Sonntag, 30. November 2025

Ganz richtig im Kopf ist doch keiner.

  Alfred Neumann                                  aus Jochen Ebmeiers Realien

Dass jeder Mensch ein bisschen anders ist, dass die Grenzen des Normalen ein wenig fließen, dass Genie und Wahnsinn bei einander liegen - das sind alles All-tagstrivialitäten, die niemand bestreitet, weil sonst das tägliche Zusammenleben äußerst strapaziös wäre.

Doch muss man sich klarmachen: Das gilt nicht nur für das Ungefähr unserer alltäglichen Begegnungen, sondern in einem strengen Sinn.

Nicht alle Lebern sind gleich, nicht alle Herzen, nicht alle Schilddrüsen, nicht alle Blinddärme. Aber alle von ihnen - nein, der letzte
nicht - haben im Organismus eine bestimmte Funktion, und wenn sie die in auffälliger Weise nicht erfüllen, sind sie krank.

Für unser Gehirn - so, wie es heute ist, unsere stammesgeschichtlich jüngste Erwer-bung - gilt das nicht. Welche genau die Funktionen sind, die es zu erfüllen hätte, kann kein Anatom, kein Neurologe, kein Hirnforscher und kein Irrenarzt uns sagen; denn ab wann ein Organismus nicht mehr funktionsfähig ist, ist bei uns längst nicht mehr eine biologische, sondern eine soziokulturelle Frage; und im äußersten Falle eine technologische. Was bei uns irre, was genial und was stinknor-mal ist, ist vielfältig historisch bedingt - auch das ist in dieser Abstraktheit eine Tri-vialität, doch mit den Trivialitäten ist es, wie Friedrich Schlegel einmal bemerkte, so, dass man gerade die Binsenwahrheiten immer wieder mal aussprechen muss, damit nicht in Vergessenheit gerät, dass sie doch Wahrheiten sind.
26. 12. 16

Samstag, 29. November 2025

Psychiatrische Diagnostik anhand von Symptomen...


aus Tagesspiegel, 28. 11. 2025                                                                                zu Jochen Ebmeiers Realien

Bisher werden nur Symptome berücksichtigt:  
Liegt die Diagnostik psychischer Probleme daneben?
Psychische Störungen werden ähnlich wie körperliche Erkrankungen nach der Art und Schwere von Beschwerden unterschieden. Doch dieses System sei falsch, unpräzise und ungerecht, warnen Experten.
 
 
Geht man zum Hausarzt, Urologen, Orthopäden …, dann erwarten die meisten zwei Dinge: eine Diagnose, was man hat, und eine Behandlung, die dagegen hilft. Die Diagnose beruht dann auf organischen Ursachen, wie Schmerzen in der Brust, oder Biomarkern, zum Beispiel bestimmten Blutwerten.

Nach dem gleichen Prinzip verfahren auch Psychologen oder Psychiater. Sie geben der Störung einen Namen, der auf der Art und Schwere der Symptome beruht, und schlagen eine dazu passende Therapie vor. Doch diese aus der Somatik – also von körperlichen Erkrankungen – in die Psychologie übernommene Abgrenzung von gesund zu krank ist in die Kritik geraten.

Die Aufteilung in einzelne Krankheitsbilder sei für die Psychologie zu simpel gedacht

„Die aktuellen Diagnosesysteme suggerieren, dass psychische Störungen klar voneinander abgrenzbare Krankheiten sind – analog zu körperlichen Erkrankungen“, sagt Johannes Zimmermann, Professor für Differentielle und Persönlichkeitspsychologie am Institut für Psychologie der Universität Kassel. Dieses Modell sei jedoch in vielen Fällen irreführend. „Während sich bei einer körperlichen Erkrankung die Diagnose in der Regel auf die gemeinsame Ursache der Symptome bezieht – zum Beispiel bei einem Tumor –, fassen psychische Diagnosen lediglich problematische Erlebens- und Verhaltensweisen deskriptiv zusammen“, sagt Zimmermann.

Die symptombasierten Diagnosen psychischer Erkrankungen lassen sich nicht mit der geforderten Eindeutigkeit mit biologischen Befunden in Verbindung bringen. Tanja Brückl, Psychologin

Auch Tanja Brückl, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department Genes & Environment am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München kritisiert den Ansatz, ausschließlich Symptome – wie Gefühle von Traurigkeit oder Angstanfälle – als leitendes Merkmal für die Klassifikation psychischer Störungen zu verwenden. „Die daraus resultierenden symptombasierten Krankheitskategorien – zum Beispiel eine ,Depression‘ oder ,Panikstörung‘ – spiegeln sich nicht eins zu eins in biologischen Merkmalen wider“, sagt Brückl. „Das heißt, die symptombasierten Diagnosen psychischer Erkrankungen lassen sich nicht mit der für einen diagnostischen Test geforderten Eindeutigkeit mit biologischen Befunden in Verbindung bringen.“

In der Psychiatrie lässt sich die Grenze zwischen „gesund“ und „krank“ nicht so klar definieren

Angststörung, Depression, ADHS, Essstörungen – das alles klingt nach Krankheiten der Psyche, ähnlich den klar gegeneinander abgrenzbaren Krankheiten des Körpers, wie Krebs, Herzinfarkt, Arthrose oder Infektionen. Doch diese beiden Welten der medizinischen Versorgung lassen sich nicht so einfach zusammenführen. Als man vor 40 Jahren in der Psychiatrie ein Diagnosesystem einführte, das auf Symptomen psychischer Störungen basierte, habe man gehofft, „damit auch die ihnen zugrunde liegenden biologischen Mechanismen aufzudecken“, sagt Tanja Brückl. „Die biologische Forschung hat gezeigt, dass diese symptombasierten diagnostischen Kriterien zwar mittlerweile gut messbar sind, aber leider – anders als erhofft – keine biologische Gültigkeit besitzen.“

Deshalb lassen sich in der Psychiatrie die Grenzen zwischen „gesund“ und „krank“ nicht so klar definieren, wie in der somatischen Medizin. Denn solche zur Diagnose psychischer Erkrankungen wichtigen Symptome wie Erschöpfung, gedrückte Stimmung oder Antriebslosigkeit sind Erfahrungen, die wohl fast jeder irgendwann mal im Alltag durchmacht. Ist das dann schon eine Krankheit oder eine vorübergehende Stimmung?

Die verwendeten diagnostischen Schwellenwerte sind oft willkürlich gesetzt, sodass Menschen mit hohem Leidensdruck, die knapp unter der Schwelle liegen, durch das Raster fallen. Johannes Zimmermann, Psychologe

Um sich zu behelfen, haben Psychologen und Psychiater Handreichungen entwickelt, mit denen sich anhand der Stärke und der Dauer solcher Beschwerden eine Diagnose stellen lässt. Steht der Befund, ist es damit dann möglich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und diese Leistungen gegenüber den Krankenkassen abzurechnen. Doch das System hat einen gewaltigen Haken: „Die verwendeten diagnostischen Schwellenwerte sind oft willkürlich gesetzt, sodass Menschen mit hohem Leidensdruck, die knapp unter der Schwelle liegen, durch das Raster fallen“, sagt Psychologie-Professor Johannes Zimmermann.

Trotzdem wird an den traditionellen Systemen festgehalten, sagt Grundlagenforscherin Brückl. Weil „wir bis heute im Dunkeln tappen, was eindeutige, biologisch messbare Ursachen für psychische Störungen betrifft und wir auch sonst keine verlässlichen Biomarker haben, die eine Einteilung psychischer Störungen jenseits von Symptomen zuließen.“

Die Mehrheit der psychisch kranken Menschen erhält mindestens zwei Diagnosen

Und weil sich die Abgrenzung der einzelnen psychischen Erkrankungen als so schwierig erweist, diagnostizierten die Ärzte oft weitere Störungen bei ihren Patienten. Die Mehrheit der Patientinnen und Patienten mit psychischen Erkrankungen erhält mindestens zwei Diagnosen, wie Studien zeigen. Was die Frage aufwirft, ob dann tatsächlich unterschiedliche Störungsbilder vorliegen oder ob die diagnostischen Kategorien die klinische Realität unzureichend abbilden.

Die Behandlungsansätze sind jedoch überwiegend auf einzelne Diagnosen zugeschnitten. Viele Symptome – etwa depressive Verstimmungen – treten nicht nur bei einer schweren Depression, sondern beispielsweise auch bei einer Bipolaren Störung oder Schizophrenie auf. Doch trotz der Überlappungen werden diese Erkrankungen unterschiedlich behandelt.

Deshalb diskutieren Expertinnen und Experten, ob das traditionelle System der Diagnosestellung umgekrempelt werden sollte. Zumal durch die reine Betrachtung der Symptome wichtige Einflussfaktoren bei der Diagnostik außen vor bleiben. Studien zeigen, dass verschiedene biologische, psychologische und Umweltfaktoren – etwa genetische Einflüsse, strukturelle Veränderungen des Gehirns oder belastende Lebenserfahrungen – eine zentrale Rolle bei der Entstehung und dem Verlauf psychischer Erkrankungen spielen.

Andere Systeme würden die Diagnostik psychischer Probleme präziser machen, sagen Experten

Mittlerweile gibt es einige alternative Ansätze, die die Realität psychischer Störungen besser abbilden sollen. Dazu zählen die „Research Domain Criteria“ (RDoC) und die „Hierarchical Taxonomy of Psychopathology“ (HiTOP). Diese Modelle betrachten psychische Erkrankungen über die bisherigen Diagnosegrenzen hinweg. Während RDoC psychische Störungen ausgehend von zugrundeliegenden neurobiologischen und psychologischen Prozessen erklärt, konzentriert sich HiTOP darauf, die vorhandenen Symptome bei einem Menschen in immer detaillierter beschriebenen Gruppen zusammenzufassen und sich dadurch der Frage zu nähern, ob ein psychisches Problem besteht.

„HiTOP zeigt detailliert, welche Beschwerden typischerweise gemeinsam auftreten – zum Beispiel, dass eine depressive Stimmung häufig mit Antriebsarmut verbunden ist – und ordnet diese Zusammenhänge in eine hierarchische Struktur psychischer Syndrome ein“, erklärt Andreas Meyer-Lindenberg. Er ist Direktor des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim.

Eine Umstellung auf dimensionale Modelle wie HiTOP würde die Diagnostik präziser und informativer machen, sagt auch der Kasseler Psychologe Johannes Zimmermann. „Statt einer pauschalen Etikettierung (,hat Depression‘) entstünde ein nuanciertes Profil der Schweregrade und Problembereiche eines Patienten.“ Studien zeigten, dass solche mehrdimensionalen Maße den langfristigen Verlauf, die funktionale Beeinträchtigung und das Suizidrisiko deutlich besser vorhersagen als ja-nein-Diagnosen.

„Für Betroffene wirkt dieser Ansatz entstigmatisierend, da er verdeutlicht, dass psychische Probleme meist extreme Ausprägungen normaler menschlicher Eigenschaften sind und nicht Ausdruck einer ,Andersartigkeit‘“, sagt Zimmermann. Das Gesundheitssystem könnte von einer effizienteren Ressourcensteuerung profitieren, indem Versorgungsangebote – wie Prävention versus stationäre Therapie – passgenau an den tatsächlichen Schweregrad gekoppelt werden. 

 

Nota. - "Die Diagnosenliste der WHO ist ja bloß für psychiatrische Kliniken da!" Allerdings, und so muss es auch sein. Dort werden sie schließlich am dringendsten benötigt. Und außerdem am häufigsten: Wird ein Patient in die psychisatrische Kli-nik überwiesen, muss er dort von der ersten Sekunde an behandelt werden: in eine Abteilung überwiesen und mit Medikamenten versorgt werden. Das muss nicht - und kann gar nicht - ganz richtig sein, man wird es im Lauf der Behandlung korri-gieren können. Es muss nur so wenig falsch wie möglich sein: Die Fehler, die am Anfang unterlaufen, könnten schwerer wiegen als alle späteren.

Ich war gut drei Jahre lang in einem parapsychiatrischen Kinderheim als Sozialpäd-agoge beschäftigt. Der unverhohlen - wenn auch nicht in administrativen Schreiben - erklärte Zweck der Einrichtung war, Kinder vor einer Einweisung in die Psychia-trie zu bewahren.

Zuvor hatte ich ein Mädchen kennengelernt, das unmittelbar nach der Geburt mit seiner schizophrenen Mutter in die Klinik kam. Als sie glücklich sieben Jahre alt ge-worden war, fragte sich dort ein Psychiater, zu welchem Zweck sie denn dort war - und fand heraus: zu keinem.

Eine Eingangsdiagnose hätte vermutlich dasselbe ergeben. Ihr Hospitalschaden war zum Glück erst ein kleiner. Aber er hätte irreversibel sein können. Und so wird es immer sein: In die Psychiatrie kommt man leicht rein und schwer wieder raus.

Das Problem entsteht nur, weil eine Eingangsvermutung wie eine (Erst-) Diagno-se behandelt wird und im klinischen Alltag kaum noch reflektiert wird. Gr. dia-gnosis heißt Hindurch-Wissen, und eben nicht: die Oberfläche beschreiben.

An meinem Arbeitsplatz gab es eine Reihe ganz unkritischer Routiniers. Aber da-neben gottlob etliche 'antipsychiatrisch' Gestimmte. Die waren feind jeglicher Diagnostik, und es war gut, wenn sie den Dossiers, die bei uns ankamen, mit aller Skepsis begegneten. 

Die Pointe war aber: Sie glaubten dennoch, die Kinder, die bei uns strandeten, einer spezifisch individuellen Behandlung unterziehen zu sollen. Doch dann hätten sie sehr wohl einer Eingangshypothese bedurft! Und so waren sie denn gerade von unseren Anti Psychiatern enttäuscht. 

Dabei hat ein Heimaufenthalt, wenn irgend er therapeutisch ein soll, nur systemisch einen Sinn. Wenn er die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt, mag eine Art Diagnostik unumgänglich werden; aber die hätte reichlich Material zur Verfügung, um sich nicht auf die Symptomatik verlassen zu müssen.

Übrig bleibt in jedem Fall das, was eine psychische Symptomatik immer und ewig von eine somatische unterscheidet: Die Schwere des Leidens wird sich nicht quantitativ beschreiben und folglich messen lassen. Ersatzweise wird zumeist die Reaktion der Umwelt herangezogen: Ob eine Beschwernis schon krankhaft oder noch normal ist, hängt vom Grad der Konflikte mit andern abhängig gemacht und nicht vom Erleben des Patienten. Das lässt sich kaum vermeiden. Doch messen lässt sich da erst recht nichts. Es ist stets parteiisch, und nie auf Seiten des Zubehandelnden.
JE 

 


 

 

Donnerstag, 27. November 2025

Die Geschichte der Kapitalisten ist keine Geschichte des Kapitals.


aus FAZ.NET23.11.2025   Aelbert Cuyp,Händler der niederländischen East India Company   zu öffentliche Angelegenheiten

Sven Beckert erzählt die Gewaltgeschichte des Kapitalismus
Raub, Sklaverei, Krieg – so eroberte der Kapitalismus die ganze Welt
Der Historiker Sven Beckert erzählt die tausendjährige Geschichte des Kapitalismus: Zwang und Gewalt seien bis heute übliche Methoden der Bereicherung. Am Ende prophezeit er eine Dystopie

Von Lutz Raphael 

Die Geschichte des globalen Kapitalismus hat Hochkonjunktur – auch auf dem deutschen Buchmarkt. Nur zwei Jahre nach Friedrich Lengers „Der Preis der Welt. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus“ erscheint nun Sven Beckerts „Kapitalis-mus. Geschichte einer Weltrevolution“. Beide Bücher liefern eine Art Schadens-bilanz der sonst gerne erzählten Erfolgsstory und korrigieren damit Werner Plum-pes optimistische Deutung „Das kalte Herz: Kapitalismus: die Geschichte einer andauernden Revolution“.

Es ist allerdings bedauerlich, dass Beckert beide Konkurrenten und wichtige Positionen der aktuellen Forschung ausblendet und damit auch seine Kritik dem Leser vorenthält. Gerade der Dialog mit Lenger wäre für den Leser aufschlussreich gewesen, denn beide Werke brechen mit dem Eurozentrismus und rücken die ökologischen Folgen des modernen Kapitalismus in den Blick.

Der Aufstieg zur global dominanten Wirtschaftsweise

Wie Friedrich Lenger steht auch Sven Beckert eindeutig auf der Seite der Kritiker des Kapitalismus. Noch schärfer als dieser relativiert er die globalen Wohlstandsge-winne, die mit der weltweiten Durchsetzung dieses Wirtschaftsmodells verbunden sind. Doch der in Harvard lehrende Historiker hat keine bloße Abrechnung ge-schrieben: Er erzählt die lange, nach seiner Einschätzung inzwischen tausendjährige Geschichte der sich allmählich steigernden Wachstumsdynamik global vernetzten Kapitals. Diese Wirtschaftsform hat spätestens seit dem späten achtzehnten Jahr-hundert ihre frühere insulare Sonderexistenz am Rande und in den Nischen ganz anders strukturierter Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen gesprengt und sich in revolutionären Umbrüchen zur global dominanten Wirtschaftsweise entwickelt.

Sven Beckert: „Kapitalismus“. Geschichte einer Weltrevolution.
Sven Beckert: „Kapitalismus“. Geschichte einer Weltrevolution.Rowohlt

Die Öffnung der ehemals staatssozialistischen Länder für den globalen Kapitalismus seit den 1980er-Jahren stellt damit den Höhe- und Zielpunkt jener „Weltrevolution“ dar, der Sven Beckert sein Buch widmet. Es endet eigentlich mit der Finanzkrise im Jahr 2008, wirft aber in einem Epilog noch einen Blick auf deren zerstörerische Folgen und die jüngsten Fluchtphantasien libertärer Kapitaleigner. Diese Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus stoppt kurz vor der antizipierbaren Dystopie einer globalen Zerstörung von Umwelt und Gesellschaft.

Mit Marx und Engels teilt Beckert die Faszination für die unerhörte Dynamik der kapitalistischen Wirtschaftsweise, und wie sie hat sich Beckert das Ziel gesetzt, die enorme soziale Zerstörungskraft des Kapitalismus offenzulegen. Aber anders als für Marx und Engels sind Krieg und staatliche Unterdrückung für Beckert nicht bloß Begleiterscheinungen einer vermeintlich „ursprünglichen Akkumulation“, deren Schrecken und Strukturen mit dem Industriekapitalismus und der freien Lohnarbeit überwunden worden seien. Raub, Sklaverei beziehungsweise Arbeitszwang und Monopole, so Beckert, sind bis heute genutzte Methoden, um Kapital zu erwerben und zu vermehren. Entsprechend große Bedeutung kommt im Buch dem „Kriegskapitalismus“ zu, der zwischen 1450 und 1850 die dominierende Weise darstellte, in der die kapitalistische Weltrevolution vonstattenging.

Abhängigkeit, Ausbeutung und Gewalt spielten immer eine Rolle

Die Verschränkung von Staatsmacht und Kapitalinteressen ist in diesem Buch auch einer der wichtigsten Faktoren für den Erfolg des zunächst transatlantischen, später dann globalen Kapitalismus. Ihre ruhelose und ruinöse Konkurrenz machte die europäischen Staaten seit dem späten Mittelalter zu Handlangern und Bündnispartnern von Kapitaleignern, die den Sprung von ihren Inseln des Fernhandelskapitalismus schafften, zu Hauptfinanziers der europäischen Monarchien aufstiegen und so von deren globaler Expansion profitierten.

Diese wechselseitige Abhängigkeit hat sich für Beckert zu einem dauerhaften Strukturelement des modernen Kapitalismus entwickelt. Dies erklärt auch, warum strikt marktökonomische Deutungsansätze in diesem Buch nur eine Nebenrolle spielen – etwa als zeittypische Legitimationsfiguren kapitalistischer Verhältnisse oder schlimmstenfalls als Blaupausen für die Durchsetzung neuer politökonomischer Arrangements.

Immer wieder greift Beckert im Laufe des Buches auf Fernand Braudels Trilogie zur globalen Wirtschaftsgeschichte der frühen Moderne zurück. Wie Braudel deutet Beckert den Kapitalismus als eine Dynamik von Monopolbildung und macht- beziehungsweise raumgestützter Organisation von Handel und Produktion. Vor allem übernimmt Beckert jedoch von Braudel seine Darstellungsweise: die Auswahl exemplarischer Geschichten von Orten und Akteuren des Kapitalismus rund um den Globus und über den Zeitraum von tausend Jahren hinweg. Sie werden verbunden durch die Darstellung übergreifender Zusammenhänge im Licht neuerer Forschungsergebnisse.

Reiseberichte von den Zentren und Peripherien des Kapitalismus

So entsteht eine Kette anschaulicher Schilderungen lokaler Erscheinungsformen des Kapitalismus. Zugleich wirken diese Lokalgeschichten wie Reiseberichte von den Hotspots kapitalistischer Dynamik. Dieses Erzählmuster eignet sich besonders gut für die ersten knapp achthundert Jahre von Beckerts Großerzählung, von 1100 bis 1870. Diesem langen Zeitraum widmet er gut die Hälfte seiner Darstellung.

Es geht dabei immer wieder um Inseln im wörtlichen wie im übertragenen Sinne und um Netzwerke zwischen weit entfernten Orten und Akteuren: Von Aden aus reist der Leser durch die frühe Welt des Fernhandelskapitalismus entlang der See- und Landwege zwischen Mittelmeer und Chinesischem Meer, zwischen dem subsaharischen Afrika und den nördlichen Randzonen Eurasiens. Die weiteren Kapitel bringen den Leser zu den wichtigsten Orten des frühneuzeitlichen Kapitalismus: den Zentren des kolonialen europäischen Fernhandelsnetzes oder zu den karibischen Inseln als Schreckensorte der neuartigen atlantischen Plantagenproduktion. Diese erste Weltrevolution kulminiert für Beckert im „großen Sturm“, der in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die Anhäufung verwertbaren Kapitals in den nordatlantischen Regionen auf eine neue Stufe hob.

Im zweiten Teil seines Buches folgt Beckert dem Aufstieg des Industriekapitalismus bis zur Gegenwart. Auch hier bleibt er seinem Programm treu, neben dessen nordatlantischen Zentren die Spuren des Siegeszugs dieser Produktionsweise rund um den Globus in den Mittelpunkt zu rücken. Dem Autor ist es ein zentrales Anliegen, die These von der notwendigen Verbindung von freier Lohnarbeit und Kapitalismus zu widerlegen und die Rolle des kolonialen Kapitalismus bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein in den Vordergrund treten zu lassen. Er widmet sich den vielen Formen, in denen sich das Kapital jene Arbeitskraft aneignete, der es so dringend bedurfte. Neben den rechtlichen Formen griffen die Unternehmer auch gewaltsam in die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, die Organisation der Arbeitsabläufe und die Lebensweise ihrer Arbeiter ein.

Nur der Staat und die Arbeiter konnten die Akkumulation zügeln

Den Verwertungsinteressen des Kapitals setzten in Beckerts Erzählung zwischen 1870 und 1973 vor allem zwei Kollektivakteure Grenzen: Zum einen konstituierte sich die Arbeiterklasse als organisierte Gegenmacht, um sich den Ansprüchen und Ausbeutungsinteressen der Kapitalbesitzer zu widersetzen. Zum anderen kam der Nationalstaat ins Spiel. Er befreit sich aus dem direkten Zugriff einzelner Kapitalisten, um entweder als ideeller Gesamtkapitalist der kapitalistischen Produktionsweise den Weg zu bereiten oder, bei wachsendem Einfluss der Arbeiterklasse, den Kapitalismus zu zähmen und sozialstaatlich einzuhegen. Beide Gegenkräfte verloren seit 1973 an Macht, weswegen sich der Schlussteil („Die Zukunft des Kapitalismus?“) auf die Umbrüche der neoliberalen Globalisierung konzentriert. Sie eröffnet das jüngste Zeitalter eines nunmehr weltweit herrschenden Industriekapitalismus und markiert zugleich den Aufstieg neuer kapitalistischer Zentren im globalen Süden, vor allem in China.

Am Ende dieses großen Geschichtswerks verkündet Beckert prophetisch das Ende des Kapitalismus – allerdings ohne sich auf konkretere Zukunftsvorstellungen einzulassen. Das hat auch damit zu tun, dass der Historiker zwar in der inzwischen globalen Klasse der Lohnarbeiter die potentiell stärkste Gegenmacht sieht, deren Rebellionen und Reformen bislang allein die selbstzerstörerische Dynamik des Kapitalismus aufgehalten haben. Gleichzeitig konstatiert er aber mit Schrecken, dass inzwischen der globale Kapitalismus eine weltbeherrschende Kommodifizierung von Waren, Menschen und Umwelt herbeigeführt hat, die sich jeder Veränderung zu entziehen scheint. Für ihn steht dessen sture Akkumulationsdynamik in enger Verbindung mit einer chamäleonhaften Anpassungsfähigkeit an wechselnde geographische, gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen.

Beckerts Buch erzählt eine weltumspannende Entwicklungsgeschichte, die lediglich eine Gesetzmäßigkeit kennt, nämlich die des unaufhaltsamen Zwangs zur Kapitalvermehrung. Die zahlreichen Beispiele und detailgenauen Schilderungen sind überzeugend. Und dennoch lässt das Buch den Leser skeptisch zurück, vor allem aufgrund der Weigerung, sich jenseits der großen Erzählung von der allseitigen Entfaltung des Kapitalismus auf die Suche nach epochenspezifischen Regelmäßigkeiten oder Prozesslogiken einzulassen oder nach strukturellen Grenzen dieser Wirtschaftsweise zu fragen. Je näher die Darstellung der Gegenwart rückt, desto mehr vermisst man eine Auseinandersetzung mit Forschungsansätzen, die in der Lage wären, die Erklärungslücke zwischen den zahlreichen Lokalgeschichten und dem globalen Trend zu schließen.

Sven Beckert: „Kapitalismus“. Geschichte einer Weltrevolution. Rowohlt Verlag, Hamburg 2025. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm, Werner Roller, Sigrid Schmid u. Thomas Stauder. 1280 S., Abb., geb., 42,– €.
 
 
Nota. - Noch so einer, der über den Kapitalismus schreibt, aber Das Kapital nicht verstanden und wohl nicht einmal gelesen hat. Bloße Geldwirtschaft kann in tradi-tionellen Gesellschaften allenfalls zu einer Umverteilung der Reichtümer führen, nicht aber zu ihrer Produktion, und schon gar nicht mit der explosiven Dynamik der Akkumulation von Mehrwert - die ist nur durch Austausch von Geld gegen lebendige Arbeitskraft möglich.
 
Damit es dazu kommt, ist nicht nur die Anhäufung merkantiler Schätze erforder-lich, sondern das massenhafte Vorhandensein einer freien Arbeitskraft; und die Schaffung ebendieser freien Arbeitskraft durch die Vertreibung der Landbevölke-rung von ihrem angestammten Boden - denn die ist es, die Marx sarkastisch als "ursprüngliche Akkumulation" des Kapitals bezeichnet; nämlich die Enteignung der Bauernmassen.  
 
Nur soviel zur Rolle der Gewalt 
 
Man muss Marx auch nicht belehren hinsichtlich der Rolle, die Staaten bei der Ausbildung des Kapitalismus zum Weltsystem gespielt haben. Denn dass das Geld überhaupt erst durch Staatsmacht zur Welt gekommen ist, war ihm nicht verborgen geblieben, und auch nicht die Patenschaft des französischen Sonnenkönigs bei der Entstehung von Manufakturen in seinem Reich - und dem Ausbau der merkantilen Infrastruktur.
 
Und einen Zwang zu steter Selbstvermehrung kann ein totes Ding wie Geld kaum verspüren. Bis in die Neuzeit hat mancher reiche Sünder auf dem Totenbett all sei-nen Reichtum dem HErrn hinterlassen. Einem Zwang zur Selbstvermehrung er-fährt das Kapital durch die Konkurrenz, denn eine Chance zu klein aber mein hat es gar nicht: Sobald es aufhört, selber zu akkumulieren, wird es durch die Mitbewer-ber des akkumuliert.
 
 
Zusammenfassend muss man sagen, dass so eine gewaltiges Werk, wie die Ge-schichte des Kapitalismus zu schreiben, ein Einzelner nur auf sich nehmen kann, wenn er entschlossen ist, ganz wesentliche Aspekte davon einfach wegzulassen; am besten durch Unkenntnis. 
 
Vielleicht entschädigt ja die Fülle der erzählten Fakten für den Mangel an System. 
JE 


Mittwoch, 26. November 2025

Die kopernikanische Wende.

  Kopernikusstandbild in Thorn (Toruń)
aus nzz.ch, 26. 11. 2025                                                                      zuJochen Ebmeiers Realien

Sabotierte Revolution: wie das heimlich eingesetzte Vorwort eines Unbekannten die kopernikanische Wende verzögerte

Nikolaus Kopernikus rückte die Sonne ins Zentrum des Kosmos und degradierte die Erde zu einem gewöhnlichen Planeten. Die meisten Zeitgenossen hielten seine Idee aber bloss für ein Rechenmodell. Der vierte Teil unserer Serie zu den grössten Erkenntnissen der Wissenschaft.

von Martin Amrein (Text) und Daniel Röttele (Infografik)

Der junge Mathematiker Georg Joachim Rheti­cus war entsetzt, als er das frisch gedruckte Buch aufschlug: «De revolutionibus orbium coelestium», verfasst von seinem Lehrer Nikolaus Kopernikus. Er hatte Kopernikus bei der Fertigstellung ge­holfen und ihn gedrängt, das Werk endlich zu veröffentlichen. Rheticus war es auch, der das kostbare Manuskript zur Druckerei in Nürnberg gebracht hatte. Nun, an diesem Frühlingstag im Jahr 1543, sass er in Leipzig, wo er eben eine Professur angetreten hatte, und entdeckte, dass je­mand ohne sein Wissen ein anonymes Vorwort in das Buch gesetzt hat­te. Und was für eines.

Dieses Werk beschreibe zwar, dass die Erde sich bewege und die Sonne im Zentrum des Universums ruhe, stand da. Doch diese Hypothese müsse nicht wahr sein, sie diene nur als Hilfe, um die Bahnen der Himmelskörper zu berechnen. Rheticus versuchte noch, eine Neuauflage in die Wege zu leiten, scheiterte jedoch. Dafür erreichte der unbekannte Autor des Vorworts sein Ziel: Viele Leser glaubten, die einleitenden Zeilen stammten von Kopernikus, und betrachteten das Buch als reine Rechenhilfe, nicht als Manifest eines neuen Weltbilds.

Dieses Weltbild, das heliozentrische, mit einem Kosmos, in dessen Mitte die Sonne stand, hatte Ko­pernikus im Stillen entwickelt. Im Alltag war er ein Mann der Kirche. Er wirkte als Domherr in Frauenburg, einer kleinen Stadt im polnischen Reich. Die Stelle verdankte er seinem einflussreichen Onkel, dem Bischof der Region. Zuvor hatte er Mathematik, Astronomie, Medizin und Recht studiert. Als Domherr verwaltete er die Ländereien und die Fi­nanzen des Bistums.

Kopernikus musste zölibatär leben. Dafür blieb ihm die Freiheit, sich neben den kirchlichen Pflichten seiner wahren Leidenschaft zu widmen: der Astronomie. Nacht für Nacht beobachtete er die Planeten und notierte ihre Positionen. Dabei wuchsen seine Zweifel am Bild des Kosmos mit der Erde im Zentrum, das für seine Zeitgenossen im 16. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit war.

Vor allem ein Phänomen machte Kopernikus zu schaffen: Beobachtet man die Planeten von der Erde aus, ziehen sie immer wieder seltsame Schleifen über den Himmel.

Die Schleifen der Planeten
 
Schauen wir von der Erde aus über längere Zeit zum Mars, so scheint er sich in eine Richtung zu bewegen, einen Bogen zu schlagen, während einiger Wochen zurückzuwandern, um danach wieder auf seiner gewohnten Bahn fortzufahren.

Im heutigen Weltbild, in dem die Erde um die Sonne kreist, lässt sich dieses Phänomen leicht deuten. Das zeigt der Blick aus dem Weltraum auf die Erde und den Mars. Ungefähr alle zwei Jahre überholt die Erde auf ihrer schnelleren Innenbahn den Mars. Dabei scheint der Mars für den Beobachter von der Erde aus für einige Wochen rückwärtszulaufen: Die Schleife ist eine reine Perspektivtäuschung

Im geozentrischen Modell mit der Erde im Mittelpunkt brauchte es für dieses Rätsel dagegen eine eigene Erklärung.

Diese hatte der griechische Gelehrte Ptolemäus bereits im 2. Jahrhundert gefunden, als er das antike Wissen über den Himmel zusammenführte und in ein kohärentes System brachte. Dieses System beruhte auf dem geozentrischen Weltbild des Aristoteles: Die Erde galt als unbeweglicher Mittelpunkt des Universums, während Sonne, Mond und Planeten auf unsichtbaren Bahnen um sie herum kreisten.

Um die Schleifen der Planeten im geozentrischen Weltbild zu erklären, nahm Ptolemäus an, sie bewegten sich auf sogenannten Epizykeln. Das sind kleinere Kreise, deren Mittelpunkte die eigentliche Kreisbahn um die Erde vollführen. Durch die geschickte Wahl der Grösse dieser Trägerkreise und der Epizykeln liessen sich die beobachteten Planetenbahnen erstaunlich genau beschreiben.

Das geozentrische Weltbild nach Ptolemäus.

Schon griechische Denker fragten sich, ob die Erde um die Sonne kreisen könnte. Doch gegen die Lehrmeinung des Aristoteles konnte sich die Idee nie durchsetzen. Hingegen war die Vorstellung von der flachen Erde zur Zeit von Ptolemäus längst überwunden. Sie ist zwar in vielen alten Schöpfungsmythen zu finden, doch bereits die Griechen gingen von einer kugelförmigen Erde aus. Dass noch die Christen des Mittelalters die Erde für eine Scheibe hielten, ist eine Legende.

Das ptolemäische Weltbild mit der Sonne, die sich um die Erde dreht, blieb bis ins 16. Jahrhundert fest verankert. Die Kirche betrachtete das Modell als unverrückbare theologische Wahrheit, stellte es doch den Menschen als Krone der Schöpfung ins Zentrum von allem. Zudem stimmte es mit der Bibel überein: Josua bat Gott im Alten Testament, die Sonne stillstehen zu lassen, nicht etwa die Erde. Und schliesslich schien auch die alltägliche Erfahrung dafür zu sprechen. Wer konnte sich ernsthaft vorstellen, dass die schwere Erde durchs All raste, ohne dass man das Geringste davon spürte?

Selbst den Astronomen bot Ptolemäus ein mächtiges Instrument: Sein Modell ermöglichte es, die Positionen der Himmelskörper in der Vergangenheit und in der Zukunft zu berechnen. Dafür akzeptierten sie, dass die Planeten wie betrunken durch den Himmel torkelten.

Kopernikus aber missfiel die komplizierte Konstruktion der ineinandergeschachtelten Kreise: Sie widersprach der Vernunft, fand er. Auf der Suche nach einem eleganteren System wagte er einen Schritt, dessen Dramatik aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbar ist. Er rückte die Sonne ins Zentrum des Kosmos und degradierte die Erde zu einem gewöhnlichen Planeten.

Das heliozentrische Weltbild nach Kopernikus.

Kopernikus nutzte dieselben Positionsdaten und Umlaufzeiten, die schon Ptolemäus festgehalten hatte, erklärte sie aber mit einer ganz anderen Geometrie. Damit fand er endlich eine plausible Erklärung für die Schleifen, die die Planeten scheinbar vollziehen. Aber auch für andere Rätsel – etwa, warum Merkur und Venus von der Erde aus stets in Sonnennähe zu sehen sind. Im heliozentrischen Modell ist die Lösung ganz einfach: Ihre Umlaufbahnen liegen innerhalb der Erdbahn, wodurch sie enger um die Sonne kreisen.

In einem kurzen handschriftlichen Traktat, das er «Commentariolus» nannte, legte er 1514 die Prinzipien seines Systems dar. Er stellte sieben Thesen auf, darunter die zentrale: «Alle Bahnen umgeben die Sonne, als stünde sie in al­ler Mitte, daher liegt der Mittelpunkt der Welt in Sonnennähe.» Kopernikus gab das Manuskript an einige wenige Gelehrte weiter, denen er vertraute. Wie eine geheime Botschaft wanderte es von Hand zu Hand und weckte Neugier auf das neue Weltbild, das im abgelegenen Frauenburg entstanden war.

In den nächsten Jahren hielt sich ­Kopernikus bedeckt. Er arbeitete an einem Buch, das seine Theorie systematisch darstellte, veröffentlich­te es aber vor allem aus Furcht vor dem Spott ande­rer Gelehrter nicht. Erst ein unerwarteter Besuch verlieh ihm den nötigen Mut. Im Frühling 1539 stand Georg Joachim Rheticus vor seiner Tür. Der 25-Jährige hatte die wochenlange Reise von Sachsen nach Frauenburg angetreten, weil er die Gerüchte von Kopernikus’ neuer Kosmologie gehört hatte. Rheticus wollte mehr darüber erfahren.

So bekam Kopernikus, im Alter von 66 Jahren, erstmals einen Schüler. Geduldig erläuterte er ihm die Vorzüge des heliozentrischen Systems. Rheticus war begeistert, so sehr, dass er die nächsten zwei Jahre in Frauenburg blieb. Umgekehrt hatte Rheticus seinem Lehrmeister etwas zu bieten: Er hatte Beobachtungsdaten zu Merkur mitgebracht, die Kopernikus noch fehlten. Zudem unterstützte er ihn bei weiteren Messungen, gleich zwei partielle Sonnenfinsternisse verfolgten die beiden gemeinsam. Vielleicht noch wichtiger: Der junge Mathematiker überprüfte die Berechnungen und Tabellen, die Kopernikus für sein Buch erstellt hatte, und half, das Werk neu zu gliedern.

Am entscheidendsten aber war, dass er Kopernikus davon überzeugte, das Buch zu veröffentlichen. Den Drucker organisierte Rheticus ebenfalls.

Allerdings zog sich der Druck in Nürnberg hin. «De revolutionibus» war ein monumentales Werk voll mit Tabellen, Zahlenreihen und Dia­gram­men, die aufwendig als Holzschnitte ein­gefügt werden mussten. Briefe zwischen Frau­enburg und Nürnberg brauchten Wochen, und Kopernikus selbst zögerte mit Korrekturen. Es wurde Mai 1543, bis er das Buch in seinen Händen hielt. Viel davon nahm er aber nicht mehr wahr. Einige Monate zuvor hatte ihm ein Schlaganfall seine mentalen Kräfte geraubt. Nun lag er bereits im Sterben.

Unter Astronomen stiess das Buch zwar auf Interesse, weil es präzise Kalkulationen und nützliche Tabellen enthielt. Doch die meisten glaubten dem Vorwort und betrachteten es als blosses Rechenmodell. Auch die Kirche zeigte sich ungerührt, ein Verbot hielt sie nicht für nötig.

In den folgenden Jahrzehnten bekannten sich nur einzelne Gelehrte zum eigentlichen Gehalt des Werks. Einer der wenigen, die das heliozentrische Weltbild akzeptierten, war Johannes Kepler. Um 1600 wirkte er in Prag als Assistent des Astronomen Tycho Brahe. Dieser hielt unbeirrt an der Erde als Mittelpunkt des Kosmos fest und versuchte, seine Sicht mit genauen Beobachtungen zu belegen. 

Tycho Brahes MauerquadrantTycho Brahe liess riesige Instrumente bauen – darunter ein Quadrant, der von mehreren Gehilfen bedient wurde. Damit konnte er die Positionen der Planeten so genau vermessen wie niemand vor ihm.

Das heliozentrische Weltbild nach Kepler.

Kepler zeigte, dass die Planeten die Erde nicht in perfekten Kreisen umrunden, sondern in Ellipsen und dabei ihre Geschwindigkeit variieren. Erst damit waren Berechnungen möglich, die präzise mit den beobachteten Daten übereinstimmten.

Der italienische Universalgelehrte Galileo Galilei wiederum war der Erste, der das neu entwickelte Fernrohr in den Himmel rich­te­te. Er entdeckte, dass die Venus durch die Bestrahlung der Sonne Phasen zeigte wie der Mond – und das war nur dann möglich, wenn sie um die Sonne kreis­te.

Galileo Galilei

Diese und andere Beobachtungen machten Gali­lei zum unerschütterlichen Kopernikaner. Er vertrat das heliozentrische Weltbild öf­fent­lich und forderte, die Heilige Schrift nicht wörtlich zu nehmen: Die Bibel «lehrt uns, wie man in den Himmel kommt, nicht, wie der Himmel geht», schrieb er.

Erst jetzt reagierte die Kirche. Die Inquisition zwang Galilei, seine Worte zu widerrufen, und stellte ihn unter Hausarrest. «De revolutionibus» kam 1616 auf den Index der verbotenen Bücher, wo es mehr als zweihundert Jahre blieb.

Das verhinderte aber nicht den Durchbruch des heliozentrischen Weltbilds, den die Physik Isaac Newtons schliesslich mit sich brachte. Newton beschrieb 1687 eine Kraft, die auf der Erde wirkt, aber auch den Kosmos regiert: die Gravitation. Damit erklärte er die Planetenbahnen als natürliche Folge eines universellen Gesetzes und verwandelte Kopernikus’ kühne Idee in eine unumstössliche Gewissheit.

Zu diesem Zeitpunkt war längst auch bekannt, was zunächst nur wenige geahnt hatten: Das irreführende Vorwort in «De revolutionibus» stammte nicht von Kopernikus, sondern vom Nürnberger Theologen Andreas Osiander. Im Auftrag der Druckerei beaufsichtigte er die Herstellung des Buchs und war auch für die Korrekturen zuständig. Weil er das Werk vor kirchlicher Kritik schützen wollte, verharmloste er den Inhalt eigenmächtig. Einerseits sorgte er so dafür, dass das Buch zirkulieren konnte. Aber andererseits wurde er mit seinem entschärfenden Vorwort zum heimlichen Bremser der kopernikanischen Wende.

 

  

Maos Erbe.

 Platz des Himmlischen Friedens

Maos Volksrepublik China war ein feudalbürokratisches System wie die Sowjetuni-on, dessen feudale Züge trotz des Personenkults um den Großen Vorsitzenden von Anbeginn viel stärker ausgeprägt waren als im zunächst bonpartistischen, schließ-lich totalitären System Stalins. Anders hätte Mao im Politbüro nie in die Minderheit geraten können, hätte keine "Kulturrevolution" anzetteln müssen und wäre die Vie-rerbande nicht davongejagt worden - von dem gestrigen Zuchthäusler Deng Xiao-ping. Das Massaker auf dem Platz des Himmli-schen Friedens hat, jenseits aller Ideologie, die PARTEI genau in dem Moment noch einmal zusammengeschweißt, als in Osteuropa die Überreste des Stalinismus auseinanderzufallen begannen. Dass das reichen könnte, Maos Volksrepublik vor dem Schicksal der Sowjetunion zu be-wahren, habe ich nie geglaubt, so sehr das von manchen westlichen Kapitalstrategen herbeigejubelt wurde.

Erst im letzten Winter schrieb ich: "Der chinesische Traum möchte wohl auch Putins Traum sein: ein weltmarktfähiger Staatskapitalismus mit dynamischer privat-kapitalistischer Speerspitze unter enger Kontrolle einer straff charismatisch geführ-ten Einheitspartei mit einer arkanischen Nationalmythologie. Auch weltpolitisch kommen sie sich näher. Putins 'eurasische' Idee passt gut auf einen russisch-chine-sischen Block.

Aber das staatskapitalistische Modell ist eine Chimäre. Es kann nicht anders funktionieren - wenn es funktioniert - denn als ein bürokratisches Monstrum, und Bürokratie ist Korruption und Unsachlichkeit, da mögen die zyklischen Reinigungskampagnen noch so terroristisch durchgeführt werden. Ein monoli-thischer Staat müsste totalitär verfasst sein, aber bei seiner privat- und staatskapi-talistischen Doppelnatur kann er nicht totalitär verfasst sein. Die konfuzianische Reichsbürokratie hielt eine asiatische Wasserbaugesellschaft zusammen, die ohne sie nicht bestehen konnte. Eine sozusagen säkularisierte "Partei", die sich bei einer - wie bei Kung Ze - rein pragmatischen Mentalität aus den jeweils Besten eines Studienjahres rekrutiert, wäre, gerade weil sie entbehrlich und für den Auftritt auf dem Weltmarkt sogar hinderlich ist, nicht nur Spiegel, sondern Hohlspiegel aller widerstreitenden sozialen Interessen. Es ist zu befürchten, dass das mit einem ganz großen Knall endet, an den sich die Welt noch lange erinnern wird."

Die Sowjetunion ist am Ende einfach ausgelaufen wie eine Badewanne, mit lautem Gurgeln zwar, weil es so schnell ging, aber ohne großen Knall. Dass es in China ohne großen Knall nicht abgehen wird, schwant nun auch den Claqueuren, die gestern noch ein alternatives Entwicklungsmodell für die Dritte Welt beweihräu-chert haben. Wünschen kann man ihn eigentlich nicht, aber wie sollte das anders ausgehen?

30. 6. 15

 

 

Blog-Archiv

Auf euch pfeift Putin....

... und Trump auch?  Putin kann auf Gott und die Welt pfeifen, aber Trump vielleicht d n och nicht.