Donnerstag, 3. Oktober 2024

Das Geschmacksurteil und der ästhetische Zustand.

C. D. Friedrich                zu  Philosophierungen, zu Geschmackssachen

§ 9 - Untersuchung der Frage: ob im Geschmacksurteile das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe 

Die Auflösung dieser Aufgabe ist der Schlüssel zur Kritik des Geschmacks, und daher aller Aufmerksamkeit würdig.

Ginge die Lust an dem gegebenen Gegenstande vorher, und nur die allgemeine Mitteilbarkeit derselben sollte im Geschmacksurteile der Vorstellung des Gegen-standes zuerkannt werden, so würde ein solches Verfahren mit sich selbst im Wi-derspruche stehen. Denn dergleichen Lust würde keine andere, als die bloße An-nehmlichkeit in der Sinnenempfindung sein, und daher ihrer Natur nach nur Pri-vatgültigkeit haben können, weil sie von der Vorstellung, wodurch der Gegenstand gegeben wird, unmittelbar abhinge.

Also ist es die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes in der gegebe-nen Vorstellung, welche als subjektive Bedingung des Geschmacksurteils demselben zum Grunde liegen und die Lust an dem Gegenstande zur Folge haben muß. Es kann aber nichts
[anderes] allgemein mitgeteilt werden als Erkenntnis, und Vorstellung, sofern sie zum Erkenntnis gehört. Denn sofern ist die letztere nur allein objektiv, und hat nur dadurch einen allgemeinen Beziehungspunkt, womit die Vorstellungs-kraft Aller zusammenzustimmen genötigt wird. Soll nun der Bestimmungsgrund des Urteils über diese allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung bloß subjektiv, näm-lich ohne einen Begriff vom Gegenstande gedacht werden, so kann er kein anderer als der Gemütszustand sein, der im Verhältnisse der Vorstellungskräfte zueinander angetroffen wird, sofern sie eine gegebene Vorstellung auf Erkenntnis überhaupt beziehen.

Die Erkenntniskräfte, die durch diese Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind hiebei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt. Also muß der Gemütszustand in dieser Vorstellung der eines Gefühls des freien Spiels der Vorstellungskräfte an einer gegebenen Vor-stellung zu einem Erkenntnisse überhaupt sein. Nun gehören zu einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, damit überhaupt daraus Erkenntnis werde, Einbildungskraft für die Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung, und Verstand für die Einheit des Begriffs der die Vorstellungen vereinigt. Dieser Zustand eines freien Spiels der Erkenntnisvermögen bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, muß sich allgemein mitteilen lassen: weil Erkenntnis als Bestimmung des Objekts, womit gegebene Vorstellungen (in welchem Subjekte es auch sei) zusammen stimmen sollen, die einzige Vorstellungsart ist, die für je-dermann gilt.

Die subjektive allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellungsart in einem Geschmacks-urteile, da sie ohne einen bestimmten Begriff vorauszusetzen stattfinden soll, kann nichts anders als der Gemütszustand in dem freien Spiele der Einbildungskraft und des Verstandes (sofern sie untereinander, wie es zu einem Erkenntnisse überhaupt erforderlich ist, zusammenstimmen) sein: indem wir uns bewußt sind, daß dieses zum Erkenntnis überhaupt schickliche subjektive Verhältnis ebensowohl für jeder-mann gelten und folglich allgemein mitteilbar sein müsse, als es eine jede bestimmte Erkenntnis ist, die doch immer auf jenem Verhältnis als subjektiver Bedingung be-ruht.

Diese bloß subjektive (ästhetische) Beurteilung des Gegenstandes oder der Vorstel-lung, wodurch er gegeben wird, geht nun vor der Lust an demselben vorher, und ist der Grund dieser Lust an der Harmonie der Erkenntnisvermögen; auf jener Allge-meinheit aber der subjektiven Bedingungen der Beurteilung der Gegenstände grün-det sich allein diese allge-meine subjektive Gültigkeit des Wohlgefallens, welches wir mit der Vorstellung des Gegen-standes den wir schön nennen, verbinden.

Daß seinen Gemütszustand, selbst auch nur in Ansehung der Erkenntnisvermögen, mittei-len zu können, eine Lust bei sich führe: könnte man aus dem natürlichen Hange des Menschen zur Geselligkeit (empirisch und psychologisch) leichtlich dar-tun. Das ist aber zu unserer Absicht nicht genug. Die Lust, die wir fühlen, muten wir jedem andern im Ge-schmacksurteile als notwendig zu, gleich als ob es für eine Beschaffenheit des Gegenstan-des, die an ihm nach Begriffen bestimmt ist, anzu-sehen wäre, wenn wir etwas schön nennen; da doch Schönheit ohne Beziehung auf das Gefühl des Subjekts für sich nichts ist. Die Erörterung dieser Frage aber müs-sen wir uns bis zur Beantwortung derjenigen: ob und wie ästhetische Urteile a priori möglich sind, vorbehalten. ...

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aus Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Erstes Buch, § 9 [Interpunktion geändert] in Werke, ed. Weischedel, Bd IX, Ffm 1968, S. 131


Nota. - Kant hat eine völlig neue Art zu denken in die Welt gesetzt, da hatte er ge-nug zu tun; all den jahrhundertealten scholastischen Ballast abzustreifen, den er in der Wolff-Baumgarten-Schule mitbekommen hatte, fehlte ihm die Zeit. Oder an-ders - wenn sein Herangehen an das Erkenntnisvermögen insgesamt auch ein phä-nomenologisches ist, hängt er in der Durchführung immer noch der Unsitte an, vorab Begriffe zu definieren und hernach Erkenntnis daraus zu konstruieren. 

Etwa so: Weil ästhethische Urteile mitgeteilt werden, müssen sie auf Erkenntnis ausgegangen sein, denn nur Erkenntnis lässt sich mitteilen. Ergo muss den Ge-schmacksurteilen etwas Allgemeingültiges zukommen. - Wenn aber nun gerade dies das Paradox der ästhetischen Urteile wäre: dass sie so mitgeteilt werden, als ob sie allgemeine Geltung beanspruchen könnten, obwohl sie doch aus rein privatem Erleben stammen -? Weshalb man über Geschmack sehr wohl streiten kann, nur nicht argumentieren, weil eben die Begriffe fehlen.

Man könnte sagen: Im Streit über Geschmacksurteile findet ein freies Spiel der Vorstellungskräfte statt, das eben deshalb ein Spiel ist, weil die Erkenntnisver-mögen dabei immer nur so tun, als ob...  

Das wäre nicht bloß der natürliche Hang der Menschen zur Geselligkeit, sondern die Eigenlogik der Geschmacksurteile: dass sie danach drängen, mitgeteilt zu wer-den, weil sie erst ganz sie selber sind, sobald sie Junge werfen. 

Nota II. - Die Frage ist: 'Dependieren' ästhetische Urteile von Vernunfturteilen, oder liegt vielmehr das ästhetische Urteil - im elementarsten Sinn - allem vernünf-tigen Urteilen zu Grunde? Im ersten Falle wäre ihre Mitteilbarkeit immerhin ein Hinweis auf ihre Vernünftigkeit, was sie freilich noch nicht weniger strittig machte. Im zweiten Falle ist die ästhetische Urteilskraft Bedingung allen Urteilens - ein Ge-danke, mit dem Kant momentan geliebäugelt haben mag, den er aber doch nicht durchführen mochte. Dann wäre das ästhetische Urteil eine Anschauung von Qua-litäten, bevor nach gemeinsamen Zwecken überhaupt schon gefragt würde. Andern-falls wäre das ästhetische Urteil eines, in dem aller plausibler Zweck - einer, auf den man sich verständigen kann, weil man ihn mitteilen konnte - verlorengegangen ist.
21. 1. 21

Nota III. - Der wissenslogische Zirkel ist bei Kant viel elementarer: Er kam viel mehr von Baumgarten her als von Wolff, und bei ihm ist das Ästhetische, dem erst er zu einem akademischen Namen verholfen hat, das 'untere Erkenntnisvermögen'; ist vorab bestimmt als der erste Schritt auf dem Wege des Erkennens. Also ein Min-deres als das Erkennen in specie: das Begreifen; als das Erkennen, das sich als ein solches ausweist, indem es sich mitteilen lässt: im Begriff. Die Geringschätzung des Ästhetischen ist die petitio principii des rationalistischen Metaphysikers. Kant hatte zu viel mit den Folgen zu schaffen, als dass er sich frei den Voraussetzungen zu-wenden konnte.
JE

 

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