Mittwoch, 30. Oktober 2024

Dialektik ist Auflösung des transzendentalen Scheins.

Helga Noll                               zu Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem

Der logische Schein, der in der bloßen Nachahmung der Vernunftform besteht (der Schein der Trug-schlüsse), entspringt lediglich aus einem Mangel der Achtsamkeit auf die logische Regel. So bald daher diese auf den vorliegenden Fall geschärft wird, so verschwindet er gänzlich. Der transzendentale Schein dagegen hört gleichwohl nicht auf, ob man ihn schon aufgedeckt und seine Nichtigkeit durch die transzen-dentale Kritik deutlich eingesehen hat. (Z.B. der Schein in dem Satze: die Welt muß der Zeit nach einen Anfang haben.) Die Ursache hievon ist diese: daß in unserer Vernunft (subjektiv als ein menschliches Er-kenntnisvermögen betrachtet) Grund-regeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen objekti-ver Grundsätze haben, und wodurch es geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe, zu Gunsten des Verstandes, für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird. Eine Illusion, die gar nicht zu vermeiden ist, so wenig als wir es vermeiden können, daß uns das Meer in der Mitte nicht höher scheine, wie an dem Ufer, weil wir jene durch höhere Lichtstrahlen als diese sehen, oder, noch mehr, so wenig selbst der Astronom verhindern kann, daß ihm der Mond im Aufgange nicht größer scheine, ob er gleich durch diesen Schein nicht betrogen wird.

Die transzendentale Dialektik wird also sich damit begnügen, den Schein transzen-denter Urteile aufzudecken, und zugleich zu verhüten, daß er nicht betriege; daß er aber auch (wie der logische Schein) sogar verschwinde, und ein Schein zu sein auf-höre, das kann sie niemals bewerkstelligen. Denn wir haben es mit einer natürlichen und unvermeidlichen Illusion zu tun, die selbst auf subjektiven Grundsätzen beruht, und sie als objektive unterschiebt, anstatt daß die logische Dialektik in Auflösung der Trugschlüsse es nur mit einem Fehler, in Befolgung der Grundsätze, oder mit einem gekünstelten Scheine, in Nachahmung derselben, zu tun hat. Es gibt also eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft, nicht eine, in die sich etwa ein Stümper, durch Mangel an Kenntnissen, selbst verwickelt, oder die irgend ein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat, sondern die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt, und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird, ihr vorzugaukeln, und sie unablässig in augenblickliche Verirrungen zu stoßen, die jederzeit gehoben zu werden bedürfen.
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 309f.


Nota. - Dialektik war zweitausend Jahre lang eines von vielen Kunstwörtern der Schulphilosophie, und kein besonders populäres: fast ein Schimpfwort. Im vergan-genen Jahrhundert wurde es zu einer bewaff-neten Macht, die das geistige Leben des halben Erdballs lähmte. Sie war das Herzstück von Stalins Dialektischem Ma-terialismus alias Wissenschaftliche Weltanschauung, und während man bei Materia-lismus immer noch ein paar sichere Anhaltspunkte fand, um zu verstehen, was ge-meint war, war man bei Dialektik vor keiner Überraschung sicher. "Das ist undia-lektisch" oder "Das musst du dialektisch sehen" war der arkanische Zauberspruch, der alles Gültige auf den Kopf stellen konnte und äußerstenfalls über Leben oder Tod entschied.

Der Höhenflug des Wortes begann recht bescheiden bei Kant. Dessen neuer Wort-gebrauch war unsicher, teils klang im dialektischen bzw. transzendentalen Schein die alte Abwertung nach, teils sollte aber transzendentale Dialektik künftig gerade zum Instrument der Zerstreuung des Scheins gemacht werden. 

Während in der Kritik der reinen Vernunft - siehe oben - der "Schein", nämlich dass sich aus bloßen Operationen mit Begriffen reale Erkenntnis konstruieren las-se, noch als ein unvermeidliches Naturrisiko des Verstandesgebrauchs dargestellt wird, hat zum Zeitpunkt, als die Vorlesungen über Logik im Druck erschienen, die Kritik ihre Wirkung schon getan, und der Schein wird als durch sie vermeidbar dar-gestellt: Dialektik wird zum Reinigungsmittel des Verstandes, doch nicht als abge-schlossene Lehre, sondern immer nur in processu.

Die Karriere eines Wortes vom Inbegriff der Kritik zur größten intellektuellen My-stifikation aller Zeiten war da noch nicht abzusehen.
JE, 7. 1. 16



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