aus FAZ.NET, 22. 11. 2025 Drohnen-Lightshow im chinesischen Chongqing zu öffentliche Angelegenheiten
Es wird immer notwendiger, China zu enträtseln. Dazu wird die bloße Anprange-rung der Autokratie nicht reichen. Einen anregenden Erkenntnisgewinn bietet ein in Frankreich kürzlich erschienener und viel beachteter Essay. In „Les Lois et les Nombres“ (Die Gesetze und die Zahlen) argumentiert der Sinologe und Philosoph Romain Graziani: Der Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart Chinas liegt in einer Revolution des Denkens, die sich vor zweieinhalb Jahrtausenden vollzog.
Graziani gelingt es, den üblichen Gegensatz zu überwinden zwischen Verfechtern einer angeblich radikal anderen (und daher nicht beurteilbaren) chinesischen Kultur und Kritikern, die das Reich der Mitte nach vermeintlich universellen westlichen Maßstäben bewerten wollen. Stattdessen beschreibt er kulturelle Triebkräfte, die sich teils widersprechen, teils ergänzen und im Laufe der Geschichte unterschied-liche Gewichtungen hatten. Zusätzlich zu klassischen Werken stützt sich seine Untersuchung auf einen Fundus kürzlich ausgegrabener Dokumente und Tabellen.
Gegenwärtig wird Archäologie von der Kommunistischen Partei Chinas kräftig gefördert, eben um eine tausendjährige Kontinuität über historische Wechselfälle hinaus zu behaupten. In seinen Reden verspricht Xi Jinping häufig, ein Projekt zu verwirklichen, das von antiken Denkern formuliert worden war: die Schaffung einer auf allumfassender algorithmischer Steuerung basierenden Ordnung.
Oft ist von einer Renaissance des Konfuzianismus die Rede. Graziani zufolge ist das nur die halbe Wahrheit. Konfuzianer glauben an eine moralische Verbesserung des Menschen, sie wollen die Untertanen sittlich erbauen und den Herrscher die Kunst des tugendhaften Regierens lehren. Ganz anders eine Denktradition, auf die von der Staatsführung zurückgegriffen wird. Ihre Vertreter werden Legisten genannt, wobei die Bezeichnung nicht täuschen darf: Ihnen sind Freiheitsrechte oder Gewaltenteilung absolut fremd. Anders als Konfuzianer sind die Legisten anthropologische Pessimisten. Korrupte oder inkompetente Herrscher und Bürokraten wird es ihrer Meinung nach immer geben. Darum müssen Instrumente entwickelt werden, die die Ordnung der Dinge automatisch regulieren, so wie mithilfe des Kreisels ein perfekter Kreis selbst vom schlechtesten Zeichner gebildet werden kann.
Obwohl ihr direktes politisches Wirken der kurzlebigen Qin-Dynastie (221–207 v. u. Z.) nicht überlebte, haben legistische Theoretiker und Berater eine Denkweise und entsprechende Machtinstrumente eingeführt, die niemals vollständig verschwunden sind. Hinter der prominenten Figur des Kaisers, des Vorsitzenden oder des Staatspräsidenten macht Graziani einen „Unpersönlichkeitskult“ aus, ein obsessives Streben nach Quantifizierung des Lebens und anonymer Herrschaft der Zahlen. In der neuen Geschichtsschreibung wird oft die Schuld am Niedergang des Reiches dem Einflussverlust legistischen Denkens zugeschrieben. Die gegenwärtige Vormachtstellung der Volksrepublik wiederum wird als kluge Anwendung legistischer Prinzipien verstanden, nun von technologischen Mitteln unterstützt.
Die chinesische Mathematik hat eine eigenständige Entwicklung durchlaufen, von ausländischen Einflüssen völlig abgetrennt. Das Motto „Alles ist Zahl“ teilt sie zwar mit den Pythagoreern, allerdings mit einer ganz anderen Vorstellung davon, was eine Zahl überhaupt ist. Chinesische Zahlen sind keine abstrakten Entitäten, die außerhalb der Erscheinungswelt existieren. Sie stehen immer im Verhältnis zu kosmischen, natürlichen und sozialen Dingen. Es begann mit alltagspraktischen Problemen, deren Lösung allgemeine Prinzipien erforderte. Mathematische Fortschritte gingen weitgehend mit den neuen Aufgaben einher, die der Staat zu bewältigen hatte. Als zur Zeit der kämpfenden Reiche die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wird, müssen eine Volkszählung durchgeführt und die Getreidevorräte erfasst werden.
Aus dieser Notwendigkeit wird die Statistik geboren, die bald von dem Militärstrategen Sunzi zum A und O der Kriegskunst erhoben wird. „Ob Chaos oder Ordnung, alles kommt auf die Zahlen an“, schreibt er. Ausgang eines Krieges hänge nicht von Tapferkeit oder Moral ab, sondern von der klugen Nutzung möglichst vieler Daten über Ressourcen, Truppenstärke, Logistik usw. Im optimalen Fall wird der Sieg gar ohne eine einzige Schlacht errungen.
Das, was sich im Krieg so vorteilhaft erweist, wird auf alle Bereiche des Regierens übertragen. Ab dem 4. Jh. v. u. Z. herrscht in China eine wahrhafte Statistikbesessenheit. Es wird buchstäblich alles erfasst und errechnet, was quantifizierbar ist. Die Zeit etwa, die ein Staatsbediensteter benötigt, um eine bestimmte Fußstrecke zurückzulegen. Oder das tägliche Erdvolumen, das ein Häftling ausheben kann. In entsprechenden Tabellen werden Alter, Geschlecht und Jahreszeit berücksichtigt. Aus Durchschnittswerten werden Normen festgelegt und folglich Abweichungen erkennbar. Das chinesische Wort für den damals entwickelten Algorithmus-Begriff wird aus fa (Gesetz) und suan (Kalkulation) zusammengesetzt. Somit wird deutlich, was von Legisten unter Gesetz verstanden wird: eine statistische Norm, deren Nichterfüllung unter Strafe steht. Je nachdem, wie verspätet der Staatsbedienstete ankommt oder wie unzureichend das Pensum des Häftlings ist, immer steht die entsprechende Bestrafung festgeschrieben.
Menschenfreundlich war dieses Gesetzesverständnis nicht, doch in gewisser Hinsicht konnte es für die Untertanen als vorteilhaft empfunden werden. Immerhin waren sie vor der Willkür lokaler Potentaten geschützt, die gegebenenfalls wegen Korruption oder Machtmissbrauch ebenso bestraft wurden. Zumindest theoretisch stand (außer dem Kaiser) niemand über dem Gesetz, jeder wusste genau, welches Strafmaß ihn erwartete und wie er sich konform zu verhalten hatte. Die Verletzung einer quantitativen Norm konnte so wenig angefochten werden wie die Bestimmung eines Gewichts durch den Zeiger einer Waage. So wurde der Eindruck vermittelt, jeder besetze im meritokratischen System die ihm gebührende Stelle.
Von der Kontinuität mit der Gegenwart gibt Graziani ein verblüffendes Beispiel. Hierzulande wird das Sozialkreditsystem in China als unerhörte Dystopie angesehen. Indes ist das Prinzip bereits im „Register der Verdienste und Verfehlungen“ enthalten, einer 1171 verfassten und bis Anfang des 20. Jahrhunderts sehr beliebten Moralfibel. Allabendlich führte ihr Besitzer Buch über seine guten und schlechten Taten und berechnete anhand einer detaillierten Tarifskala, wie viele Kreditpunkte er im Laufe des Tages gewonnen oder verloren hatte. Für jeweils hundert Almosenstücke erhielt er einen Punkt und verlor wiederum dreißig, wenn er gegen jemanden gelästert hatte und so weiter bis hin zu seiner Ernährungsweise. Die Kalkulation versprach nichts Geringeres als die „Meisterung des eigenen Schicksals“, sprich: ein gesundes, langes Leben sowie Erfolg in Aufnahmeprüfungen und in der Karriere. Auf diese Weise wurde die hierarchische Quantifizierung menschlicher Handlungen verinnerlicht und die äußere Kontrolle durch Selbstüberwachung und Selbstbestrafung ergänzt.
Allerdings konnte die Vision der Legisten niemals vollständig verwirklicht werden. Sie stieß immer wieder auf regionale Kompromisse, Betrügereien und passive wie aktive Widerstände der Bevölkerung. Ihr fehlte, so Graziani, „die Kraft des Ideals“. Also war und bleibt der Konfuzianismus unersetzlich, um auf der lokalen wie familiären Ebene eine subjektive Zustimmung zur bestehenden Ordnung zu fördern. So antagonistisch ihre Grundsätze sind, ohne einander können Konfuzianismus und Legismus nicht bestehen. Sie eint sowieso die Absicht, die Staatsmacht zu sichern. In „Les Lois et les Nombres“ wird überzeugend dargestellt, wie das Projekt eines Regierens auf Autopilot aufgrund der Annahme wiederaufgenommen wird, heute könne menschliches Versagen von digitalen Technologien überwunden werden – eine skurrile List der Geschichte: Vom gering geschätzten Westen erhielt China die technischen Mittel, um seine tausendjährige Vision zu realisieren.r
Zweifellos wohnt Verfahren wie Gesichtserkennung, Contact Tracing oder Plattform-Algorithmen eine „legistische Logik“ inne. Unwillkürlich fragt sich hier der Leser: Ist das Denken, das solche Techniken gebar, wirklich so anders als das chinesische? Freilich lassen sich, wenngleich viel später, entsprechende Denkrichtungen aus Europa finden, vom hobbesschen „Leviathan“ zur Kybernetik. Nur standen sie im widersprüchlichen Verhältnis zum zeitgleich entstandenen Individualismus. Der westliche Liberalismus hat die (legistisch kompatible) Vorstellung der unsichtbaren Hand hervorgebracht, die menschliche Egoismen automatisch austariert. Er hat aber zugleich Ideen wie freie Meinungsäußerung, Anfechtung der Autorität oder Schutz der Privatsphäre gefördert, die der politischen Kultur Chinas völlig fremd sind – und laut Xi Jinping die Quelle westlicher Dekadenz.
Es fragt sich also, ob die aktuelle Vormachtstellung Chinas nicht auch auf die Einbettung neuer Technologien in eine traditionelle Denkweise zurückzuführen sei. Es fragt sich allerdings auch, ob die schiere Effizienz der algorithmischen Governance die westliche Welt nicht allmählich sinisiert.
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