Helga Noll zu Philosophierungen, oder Das Vernunftsystem
Der logische
Schein, der in der bloßen Nachahmung der Vernunftform besteht (der
Schein der Trug-schlüsse), entspringt lediglich aus einem Mangel der
Achtsamkeit auf die logische Regel. So bald daher diese auf den
vorliegenden Fall geschärft wird, so verschwindet er gänzlich. Der
transzendentale Schein dagegen hört gleichwohl nicht auf, ob man ihn
schon aufgedeckt und seine Nichtigkeit durch die transzen-dentale Kritik
deutlich eingesehen hat. (Z.B. der Schein in dem Satze: die Welt muß
der Zeit nach einen Anfang haben.) Die Ursache hievon ist diese: daß in
unserer Vernunft (subjektiv als ein menschliches Er-kenntnisvermögen
betrachtet) Grund-regeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche
gänzlich das Ansehen objekti-ver Grundsätze haben, und wodurch es
geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung
unserer Begriffe, zu Gunsten des Verstandes, für eine objektive
Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird. Eine Illusion, die
gar nicht zu vermeiden ist, so wenig als wir es vermeiden können, daß
uns das Meer in der Mitte nicht höher scheine, wie an dem Ufer, weil wir
jene durch höhere Lichtstrahlen als diese sehen, oder, noch mehr, so
wenig selbst der Astronom verhindern kann, daß ihm der Mond im Aufgange
nicht größer scheine, ob er gleich durch diesen Schein nicht betrogen
wird.
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 309f.
Nota. - Dialektik war zweitausend Jahre lang eines von vielen Kunstwörtern der Schulphilosophie, und kein besonders populäres: fast ein Schimpfwort. Im vergan-genen Jahrhundert wurde es zu einer bewaff-neten Macht, die das geistige Leben des halben Erdballs lähmte. Sie war das Herzstück von Stalins Dialektischem Ma-terialismus alias Wissenschaftliche Weltanschauung, und während man bei Materia-lismus immer noch ein paar sichere Anhaltspunkte fand, um zu verstehen, was ge-meint war, war man bei Dialektik vor keiner Überraschung sicher. "Das ist undia-lektisch" oder "Das musst du dialektisch sehen" war der arkanische Zauberspruch, der alles Gültige auf den Kopf stellen konnte und äußerstenfalls über Leben oder Tod entschied.
Der Höhenflug des Wortes begann recht bescheiden bei Kant. Dessen neuer Wort-gebrauch war unsicher, teils klang im dialektischen bzw. transzendentalen Schein die alte Abwertung nach, teils sollte aber transzendentale Dialektik künftig gerade zum Instrument der Zerstreuung des Scheins gemacht werden.
Während in der Kritik der reinen Vernunft - siehe oben - der "Schein", nämlich dass sich aus bloßen Operationen mit Begriffen reale Erkenntnis konstruieren las-se, noch als ein unvermeidliches Naturrisiko des Verstandesgebrauchs dargestellt wird, hat zum Zeitpunkt, als die Vorlesungen über Logik im Druck erschienen, die Kritik ihre Wirkung schon getan, und der Schein wird als durch sie vermeidbar dar-gestellt: Dialektik wird zum Reinigungsmittel des Verstandes, doch nicht als abge-schlossene Lehre, sondern immer nur in processu.
Die Karriere eines Wortes vom Inbegriff der Kritik zur größten intellektuellen My-stifikation aller Zeiten war da noch nicht abzusehen.
JE, 7. 1. 16
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