
aus FAZ.NET, 23.11.2025 Aelbert Cuyp,Händler der niederländischen East India Company zu öffentliche Angelegenheiten
Sven Beckert erzählt die Gewaltgeschichte des Kapitalismus
Raub, Sklaverei, Krieg – so eroberte der Kapitalismus die ganze Welt
Der
Historiker Sven Beckert erzählt die tausendjährige Geschichte des
Kapitalismus: Zwang und Gewalt seien bis heute übliche Methoden der
Bereicherung. Am Ende prophezeit er eine Dystopie
Von
Es ist allerdings bedauerlich, dass Beckert beide Konkurrenten und wichtige Positionen der aktuellen Forschung ausblendet und damit auch seine Kritik dem Leser vorenthält. Gerade der Dialog mit Lenger wäre für den Leser aufschlussreich gewesen, denn beide Werke brechen mit dem Eurozentrismus und rücken die ökologischen Folgen des modernen Kapitalismus in den Blick.
Der Aufstieg zur global dominanten Wirtschaftsweise
Wie Friedrich Lenger steht auch Sven Beckert eindeutig auf der Seite der Kritiker des Kapitalismus. Noch schärfer als dieser relativiert er die globalen Wohlstandsge-winne, die mit der weltweiten Durchsetzung dieses Wirtschaftsmodells verbunden sind. Doch der in Harvard lehrende Historiker hat keine bloße Abrechnung ge-schrieben: Er erzählt die lange, nach seiner Einschätzung inzwischen tausendjährige Geschichte der sich allmählich steigernden Wachstumsdynamik global vernetzten Kapitals. Diese Wirtschaftsform hat spätestens seit dem späten achtzehnten Jahr-hundert ihre frühere insulare Sonderexistenz am Rande und in den Nischen ganz anders strukturierter Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen gesprengt und sich in revolutionären Umbrüchen zur global dominanten Wirtschaftsweise entwickelt.

Die Öffnung der ehemals staatssozialistischen Länder für den globalen Kapitalismus seit den 1980er-Jahren stellt damit den Höhe- und Zielpunkt jener „Weltrevolution“ dar, der Sven Beckert sein Buch widmet. Es endet eigentlich mit der Finanzkrise im Jahr 2008, wirft aber in einem Epilog noch einen Blick auf deren zerstörerische Folgen und die jüngsten Fluchtphantasien libertärer Kapitaleigner. Diese Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus stoppt kurz vor der antizipierbaren Dystopie einer globalen Zerstörung von Umwelt und Gesellschaft.
Mit Marx und Engels teilt Beckert die Faszination für die unerhörte Dynamik der kapitalistischen Wirtschaftsweise, und wie sie hat sich Beckert das Ziel gesetzt, die enorme soziale Zerstörungskraft des Kapitalismus offenzulegen. Aber anders als für Marx und Engels sind Krieg und staatliche Unterdrückung für Beckert nicht bloß Begleiterscheinungen einer vermeintlich „ursprünglichen Akkumulation“, deren Schrecken und Strukturen mit dem Industriekapitalismus und der freien Lohnarbeit überwunden worden seien. Raub, Sklaverei beziehungsweise Arbeitszwang und Monopole, so Beckert, sind bis heute genutzte Methoden, um Kapital zu erwerben und zu vermehren. Entsprechend große Bedeutung kommt im Buch dem „Kriegskapitalismus“ zu, der zwischen 1450 und 1850 die dominierende Weise darstellte, in der die kapitalistische Weltrevolution vonstattenging.
Die Verschränkung von Staatsmacht und Kapitalinteressen ist in diesem Buch auch einer der wichtigsten Faktoren für den Erfolg des zunächst transatlantischen, später dann globalen Kapitalismus. Ihre ruhelose und ruinöse Konkurrenz machte die europäischen Staaten seit dem späten Mittelalter zu Handlangern und Bündnispartnern von Kapitaleignern, die den Sprung von ihren Inseln des Fernhandelskapitalismus schafften, zu Hauptfinanziers der europäischen Monarchien aufstiegen und so von deren globaler Expansion profitierten.
Diese wechselseitige Abhängigkeit hat sich für Beckert zu einem dauerhaften Strukturelement des modernen Kapitalismus entwickelt. Dies erklärt auch, warum strikt marktökonomische Deutungsansätze in diesem Buch nur eine Nebenrolle spielen – etwa als zeittypische Legitimationsfiguren kapitalistischer Verhältnisse oder schlimmstenfalls als Blaupausen für die Durchsetzung neuer politökonomischer Arrangements.
Immer wieder greift Beckert im Laufe des Buches auf Fernand Braudels Trilogie zur globalen Wirtschaftsgeschichte der frühen Moderne zurück. Wie Braudel deutet Beckert den Kapitalismus als eine Dynamik von Monopolbildung und macht- beziehungsweise raumgestützter Organisation von Handel und Produktion. Vor allem übernimmt Beckert jedoch von Braudel seine Darstellungsweise: die Auswahl exemplarischer Geschichten von Orten und Akteuren des Kapitalismus rund um den Globus und über den Zeitraum von tausend Jahren hinweg. Sie werden verbunden durch die Darstellung übergreifender Zusammenhänge im Licht neuerer Forschungsergebnisse.
So entsteht eine Kette anschaulicher Schilderungen lokaler Erscheinungsformen des Kapitalismus. Zugleich wirken diese Lokalgeschichten wie Reiseberichte von den Hotspots kapitalistischer Dynamik. Dieses Erzählmuster eignet sich besonders gut für die ersten knapp achthundert Jahre von Beckerts Großerzählung, von 1100 bis 1870. Diesem langen Zeitraum widmet er gut die Hälfte seiner Darstellung.
Es geht dabei immer wieder um Inseln im wörtlichen wie im übertragenen Sinne und um Netzwerke zwischen weit entfernten Orten und Akteuren: Von Aden aus reist der Leser durch die frühe Welt des Fernhandelskapitalismus entlang der See- und Landwege zwischen Mittelmeer und Chinesischem Meer, zwischen dem subsaharischen Afrika und den nördlichen Randzonen Eurasiens. Die weiteren Kapitel bringen den Leser zu den wichtigsten Orten des frühneuzeitlichen Kapitalismus: den Zentren des kolonialen europäischen Fernhandelsnetzes oder zu den karibischen Inseln als Schreckensorte der neuartigen atlantischen Plantagenproduktion. Diese erste Weltrevolution kulminiert für Beckert im „großen Sturm“, der in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die Anhäufung verwertbaren Kapitals in den nordatlantischen Regionen auf eine neue Stufe hob.
Im zweiten Teil seines Buches folgt Beckert dem Aufstieg des Industriekapitalismus bis zur Gegenwart. Auch hier bleibt er seinem Programm treu, neben dessen nordatlantischen Zentren die Spuren des Siegeszugs dieser Produktionsweise rund um den Globus in den Mittelpunkt zu rücken. Dem Autor ist es ein zentrales Anliegen, die These von der notwendigen Verbindung von freier Lohnarbeit und Kapitalismus zu widerlegen und die Rolle des kolonialen Kapitalismus bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein in den Vordergrund treten zu lassen. Er widmet sich den vielen Formen, in denen sich das Kapital jene Arbeitskraft aneignete, der es so dringend bedurfte. Neben den rechtlichen Formen griffen die Unternehmer auch gewaltsam in die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, die Organisation der Arbeitsabläufe und die Lebensweise ihrer Arbeiter ein.
Den Verwertungsinteressen des Kapitals setzten in Beckerts Erzählung zwischen 1870 und 1973 vor allem zwei Kollektivakteure Grenzen: Zum einen konstituierte sich die Arbeiterklasse als organisierte Gegenmacht, um sich den Ansprüchen und Ausbeutungsinteressen der Kapitalbesitzer zu widersetzen. Zum anderen kam der Nationalstaat ins Spiel. Er befreit sich aus dem direkten Zugriff einzelner Kapitalisten, um entweder als ideeller Gesamtkapitalist der kapitalistischen Produktionsweise den Weg zu bereiten oder, bei wachsendem Einfluss der Arbeiterklasse, den Kapitalismus zu zähmen und sozialstaatlich einzuhegen. Beide Gegenkräfte verloren seit 1973 an Macht, weswegen sich der Schlussteil („Die Zukunft des Kapitalismus?“) auf die Umbrüche der neoliberalen Globalisierung konzentriert. Sie eröffnet das jüngste Zeitalter eines nunmehr weltweit herrschenden Industriekapitalismus und markiert zugleich den Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren im globalen Süden, vor allem in China.
Am Ende dieses großen Geschichtswerks verkündet Beckert prophetisch das Ende des Kapitalismus – allerdings ohne sich auf konkretere Zukunftsvorstellungen einzulassen. Das hat auch damit zu tun, dass der Historiker zwar in der inzwischen globalen Klasse der Lohnarbeiter die potentiell stärkste Gegenmacht sieht, deren Rebellionen und Reformen bislang allein die selbstzerstörerische Dynamik des Kapitalismus aufgehalten haben. Gleichzeitig konstatiert er aber mit Schrecken, dass inzwischen der globale Kapitalismus eine weltbeherrschende Kommodifizierung von Waren, Menschen und Umwelt herbeigeführt hat, die sich jeder Veränderung zu entziehen scheint. Für ihn steht dessen sture Akkumulationsdynamik in enger Verbindung mit einer chamäleonhaften Anpassungsfähigkeit an wechselnde geographische, gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen.
Beckerts Buch erzählt eine weltumspannende Entwicklungsgeschichte, die lediglich eine Gesetzmäßigkeit kennt, nämlich die des unaufhaltsamen Zwangs zur Kapitalvermehrung. Die zahlreichen Beispiele und detailgenauen Schilderungen sind überzeugend. Und dennoch lässt das Buch den Leser skeptisch zurück, vor allem aufgrund der Weigerung, sich jenseits der großen Erzählung von der allseitigen Entfaltung des Kapitalismus auf die Suche nach epochenspezifischen Regelmäßigkeiten oder Prozesslogiken einzulassen oder nach strukturellen Grenzen dieser Wirtschaftsweise zu fragen. Je näher die Darstellung der Gegenwart rückt, desto mehr vermisst man eine Auseinandersetzung mit Forschungsansätzen, die in der Lage wären, die Erklärungslücke zwischen den zahlreichen Lokalgeschichten und dem globalen Trend zu schließen.
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