aus FAZ.NET, 19.11.2025 "Sachdimension schlägt Sozialdimension" zu öffentliche Angelegenheiten
Ausgangspunkt dieser ersten konsequent systemtheoretisch orientierten Gesellschaftsgeschichte der europäischen Frühen Neuzeit ist die Beobachtung, dass in den drei Jahrhunderten zwischen 1500 und 1800 ein Prozess des Übergangs von hierarchischer zu funktionaler sozialer Differenzierung stattfand, in dessen Verlauf die Grundstrukturen der modernen Gesellschaft entstanden.
Rudolf Schlögl, der bis 2021 frühneuzeitliche Geschichte an der Universität Konstanz lehrte, hebt nachdrücklich hervor, dass diese Gesellschaft schon zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von Zeitgenossen als sozialer Ordnungszusammenhang beschrieben wurde, der Gruppenbildung nach sachlichen Kriterien notwendig machte, und das selbst dann, wenn diese Zeitgenossen noch das Modell der Ständegesellschaft bemühten. Gleichzeitig betont der Verfasser, dass hierarchische und funktionale Differenzierung in der europäischen Gesellschaft bei allen Irritationen eine lange gemeinsame Geschichte wechselseitiger Stabilisierung hatten, die sich erst seit Mitte des siebzehnten Jahrhunderts deutlich in Richtung funktional bestimmter Systembildungen verschob.
Dieser grundlegende Wandel wiederum, den der Verfasser als soziale Evolution bezeichnet, sei historisch singulär gewesen und habe schließlich im Zuge imperialer Globalisierung die „multiple modernities“ der Weltgesellschaft hervorgebracht. Eine Entwicklung, die allerdings keineswegs als Überlegenheit Europas verstanden werden dürfe, sondern ganz im Gegenteil die Unwahrscheinlichkeit der Moderne vor Augen führe.

Man kann es auch so sagen: Versteht man die europäische Gesellschaft der Frühen Neuzeit als Gesellschaft zweifacher Primärdifferenzierung im Umbruch, so hat man es mit höchst fragilen und höchst kontingenten Prozessen sozialer Sinnbildung zu tun, deren Wechselwirkungen eine spezifische epochale Identität jenseits der bloßen zeitlichen Abfolge von Herrschern, Staaten und Religionen hervorbringen. Es geht also um eine integrierte (und alles andere als beliebige) Verbindung des Verschiedenen oder, wie der Verfasser sagt, um die „Gleichzeitigkeit des Differenten“, die den unwahrscheinlichen europäischen Weg in die Moderne ausgemacht hat.
Das erste der beiden Kapitel der Monographie ist – systemtheoretisch konsequent – den kommunikativen und medialen Verhältnissen in der europäischen Frühen Neuzeit gewidmet. Die Kommunikation unter Anwesenden, deren Logiken der Verfasser bereits in grundlegenden Studien untersucht hat, kommt dabei ebenso zu ihrem Recht wie jene moralphilosophisch grundierte „neue“ Anthropologie der Kommunikation, die sich noch im achtzehnten Jahrhundert auffällig skeptisch ausnahm.
Der analytische Mehrwert der Systemtheorie wird in diesem Kapitel nicht zuletzt dort erkennbar, wo es um die Transformation der sogenannten einfachen Erfolgsmedien geht. So mutierte zum Beispiel das Ritual vom Erfolgs- zum Verbreitungsmedium, weil die zunehmende Schriftpraxis nach und nach dessen Performanz unterlief. Gleichzeitig büßte die Moral an gesellschaftlicher Relevanz ein, weil sie Aufgaben an funktional bestimmte, symbolisch generalisierte Erfolgsmedien wie Macht, Geld und Recht abgab. Die (hierarchische) Kommunikation der Ehre wiederum erhielt Konkurrenz durch die (egalitäre) Kommunikation der Höflichkeit.
Das zweite Kapitel wechselt die Perspektive und verfolgt, systemtheoretisch ebenfalls konsequent, die Bildung sozialer Systeme. Im Mittelpunkt steht die These, dass der Übergang zu funktionaler sozialer Differenzierung mit Verschiebungen in der Systembildung selbst verbunden ist – dränge doch die Etablierung von Hierarchien in Systemen zur Stärkung der Sozialdimension gegenüber der Sachdimension.
Das aber heißt, dass es in diesem Kapitel vor allem um die Frage geht, was die Reproduktion der zweifachen Primärdifferenzierung der frühneuzeitlichen Gesellschaft für die unteren Ebenen der Systembildung bedeutet hat: etwa für interaktionsnahe Systeme wie die Familie oder für organisationsförmige Systeme wie die verwaltete Herrschaft oder die institutionalisierte Spiritualität – und keineswegs zuletzt für die funktionale Differenzierung von Recht und Wirtschaft.
Auffällig, so der Verfasser, ist dabei der hohe Grad lernender systemischer Anpassung an veränderte Welt- beziehungsweise Umweltbedingungen. Allerdings: Die gewaltsame Zerstörung von Herrschaftsstrukturen in der Französischen Revolution – als Reaktion auf die zunehmenden Spannungen zwischen hierarchischer Ordnung und funktionaler Umwelt – zog eine lang andauernde Anpassungskrise der Umsetzung veränderter Codes politischer Macht auf den unteren Ebenen der Systembildung nach sich. Es braucht vor diesem Hintergrund nicht hervorgehoben zu werden, dass der Verfasser sein „empirisches Material“ nicht einfach enzyklopädisch fragmentierend „ausbreitet“ – oder gar in Narrative scheinbarer Unmittelbarkeit überführt, sondern gewissermaßen systemtheoretisch „übersetzt“.
Wie auch immer wir uns Historiker vorstellen, die sich der Frühen Neuzeit verschrieben haben, eines führt die Lektüre der vorliegenden Monographie in aller Deutlichkeit vor Augen: Die europäische Gesellschaft war am Ende des achtzehnten Jahrhunderts von den Strukturen der Moderne geprägt. So groß die modernisierungstheoretische – und durchaus auch systemtheoretische – Skepsis auch sein mag: Eine historische Frühneuzeit-Forschung, die das ignoriert, wird „ihre Epoche“ verlieren. Und vielleicht nicht nur ihre Epoche. Der letzte Satz der Monographie, die den Rezensenten beschäftigt hat und beschäftigt wie wenige andere Bücher, lautet: „Die Zufälligkeit der Moderne bleibt sich aus ihrem Erbe und ihrer Dynamik heraus ein Problem, dem sich die Weltgesellschaft der Moderne zu stellen hat.“
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