt. Im Alltag war er ein Mann der Kirche. Er wirkte als Domherr in Frauenburg, einer kleinen Stadt im polnischen Reich. Die Stelle verdankte er seinem einflussreichen Onkel, dem Bischof der Region. Zuvor hatte er Mathematik, Astronomie, Medizin und Recht studiert. Als Domherr verwaltete er die Ländereien und die Finanzen des Bistums.
Kopernikus musste zölibatär leben. Dafür blieb ihm die Freiheit, sich neben den kirchlichen Pflichten seiner wahren Leidenschaft zu widmen: der Astronomie. Nacht für Nacht beobachtete er die Planeten und notierte ihre Positionen. Dabei wuchsen seine Zweifel am Bild des Kosmos mit der Erde im Zentrum, das für seine Zeitgenossen im 16. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit war.
Vor allem ein Phänomen machte Kopernikus zu schaffen: Beobachtet man die Planeten von der Erde aus, ziehen sie immer wieder seltsame Schleifen über den Himmel.
Im heutigen Weltbild, in dem die Erde um die Sonne kreist, lässt sich dieses Phänomen leicht deuten. Das zeigt der Blick aus dem Weltraum auf die Erde und den Mars. Ungefähr alle zwei Jahre überholt die Erde auf ihrer schnelleren Innenbahn den Mars. Dabei scheint der Mars für den Beobachter von der Erde aus für einige Wochen rückwärtszulaufen: Die Schleife ist eine reine Perspektivtäuschung.
Im geozentrischen Modell mit der Erde im Mittelpunkt brauchte es für dieses Rätsel dagegen eine eigene Erklärung.
Diese hatte der griechische Gelehrte Ptolemäus bereits im 2. Jahrhundert gefunden, als er das antike Wissen über den Himmel zusammenführte und in ein kohärentes System brachte. Dieses System beruhte auf dem geozentrischen Weltbild des Aristoteles: Die Erde galt als unbeweglicher Mittelpunkt des Universums, während Sonne, Mond und Planeten auf unsichtbaren Bahnen um sie herum kreisten.
Um die Schleifen der Planeten im geozentrischen Weltbild zu erklären, nahm Ptolemäus an, sie bewegten sich auf sogenannten Epizykeln. Das sind kleinere Kreise, deren Mittelpunkte die eigentliche Kreisbahn um die Erde vollführen. Durch die geschickte Wahl der Grösse dieser Trägerkreise und der Epizykeln liessen sich die beobachteten Planetenbahnen erstaunlich genau beschreiben.
Das geozentrische Weltbild nach Ptolemäus.
Schon griechische Denker fragten sich, ob die Erde um die Sonne kreisen könnte. Doch gegen die Lehrmeinung des Aristoteles konnte sich die Idee nie durchsetzen. Hingegen war die Vorstellung von der flachen Erde zur Zeit von Ptolemäus längst überwunden. Sie ist zwar in vielen alten Schöpfungsmythen zu finden, doch bereits die Griechen gingen von einer kugelförmigen Erde aus. Dass noch die Christen des Mittelalters die Erde für eine Scheibe hielten, ist eine Legende.
Das ptolemäische Weltbild mit der Sonne, die sich um die Erde dreht, blieb bis ins 16. Jahrhundert fest verankert. Die Kirche betrachtete das Modell als unverrückbare theologische Wahrheit, stellte es doch den Menschen als Krone der Schöpfung ins Zentrum von allem. Zudem stimmte es mit der Bibel überein: Josua bat Gott im Alten Testament, die Sonne stillstehen zu lassen, nicht etwa die Erde. Und schliesslich schien auch die alltägliche Erfahrung dafür zu sprechen. Wer konnte sich ernsthaft vorstellen, dass die schwere Erde durchs All raste, ohne dass man das Geringste davon spürte?
Selbst den Astronomen bot Ptolemäus ein mächtiges Instrument: Sein Modell ermöglichte es, die Positionen der Himmelskörper in der Vergangenheit und in der Zukunft zu berechnen. Dafür akzeptierten sie, dass die Planeten wie betrunken durch den Himmel torkelten.
Kopernikus aber missfiel die komplizierte Konstruktion der ineinandergeschachtelten Kreise: Sie widersprach der Vernunft, fand er. Auf der Suche nach einem eleganteren System wagte er einen Schritt, dessen Dramatik aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbar ist. Er rückte die Sonne ins Zentrum des Kosmos und degradierte die Erde zu einem gewöhnlichen Planeten.
Das heliozentrische Weltbild nach Kopernikus.
Kopernikus nutzte dieselben Positionsdaten und Umlaufzeiten, die schon Ptolemäus festgehalten hatte, erklärte sie aber mit einer ganz anderen Geometrie. Damit fand er endlich eine plausible Erklärung für die Schleifen, die die Planeten scheinbar vollziehen. Aber auch für andere Rätsel – etwa, warum Merkur und Venus von der Erde aus stets in Sonnennähe zu sehen sind. Im heliozentrischen Modell ist die Lösung ganz einfach: Ihre Umlaufbahnen liegen innerhalb der Erdbahn, wodurch sie enger um die Sonne kreisen.
In einem kurzen handschriftlichen Traktat, das er «Commentariolus» nannte, legte er 1514 die Prinzipien seines Systems dar. Er stellte sieben Thesen auf, darunter die zentrale: «Alle Bahnen umgeben die Sonne, als stünde sie in aller Mitte, daher liegt der Mittelpunkt der Welt in Sonnennähe.» Kopernikus gab das Manuskript an einige wenige Gelehrte weiter, denen er vertraute. Wie eine geheime Botschaft wanderte es von Hand zu Hand und weckte Neugier auf das neue Weltbild, das im abgelegenen Frauenburg entstanden war.
In den nächsten Jahren hielt sich Kopernikus bedeckt. Er arbeitete an einem Buch, das seine Theorie systematisch darstellte, veröffentlichte es aber vor allem aus Furcht vor dem Spott anderer Gelehrter nicht. Erst ein unerwarteter Besuch verlieh ihm den nötigen Mut. Im Frühling 1539 stand Georg Joachim Rheticus vor seiner Tür. Der 25-Jährige hatte die wochenlange Reise von Sachsen nach Frauenburg angetreten, weil er die Gerüchte von Kopernikus’ neuer Kosmologie gehört hatte. Rheticus wollte mehr darüber erfahren.
So bekam Kopernikus, im Alter von 66 Jahren, erstmals einen Schüler. Geduldig erläuterte er ihm die Vorzüge des heliozentrischen Systems. Rheticus war begeistert, so sehr, dass er die nächsten zwei Jahre in Frauenburg blieb. Umgekehrt hatte Rheticus seinem Lehrmeister etwas zu bieten: Er hatte Beobachtungsdaten zu Merkur mitgebracht, die Kopernikus noch fehlten. Zudem unterstützte er ihn bei weiteren Messungen, gleich zwei partielle Sonnenfinsternisse verfolgten die beiden gemeinsam. Vielleicht noch wichtiger: Der junge Mathematiker überprüfte die Berechnungen und Tabellen, die Kopernikus für sein Buch erstellt hatte, und half, das Werk neu zu gliedern.
Am entscheidendsten aber war, dass er Kopernikus davon überzeugte, das Buch zu veröffentlichen. Den Drucker organisierte Rheticus ebenfalls.
Allerdings zog sich der Druck in Nürnberg hin. «De revolutionibus» war ein monumentales Werk voll mit Tabellen, Zahlenreihen und Diagrammen, die aufwendig als Holzschnitte eingefügt werden mussten. Briefe zwischen Frauenburg und Nürnberg brauchten Wochen, und Kopernikus selbst zögerte mit Korrekturen. Es wurde Mai 1543, bis er das Buch in seinen Händen hielt. Viel davon nahm er aber nicht mehr wahr. Einige Monate zuvor hatte ihm ein Schlaganfall seine mentalen Kräfte geraubt. Nun lag er bereits im Sterben.
Unter Astronomen stiess das Buch zwar auf Interesse, weil es präzise Kalkulationen und nützliche Tabellen enthielt. Doch die meisten glaubten dem Vorwort und betrachteten es als blosses Rechenmodell. Auch die Kirche zeigte sich ungerührt, ein Verbot hielt sie nicht für nötig.
In den folgenden Jahrzehnten bekannten sich nur einzelne Gelehrte zum eigentlichen Gehalt des Werks. Einer der wenigen, die das heliozentrische Weltbild akzeptierten, war Johannes Kepler. Um 1600 wirkte er in Prag als Assistent des Astronomen Tycho Brahe. Dieser hielt unbeirrt an der Erde als Mittelpunkt des Kosmos fest und versuchte, seine Sicht mit genauen Beobachtungen zu belegen.

Kepler zeigte, dass die Planeten die Erde nicht in perfekten Kreisen umrunden, sondern in Ellipsen und dabei ihre Geschwindigkeit variieren. Erst damit waren Berechnungen möglich, die präzise mit den beobachteten Daten übereinstimmten.
Der italienische Universalgelehrte Galileo Galilei wiederum war der Erste, der das neu entwickelte Fernrohr in den Himmel richtete. Er entdeckte, dass die Venus durch die Bestrahlung der Sonne Phasen zeigte wie der Mond – und das war nur dann möglich, wenn sie um die Sonne kreiste.
Diese und andere Beobachtungen machten Galilei zum unerschütterlichen Kopernikaner. Er vertrat das heliozentrische Weltbild öffentlich und forderte, die Heilige Schrift nicht wörtlich zu nehmen: Die Bibel «lehrt uns, wie man in den Himmel kommt, nicht, wie der Himmel geht», schrieb er.
Erst jetzt reagierte die Kirche. Die Inquisition zwang Galilei, seine Worte zu widerrufen, und stellte ihn unter Hausarrest. «De revolutionibus» kam 1616 auf den Index der verbotenen Bücher, wo es mehr als zweihundert Jahre blieb.
Das verhinderte aber nicht den Durchbruch des heliozentrischen Weltbilds, den die Physik Isaac Newtons schliesslich mit sich brachte. Newton beschrieb 1687 eine Kraft, die auf der Erde wirkt, aber auch den Kosmos regiert: die Gravitation. Damit erklärte er die Planetenbahnen als natürliche Folge eines universellen Gesetzes und verwandelte Kopernikus’ kühne Idee in eine unumstössliche Gewissheit.
Zu diesem Zeitpunkt war längst auch bekannt, was zunächst nur wenige geahnt hatten: Das irreführende Vorwort in «De revolutionibus» stammte nicht von Kopernikus, sondern vom Nürnberger Theologen Andreas Osiander. Im Auftrag der Druckerei beaufsichtigte er die Herstellung des Buchs und war auch für die Korrekturen zuständig. Weil er das Werk vor kirchlicher Kritik schützen wollte, verharmloste er den Inhalt eigenmächtig. Einerseits sorgte er so dafür, dass das Buch zirkulieren konnte. Aber andererseits wurde er mit seinem entschärfenden Vorwort zum heimlichen Bremser der kopernikanischen Wende.
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