Wie werden wir in einigen Jahren leben? Viele Fachleute sind überzeugt, dass Künstliche Intelligenz unsere Gesellschaft bald stark verändern wird. Der auf KI spezialisierte Ethiker Peter G. Kirchschläger, der in der Schweiz an der Universität Luzern forscht, untersucht die Auswirkungen dieser datenbasierten Systeme (DS), wie er sie lieber nennt. Sein Vorschlag einer Institution der Vereinten Nationen, die nach dem Vorbild der Internationalen Atomenergie-Organisation der Uno die Gefahren von datenbasierten Systemen managen soll, fand starke Unterstützer, darunter Uno-Generalsekretär António Guterres, den verstorbenen Papst Franziskus oder den Dalai Lama.

In seinem neuen Buch Ethics and the Digital Transformation of Human Work beleuchtet Kirchschläger die Auswirkungen der Revolution auf die Beschäftigung von Menschen, und wieder hat er prominente Fürsprecher, darunter Christine Lagarde, die Chefin der Europäischen Zentralbank. Er glaubt, dass bereits jetzt radikal gegengesteuert werden muss, wie er dem STANDARD erzählt.

STANDARD: Viele gehen davon aus, dass datenbasierte Systeme eine neue Industrielle Revolution auslösen. Sie könnte gar zehnmal größer und schneller sein als die letzte, wenn man Nobelpreisträger Demis Hassabis glaubt. Andere glauben eher an eine Blase. Wie groß können die Umwälzungen ihrer Ansicht nach sein?

Kirchschläger: Rein von den technischen Möglichkeiten und dem Potenzial, das in datenbasierten Systemen steckt, würde ich schon von enormen Umwälzungen ausgehen, die sich auch ganz spezifisch von früheren technologiebasierten Wandelepochen unterscheiden. Weil sie auch unser Privatleben transformieren und da sie viel stärker auf die Art und Weise, wie wir nachdenken und das, was wir kreativ tun, Einfluss nehmen. Ein weiteres wesentliches Unterscheidungsmerkmal ist das Tempo der Entwicklung. Es gibt explosionsartige Technologiesprünge, auf die sich einzelne Menschen, aber auch Gesellschaften nicht einstellen können.

 

 

STANDARD: Wie wird sich das Ihrer Meinung nach auf das Arbeitsleben der Menschen auswirken?

Kirchschläger: Ich würde argumentieren, dass es zu einer massiven Reduktion beruflicher Aufgaben kommen wird.

STANDARD: Sie sprechen also von einer Reduktion der Jobs insgesamt, nicht dem Aussterben bestimmter Sparten. Diese Angst gab es schon in der Vergangenheit, aber die befürchtete Massenarbeitslosigkeit ist nicht eingetreten. Sollte man nicht daraus lernen und optimistischer sein?

Kirchschläger: Ich warne davor, diesen Denkfehler zu machen. Es ist richtig: Auch bei früheren Wandelepochen gab es diese Sorge, passiert ist dann aber das Gegenteil. Aber sind wir uns sicher, dass es auch dieses Mal gleich abläuft wie früher, oder kann es nicht sein, dass sich diese technologiebasierte Wandelepoche von den früheren unterscheidet? Ich habe in meinem Buch 30 wesentliche Unterscheidungsmerkmale identifiziert.

STANDARD: Welche Unterschiede sehen Sie?

Kirchschläger: Aktuell ist die Zielsetzung von datenbasierten Systemen ganz klar der Ersatz und nicht die Erleichterung von Arbeit. Es geht darum, bezahlte berufliche Aufgaben durch datenbasierte Systeme erfüllen zu lassen, um Kosten zu sparen. Ein Beispiel, wo wir das bereits im Alltag erleben, sind automatisierte Kassensysteme. Dort geht es nicht darum, die Arbeit von Kassiererinnen und Kassierern angenehmer zu gestalten oder zu erleichtern, sondern sie zu ersetzen. Das zweite wesentliche Merkmal ist, dass es dieses Mal alle beruflichen Aufgaben betrifft und nicht mehr nur jene, die wenige oder keine beruflichen Qualifikationen voraussetzen, wie das früher war.

STANDARD: Sprechen Sie hier wirklich von allen beruflichen Aufgaben? Handwerkliche Tätigkeiten scheinen aktuell weniger betroffen zu sein.

Kirchschläger: Auch der Kontext, in dem sich eine handwerkliche Tätigkeit entfaltet, lässt sich anhand von Daten abbilden. Wir können gewisse Regeln festlegen, die ein System entsprechend trainieren kann. Und Roboter können schon heute alle möglichen Bewegungen lernen. Wichtig ist mir dabei zu betonen, dass das nicht immer in gleicher Qualität erfolgen muss im Vergleich zu einem Menschen. Wenn es etwa um emotionale und soziale Intelligenz geht, also alles, was mit zwischenmenschlicher Interaktion zu tun hat, wird es Abstriche geben. Der entscheidende Punkt ist nur, ob noch jemand bereit ist, für diese Qualitätsdifferenz einen höheren Preis zu bezahlen.

STANDARD: Früher sorgte das höhere Wirtschaftswachstum in Summe für mehr Jobs, obwohl bestimmte Jobs ausstarben.

Kirchschläger: Der entscheidende Punkt ist meiner Meinung nach, dass diesmal Wachstum ohne Steigerung von menschlicher Arbeit möglich ist. Also eine effizientere und effektivere Wertschöpfungskette, die schlussendlich ein Mehr an Ressourcen erwirtschaftet, aber mit viel weniger Menschen, die daran teilnehmen und daran teilhaben.

STANDARD: Weniger arbeiten zu müssen kann im Prinzip auch etwas Positives sein. Warum ist das hier ein Problem?

Kirchschläger: Wenn wir alle, Sie und ich, weniger oder gar nicht mehr arbeiten müssen, muss es nicht von Anfang an eine ethisch schlechte Nachricht sein. Ethisch problematisch wird es dann, wenn Menschen sich kein menschenwürdiges Dasein mehr leisten können. Das Resultat der Wertschöpfung dieses Wachstums wird in nur ganz wenigen Händen landen. Und das ist eine potenzielle Quelle für sozialen Unfrieden.

STANDARD: Was wäre Ihrer Ansicht nach also zu tun?

Kirchschläger: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir unsere Gesellschaft und unser wirtschaftliches System umgestalten können, sodass wir noch ein menschenwürdiges Dasein und eine nachhaltige Zukunft ermöglichen können. Ich würde da mit einem ganz konkreten Vorschlag ansetzen, dem sogenannten SERT-Modell. SERT steht für Society-, Entrepreneurship-, Research-Time-Modell (Gesellschafts-Unternehmertum-Forschungs-Zeit-Modell). Dahinter steht die Idee eines bedingten Grundeinkommens. Die Entkopplung zwischen Einkommen und Arbeit wird nötig, weil es nicht mehr genügend bezahlte Arbeit für Menschen geben wird, um sich ein menschenwürdiges Dasein leisten zu können.

Ein weißer ABB-Industrieroboterarm befindet sich in einem modernen, automatisierten Logistikzentrum mit gelben und schwarzen Strukturelementen. Im Hintergrund sind zahlreiche Regale, Kabel und Beschilderungen zu sehen, die das industrielle Arbeitsumfeld in einem Amazon-Entwicklungszentrum in Vercelli, Italien, zeigen.
Ein Roboter im European Operations Innovation Lab des IT-Riesen Amazon, das sich im italienischen Vercelli befindet. Bisher dienten Maschinen hauptsächlich zur Unterstützung von Menschen. Laut Ethiker Kirchschläger könnte der Mensch diesmal aber komplett ersetzt werden.

STANDARD: Welche Bedingungen sind an den Bezug dieses Einkommens geknüpft?

Kirchschläger: Es soll einen Gesellschaftsdienst geben, wo ich in einem frei und selbstbestimmt gewählten Bereich einen Beitrag zur Gesamtgesellschaft zu leisten habe. Das Modell orientiert sich am schweizerischen Zivildienst. Ich kann also frei wählen, ob ich mit Kindern und Jugendlichen etwas unternehmen, mich um ältere Personen kümmern oder etwa auf einem Bergbauernhof helfen will. Wer sich unternehmerisch engagiert oder in Forschung und Innovation aktiv ist, kann von diesem Dienst zum Teil befreit werden.

STANDARD: Warum bedingt und nicht unbedingt, wie es in der Politik teils diskutiert wird?

Kirchschläger: Der Ausgangspunkt ist durchaus eine kritische Auseinandersetzung mit dem bedingungslosen Grundeinkommen, das wichtige Funktionen von bezahlter Arbeit, wie zum Beispiel Sinn- und Identitätsstiftung oder soziale Integration, nicht adressiert.

STANDARD: Was bedeutet das für die Ausbildung von jungen Menschen, wenn sie womöglich keine Jobs mehr ausüben müssen?

Kirchschläger: Wir müssen uns ansehen, was die Alleinstellungsmerkmale von uns Menschen sind. Bei allem, was mit Mathematik und Programmierung zu tun hat, dem Umgang mit großen Datenmengen oder logischem Ableiten, da sind uns Maschinen bereits massiv überlegen. Das wird in Zukunft noch explosionsartig zunehmen, und zwar wahrscheinlich eher in den nächsten Monaten als in den nächsten Jahren. Es gibt aber Intelligenzbereiche, wo Menschen etwas tun können, was Maschinen nicht können, zum Beispiel in den Bereichen der emotionalen und sozialen Intelligenz und der zwischenmenschlichen Interaktion. Ethisches Entscheiden, Moralfähigkeit, Selbstbestimmung sind Dinge, die Maschinen nicht können. Und wir sollten, wie ich argumentieren würde, in Bildung und Ausbildung den Schwerpunkt auf diese Bereiche setzen, wo Maschinen nicht hinkommen. Also Philosophie, Ethik, kritisches Denken, musische Fähigkeiten, allgemeine Kreativität, aber auch Umgang mit Unsicherheit.

STANDARD: Sie würden auf Mathematikunterricht verzichten?

Kirchschläger: Ich sage nicht, dass wir keine Mathematik mehr machen sollen. Natürlich sollten wir das tun, weil es unser Denken schult und wir uns damit persönlich weiterentwickeln können. Aber wir sollten im Blick haben, dass es künftig kein Alleinstellungsmerkmal von Menschen mehr sein wird.

Ein sozialer Roboter namens Navel von Navel Robotics, ausgestattet mit künstlicher Intelligenz, trägt eine blaue Mütze und ein orangefarbenes Accessoire, aufgenommen während des AI for Good Global Summit im Palexpo in Genf, Schweiz. Im Hintergrund sind unscharfe Besucher und Veranstaltungsdetails zu sehen.
Bislang waren soziale Roboter eher kaum ernstzunehmende Spielerei. Auch das könnte sich schnell ändern.

STANDARD: Aber müssten Menschen nicht umgekehrt mehr mathematische und technische Fähigkeiten lernen, um im Wettbewerb gegen datenbasierte Systeme bestehen zu können?

Kirchschläger: In spezifischen technischen Fertigkeiten haben wir in der Gegenwart schon keine Chance mehr im Wettbewerb mit Maschinen, und es gibt keinen Grund, warum wir diesen Rückstand in Zukunft aufholen oder Maschinen sogar wieder überholen sollten. Wir sollten also auf Intelligenzbereiche setzen, wo sich Menschen nicht nur heute, sondern auch in Zukunft von Maschinen unterscheiden werden. Das bedeutet nicht, dass man die Nutzung neuer Medien und technologischer Möglichkeiten oder den kritischen Umgang mit datenbasierten Systemen nicht in der Schule oder in Bildungsprozessen thematisieren soll. Ich würde gleichzeitig vorschlagen, dass man die Schule als bildschirmfreie Oase organisieren sollte.

STANDARD: Wie lange haben wir Ihrer Ansicht nach Zeit, diese Veränderungen umzusetzen?

Kirchschläger: Wir sollten jetzt damit beginnen. Wenn man es etwa aus der Perspektive eines Kindes betrachtet, das jetzt in die erste Klasse geht, wird sich die Arbeitswelt nach neun Jahren Pflichtschule schon massiv verändert haben. Ich gehe davon aus, dass 50 bis 70 Prozent der Kinder in einer solchen Schulklasse nie in ihrem Leben eine berufliche Tätigkeit wahrnehmen können. Diese Entwicklung zeichnet sich ab. Da gibt es dringenden Handlungsbedarf und wir sollten da nicht länger zuwarten.