Montag, 28. Oktober 2024

Corvey und die karolingische Renaissance.


aus FAZ.NET, 28.10.2024,                                                            zu Jochen Ebmeiers Realien, zu Geschmackssachen;  

Paderborner Lehrstunde: Nach der Ausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ darf nie mehr ungestraft vom finsteren Mittelalter gesprochen werden.
 

Kloster Corvey, das 2023 seinen 1200. Geburtstag feierte, und die Ausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ im unweit der Abtei gelegenen Diözesan-museum Paderborn teilten bei ihrer Gründung dasselbe Pro­blem: Wie setzt man Antike in Szene, obwohl man weit hinter dem Limes lag und nie Teil des römischen Imperiums war? Bestand doch der sehnlichste Wunsch einer Klostergründung in karolingischer Zeit und damit während der europaweit gedachten „Renovatio Imperii romani“ Karls des Großen darin, als Hüterin antiker Wissensbestände an die Höhe der Forschung in der Christuszeit anknüpfen zu können.

Zumal Corvey nicht irgendein Kloster eines beliebigen sächsischen Adeligen war, sondern eine Gründung auf kaiserlichem Grund, auf dem die Quellen zuvor eine „Villa uxoris“ kennen – mithin ein Landgut der Gemahlin des Stifters, Kaiser Ludwigs des Frommen (von dem tatsächlich der marmorne Sarkophag aus dem Musée de la Cour d’Or in Metz ausgeliehen werden konnte, der natürlich ein wiederverwendeter spätantiker ist, nur mit eingraviertem Kreuz auf dem Tamborin der Miriam bei der Durchquerung des Roten Meeres). Aber wie kann eine Schau gegen das in der Schule und in Ecos „Der Name der Rose“ eingebimste Vorurteil ankommen, das Mittelalter sei nicht nur finster, sondern gar antikenfeindlich gewesen und die Klöster voller blinder und wütender Bösewichte, die antike Handschriften vergiften und aufessen?

Schönste Mittelalterausstellung des Jahres

Kaum zu glauben, dass simple Buchstaben eintausendzweihundert Jahre später als Kronzeuge für die Antikentreue Corveys dienen können. Beim Eintreten in die schönste Mittelalter-Ausstellung des Jahres sieht man zuerst einmal exquisite spätantike und in karolingischer Zeit auf den Rückseiten wiederbeschnitzte Elfenbeinreliefs wie jenes mit der „Erschaffung der Tiere“, dessen Vorderseite im Jahr 506 in Konstantinopel gefertigt wurde, während ein Künstler am Hof des Frankenkaisers Karls des Kahlen um 870 die Rückseite mit einer Darwin’schen Hierarchie der Schöpfung in Akanthusranken bis hin zu Adam und Eva versah, die in der Mitte der Evolution auch die zweitälteste mittelalterliche Darstellung eines Einhorns präsentiert.

Pure Antike schon am Eingang der Abtei: Die Inschriftenplatte vom karolingischen Westwerk der Klosterkirche Corvey prangte einst am Torbau des Klosters und war in römischer Manier mit vergoldeten Bronzebuchstaben gefüllt.
Pure Antike schon am Eingang der Abtei: Die Inschriftenplatte vom karolingischen Westwerk der Klosterkirche Corvey prangte einst am Torbau des Klosters und war in römischer Manier mit vergoldeten Bronzebuchstaben gefüllt.

Andere Elfenbeine aus klösterlichem Besitz zeigen Ben-Hur-Wagenlenker, weil die recycelten Konsulardiptychen als Visitenkarten der Antike oft die Hauptaufgabe eines Konsuls zeigten: die Finanzierung und Eröffnung der Zirkusspiele. Wie das eigens aus Prag entliehene Evangeliar mit einem solchen beinernen Konsul als Buchdeckelzierde zeigt, bewahrte sie das keinesfalls davor, zu Aposteln mit Schlüssel statt Mappa in der Hand umgeschnitzt und buchstäblich umfrisiert zu werden. Die leichten und durch das zäh-elastische Material Elfenbein fast unzerstörbaren Konsulartäfelchen, von denen sich in den Jahrhunderten nach dem Fall Roms geschätzte 20.000 Stück in Kirchen- und Klosterschätzen sowie anderen Sammlungen des Mittelalters erhalten hatten, waren ideale Bilddatenträger für die Kultur der Antike.

Spätrömisches Relief: Der Sarkophag Ludwigs des Frommen aus Metz zeigt den Auszug der Israeliten aus Ägypten.
Spätrömisches Relief: Der Sarkophag Ludwigs des Frommen aus Metz zeigt den Auszug der Israeliten aus Ägypten.

Vor allem aber wird der Blick gleich auf das zweite, höher gelegene Plateau der verwinkelten Böhm’schen Museumsarchitektur gezogen: Dort prunkt hoch oben an der Wand majestätisch die monumentale Inschriftenplatte vom unter UNESCO-Weltkulturerbe stehenden Westwerk Corveys mit seinen karolingischen Fresken des Odysseus vor Skylla und Charybdis. Nicht nur ist die lateinische Inschrift „Zieh einen Ring um diese Stadt, Herr, und lass deine Engel die Wächter ihrer Mauern sein“ in Scriptura continua ohne Leerzeichen zwischen den Worten antik-elegant formuliert und steht in der Tradition antiker Apotropaia, also schadenabwehrender Sprüche und Bilder an den Außenseiten von Gebäuden und Gegenständen; sie ist auch in perfekter römischer Capitalis geschnitten und war einst, wie bei römischen Tabulae üblich, mit vergoldeten Bronzebuchstaben gefüllt, von denen die erhaltenen Reste in Paderborn gezeigt werden.

Fast überflüssig zu erwähnen, dass diese Asterix-und-Obelixhafte Inschrift vor ihrer Neuanbringung am Westwerk ursprünglich einen rekons­truierten Kloster-Torbau wie an einem der Römerlager vor dem gallischen Dorf zierte, sodass die sorgsam in Stein gemeißelte Bitte um einen schützenden göttlichen Ring um diese monastische Himmelstadt einen durchaus pragmatischen Kern hatte. Aus dem hellen lokalen Sollingsandstein gefertigt und poliert wirkte die Tafel mit ihren goldenen Lettern am Klostereingang von Weitem wie eine originale marmorne Tabula der Antike, die Kontinuität statt Bruch mit der Antike signalisierte.

Aus dem oströmischen Konstantinopel: Eine Elfenbeinschnitzerei aus dem Jahr 506 auf der Vorderseite wurde auf dem Revers in karolingischer Zeit mit Adam und Eva sowie diversen Tieren und Mischwesen neu beschnitzt, darunter Einhörner - und direkt unter Adam Sirenen wie in Corvey.
Aus dem oströmischen Konstantinopel: Eine Elfenbeinschnitzerei aus dem Jahr 506 auf der Vorderseite wurde auf dem Revers in karolingischer Zeit mit Adam und Eva sowie diversen Tieren und Mischwesen neu beschnitzt, darunter Einhörner - und direkt unter Adam Sirenen wie in Corvey.
Wertvollste Handschriften in den Vitrinen

Wer der Inschrift und dem hinter ihr befindlichen Gebäude in romanisch-römischer Form immer noch nicht traut, dem werden in zahllosen Vitrinen einige der wertvollsten Handschriften der Antike um die Ohren gehauen, die jeden Liebhaber das geschriebenen Wortes und der unterschiedlichsten Wissenschaften mit der Zunge schnalzen lassen. Überlebten die antiken Schriftrollen doch nur und konnten von der Renaissance angeblich aus dem Nichts wiederentdeckt werden, weil mittelalterliche Mönche wie in Corvey sie entweder im Original bewahrten oder sie mit erheblichem Aufwand kopierend abschrieben. Eine kleine Kostprobe des leider durch die Zeitläufte in alle Herren Länder verstreuten oder zerstörten einstigen Corveyer Klosterbibliotheksbesitzes: das Architektur-Traktat des antiken Tiefbaumeisters Vitruv war nicht nur für das Bauen und Gestalten (römisches Design!) im Mittelalter von großem Wert, sie bot auch eine nützliche Anleitung zur Herstellung von Farben in antiker Manier.

Vom spätantiken christlichen Dichter Boethius ist eine besonders fein illuminierte Handschrift zu sehen, auf der die Verkörperung der Philosophie dem Gefangenen beisteht und falsche Musen vertreibt. Vom römischen Dichter Horaz ist die berühmte Textstelle mit zwei Sirenen illustriert, in der er angesichts wildester Mischwesen rhetorisch fragt, ob die Freunde das Lachen noch halten könnten? Symbolträchtig daneben steht ein solches Mischwesen in Form eines Sirenen-Aquamanile aus Bronze des Berliner Kunstgewerbemuseums: Die durch und durch antike Sirene ist allerdings nicht nur als Mix aus Vogel und Frau, sondern optisch mit Pferdehals sowie als Vierbeiner mit Krallen und starken Schwingen unterwegs, auf die sie sich wie auf Hinterbeinen abstützt. Vor allem hat ihr der sächsische Bronzegießer wohl in Hildesheim ein lilienförmiges Kreuz auf einem Kronreif an die Stirn geheftet, damit zum einen keine Zweifel an der christlichen Eingemeindung des männermordenden Wesens bleiben, wohl aber auch zur Bändigung etwaiger antik-heidnischer Superübelkräfte – ob in Horaz’scher Manier auch in Kirchen und Klöstern gelacht wurde, wo ein solches Gießgefäß bei der Eucharistie zum Einsatz kam? Die eher furchterregende Schwester dieser gegossenen Sirene lauert jedenfalls im Johannneschor des Corveyer Westwerks als gemaltes und harfespielendes Wesen dem Odysseus und seinen gefährten auf, war also auch in diesem weit hinter dem Limes gelegenen Kloster vertraut.

Wo sollten denn in der Renaissance all die antiken Manuskripte herkommen, wenn nicht aus Klöstern?

Aus dem Vatikan ist mit Terenz das Faksimile eines Manuskripts zu antiken Theateraufführungen und Kommödienmasken zu sehen, das wohl kein geringerer als der spätere Corveyer Abt Wala damals noch als fränkischer Adeliger und Berater Kaiser Ludwigs des Frommen bei einem Vatikanbesuch zur Abschrift in Aachen oder gar Corvey nach einer spätantiken Handschrift des fünften Jahrhunderts anempfahl. Die Annalen des Tacitus erfreuen die Historiker. Für die Freunde der Rhetorik, die auch im Mittelalter stets gelehrt wurde, ist eine Gesamtausgabe Ciceros zu sehen, für die Juristen Cassiodors „Institutiones“ aus dem letzten Viertel des achten Jahrhunderts. Und als sei das nicht genug, hat eine der größten Bibliotheken des Mittelalters, das schweizerische Sankt Gallen, aus der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts zwei von weltweit nur sieben erhaltenen Seiten aus Vergils „Aeneis“ entliehen – mehr als 1600 Jahre alte Weltliteratur aus dem Kloster. Schriften der Antike als Christuszeit waren heilig.

Vielleicht ein Taufgeschenk Kaiser Karls des Großen an Widukind von Sachsen? Die Engerer Burse aus dem Berliner Kunstgewerbemuseum wurde im Vorfeld der Corvey-Schau intensiv untersucht. Der Holzkern ist aus Waldahorn, die Gemmen antik, die roten Almandine könnten aus Sri Lanka stammen, die meisten farbigen Einlagen aber sind aus Glas.
Vielleicht ein Taufgeschenk Kaiser Karls des Großen an Widukind von Sachsen? Die Engerer Burse aus dem Berliner Kunstgewerbemuseum wurde im Vorfeld der Corvey-Schau intensiv untersucht. Der Holzkern ist aus Waldahorn, die Gemmen antik, die roten Almandine könnten aus Sri Lanka stammen, die meisten farbigen Einlagen aber sind aus Glas.

Was die Ausstellung aber über die Feier des in Corvey bewahrten antiken Wissensbestandes hinaus besonders macht, ist der an Objekten erbrachte Nachweis, dass das Mittelalter so global wie unsere heutige Zeit war. Der Papyrus, auf dem im Kloster durchaus noch geschrieben wurde, kam aus dem längst islamischen Ägypten (das Museum zeigt tatsächlich eine karolingische Papyrus-Schrift nach spätantikem Vorbild: die Urkunde Papst Stephans V. aus dem Jahr 891 für das Frauenstift Neuenheerse, in dem dieser der Abtei ältere Schenkungen bestätigt). Das Elfenbein, das in Gestalt von Schnitzreliefs die Buchdeckel schmückte, aus Afrika, die Almandine als rote, rubinartige Schmucksteine für viele klosteraffine Goldschmiedearbeiten (etwa die prächtige Fibel von Dorestad von um 800, die später von einer Gewandspange zum Dekorbesatz eines Reliquiars umgearbeitet wurde) aus Sri Lanka, dem einzigen Vorkommen damals, der viel verwendete Bergkristall nicht etwa aus den Alpen, sondern aus Madagaskar für die nötigen Mengen und Größen.

Leckerbissen für Historiker, von dem es bis ins 16. Jahrhundert nur ein erhaltenes Exemplar gab: Die Annales 1-6 des Publius Cornelius Tacitus aus der Florentiner Biblioteca Medicea Laurenziana
Leckerbissen für Historiker, von dem es bis ins 16. Jahrhundert nur ein erhaltenes Exemplar gab: Die Annales 1-6 des Publius Cornelius Tacitus aus der Florentiner Biblioteca Medicea Laurenziana

Der Lapislazuli für die tiefblaue Farbe der Malerei stammte aus Afghanistan, die Seide, etwa für die Umhüllung des Kostbarsten, was ein Kloster neben den Büchern besaß – der Reliquien (im Fall des Stephanus als Patroziniumsheiligen von Corvey war es tiefgrüne Seide, die auch nach Jahrhunderten noch strahlt) –, kam über die gleichnamige Straße aus China. Auch die in der Klosterküche durchaus eingesetzten exotischen Gewürze gelangten über die Seidenstraße dorthin, ein skurriler Fall ist hier das kostbare Behältnis aus Elfenbein für die Reliquien eines Heiligen, das in der Antike eine Gewürztruhe war.

Mikrokosmen antiken Wissens

Und das Blei in der Legierung der immer wieder erhebenden Bronzefigur der Aachener Bärin, die symbolisch den Eingang des Münsters bewacht, stammt definitiv aus Britannien und wurde im zweiten Jahrhundert nach Christus gegossen, was durch neue naturwissenschaftliche Untersuchungen dieser römischen Kopie eines griechischen Originals bewiesen ist. Die von einem Speer verletzte Aachener Bärin (auf Höhe der Seitenwunde Christi!) war einst ebenso Teil einer Jagdgruppe wie der im Museum neben ihr platzierte Marmor-Molosserhund aus dem Vatikan. Beide stehen pars pro toto für die Sammeltätigkeit von Kaisern, Päpsten und Äbten, die sich gern mit Antiken in ihren Mauern schmückten.

Beispiel für den Technologie-Transfer im Mittelalter: Die kostbare goldene Fibel von Dorestad, einst nördlichster Handelshafen des Karolingerreichs, ist mit der Engerer Burse verwandt, wanderte einst rheinaufwärts und vereint Motive von weit her in sich.
Beispiel für den Technologie-Transfer im Mittelalter: Die kostbare goldene Fibel von Dorestad, einst nördlichster Handelshafen des Karolingerreichs, ist mit der Engerer Burse verwandt, wanderte einst rheinaufwärts und vereint Motive von weit her in sich.
Zweifacher Blick in den Himmel vom Kloster aus

Fast überflüssig zu betonen, dass Klöster auch Orte des Technik-Transfers waren, gerade auf dem Gebiet der Goldschmiedearbeiten, wie die sagenhafte Engerer Burse von um 820, vielleicht ein Taufgeschenk Kaiser Karls des Großen an Widukind von Sachsen. Das Bursen-Reliquiar der Stiftskirche von Enger aus dem Berliner Kunstgewerbemuseum wurde dabei im Vorfeld der Corvey-Schau intensiv untersucht, Der Holzkern ist aus Waldahorn, die Gemmen antik, die wenigen roten Almandine könnten aus Sri Lanka stammen, die meisten farbigen Einlagen aber sind aus Glas. Bei dem kunsttechnologisch perfekter gefertigten und sogar noch älteren Theudericus-Schrein aus Saint-Maurice im Wallis von um 650 nach Christus wurde neben echt antiken Gemmen und Schmucksteinen gar eine ptolemäische aus Sardonyx mit dem Kopf des Klosterheiligen Mauritius nachgeahmt.

Klöster wie Corvey waren Mikrokosmen antiken Wissens und erforschten auch den echten Kosmos. So wundert es nicht, dass in vielen auch Hyginus’ „Astrologiae“ (wie etwa in St. Blasien) oder die „Arateia“ vorhanden waren und intensive Sternenstudien betrieben wurden. Manche Abteien übertrieben den Blick in den Himmel derart, dass sie als Sternwarten mit angeschlossenem Betbetrieb kritisiert wurden. Doch belegt die Schau eines überdeutlich: Um die achtzig Prozent unseres Wissens über die Antike hätten wir nicht ohne Corvey und Co.

Corvey und das Erbe der Antike. Diözesanmuseum Paderborn; bis 26. Januar 2025. Der Katalog kostet 49 Euro.

 

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