Montag, 11. März 2024

Der große Skandal der Philosophie.

Heraklit
aus spektrum.de, 9. 3. 2024                                                                                         zu Philosophierungen 

Der Skandal der Philosophie?
Im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen befasst sich die Philosophie seit Jahrtausenden mit den gleichen Fragen. Ist sie damit gescheitert? Fünf mögliche Antworten von unserem Kolumnisten.

Einer der gängigsten Vorwürfe an die Philosophie ist, dass sie auf der Stelle trete, um sich selbst kreise, sich immerzu wiederhole. Naturwissenschaften und technische Fächer machen rasend schnell Fortschritte: Von der Entdeckung der elektromagnetischen Induktion 1831 bis zur Publikation der Allgemeinen Relativitätstheorie 1915 oder von der Erfindung der Dampfturbine um 1884 bis zur Mondlandung 1969 verging nur jeweils ein gutes Menschenalter. Was hat die Philosophie dagegen vorzuweisen? Es lässt sich kaum bestreiten, dass bestimmte Kernprobleme, mit denen sie sich beschäftigt, seit Jahrtausenden dieselben sind und man nicht feststellen kann, dass sie gelöst und ad acta gelegt werden wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Während in der Humanbiologie zum Beispiel niemand mehr anzweifelt, dass der Mensch einen Blutkreislauf hat oder Infektionskrankheiten durch Bakterien, Viren und andere mit bloßem Auge nicht sichtbare Pathogene hervorgerufen werden, setzt sich die Philosophie bis heute zum Beispiel damit auseinander, was existiert, was Gut und Böse unterscheidet und ob der Mensch einen freien Willen hat. Zeigt sich hier also nicht ein skandalöses Scheitern?

Es gibt mehrere Möglichkeiten, auf diesen Vorwurf zu reagieren, von denen ich einige nennen möchte – die Liste ist allerdings keineswegs abschließend. Am einfachsten ist es natürlich, die Philosophie zu verwerfen und insgesamt für Zeitverschwendung zu erklären. Die zweiteinfachste, überraschend beliebte Lösung besteht darin, zumindest die bisherige Philosophie in dieser Weise zu verurteilen und sich vorzunehmen, ab sofort alles anders zu machen. Die Philosophiegeschichte ist voll von Projekten, mit denen eine vermeintlich erfolglose Philosophie endlich radikal neu auf solide, am besten »wissenschaftliche« Füße gestellt werden sollte. Auch philosophische Amateurprojekte haben häufig diesen Charakter. Der Wunsch, die Philosophie durch etwas ganz Neues, »Funktionsfähiges« zu ersetzen, ist offensichtlich stark und weit verbreitet.

Die dritte Option ist es, abzustreiten, dass Philosophie überhaupt eine Wissenschaft sei oder sein solle. Dann hätte sie sich also gar nicht an Erkenntnisfortschritten irgendeiner Art zu messen. Vielleicht ist sie ja eher so etwas wie eine Lebenspraxis oder eine Religionsalternative? Die damit verbundene Diskussion birgt ihre eigene Schwierigkeit, weil die Philosophie heutzutage durchweg als wissenschaftsförmige akademische Disziplin organisiert ist und sich die Frage stellt, was sich daran dann ändern müsste.

Ein vierter Ansatz: Die Philosophie macht durchaus Fortschritte, die aber nicht den Charakter von Lösungen für ihre ewigen Probleme haben, weswegen sie von außen betrachtet schwer zu erkennen sind. Kandidaten für solche Fortschritte sind zum Beispiel die Feststellung, dass Existenz keine Eigenschaft eines Gegenstands ist wie jede andere; dass man anderen Menschen nicht in die Köpfe schauen kann, sondern alles Nachdenken über Gedanken immer eng mit dem Reden über Sprache zu tun hat; dass man die Existenz Gottes nicht mit rein logischen Mitteln beweisen kann; und dass das Nachdenken über Gut und Böse immer mit dem Unterschied konfrontiert ist, ob es um das Bewerten einzelner Handlungen oder von Handlungsregeln geht. Hinter diese Fortschritte gibt es kein Zurück.

 

 

Damit in Zusammenhang steht eine fünfte Möglichkeit, mit dem »Skandal der Philosophie« umzugehen – eine elegante und nach meinem persönlichen Empfinden durchaus plausible. Dieser Ansatz behauptet, dass, gerade weil sich die Welt und die Menschen fortwährend ändern und damit auch die Stile des Denkens, Sprechens und Schreibens innerhalb und außerhalb der Philosophie, bestimmte Probleme immer neu diskutiert, bestimmte Begriffe immer wieder neu hergeleitet werden müssen. Der britische Philosoph Peter F. Strawson hat dies in der berühmten Einleitung seines Buchs »Einzelding und logisches Subjekt« aus dem Jahr 1959 formuliert, allerdings bezogen auf Metaphysik und nicht das Fach als Ganzes: »Denn obgleich der zentrale Gegenstand der deskriptiven Metaphysik derselbe bleibt: die kritische und analytische Sprache der Philosophie ändert sich fortwährend. Beständige Verhältnisse werden in einer unbeständigen Sprache beschrieben, die einerseits das geistige Klima der Zeit, andererseits den persönlichen Denkstil des individuellen Philosophen widerspiegelt.«

Wenn sich dies verallgemeinern lässt, dann besteht die Aufgabe der Philosophie ganz oder zumindest zu großen Teilen darin, als ein Kanal zu fungieren, durch den bestimmte unabänderliche Verhältnisse immer wieder neu beschrieben werden, um sie immer wieder anders tickenden Zeitaltern von Neuem verständlich zu machen. Probleme als gelöst zu archivieren wäre dann gar nicht möglich.

 

Nota. - Dass sich die Bewusstseinsstellungen (Gf. Yorck) der Menschen und damit ihre Sprache und daher auch die Formulierung noch der ewigsten philosophischen Probleme unablässig ändern und und damit dem akademischen Betrieb noch ein langes Leben versprechen, trifft ohne weiteres zu, ist aber platt.

Doch, es gibt einen Skandal der Philosophie. Vor zweieinhalb Jahrhunderten hat sie ihre kopernikanische Wende erlebt. Aber schon ein halbes Jahrhundert darauf hatte sie sie wieder vergessen, als habe sie nie davon gehört.

Seit dem Beginn des Philosophierens im griechischen Kleinasien standen die Denker rätselnd vor der Welt und suchten, in sie einzudringen und von innen her zu durchschauen. Da sind Unmengen Kluges zutage gefördert und angehäuft worden. Aber dass da eines der großen Probleme wirklich gelöst worden sei, hat man immer nur ein, zwei Lenze lang geglaubt, um dann wieder enttäuscht ins immerselbe Grübeln zurückzusinken.

Und dies ganz im Gegensatz zu den andern Wissenschaften, die doch alle irgendwann aus ihr hervorgegangen waren und unser Verständnis der Welt und von allem, was in ihr vorkommt, enorm vorangebracht haben. Doch ins Innere sind sie eben doch nie wirklich vorgedrungen - nicht in das, was dies einzelne Ding an sich, nicht in das, was DAS Ding an sich, und schon gar nicht, was die Welt an sich ist, ist sie je gelangt. 

Das Missverständnis war aber nie eines von der Welt gewesen, sondern - und das war die Kopernikanische Wende - ein Missverständnis unseres Verstehens. Die Vernunft klärt nicht auf, 'was die Welt im Innersten zusammenhält', sondern was der Mensch in ihr zu wollen hat - haben kann - haben soll. Denn nur die Fragen, die er der Natur stellt, wird sie ihm beantworten, da ist sie ganz stur. Und was er fragt, hängt immer davon ab, was er vorhat. Nach der Welt fragt er nur, weil er darinnen ist. Statt Metaphysik hat Philosophie Anthropologie zu betreiben, und die ist rationell nur möglich nach Maßgabe des kritischen Verfahrens der Transzendentalphilosophie.

Dass sie das ein Vierteljahrtausend lang wieder unter den Teppich gekehrt hat, ist der große Skandal der Philosophie.
JE

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