idea-sandbox
aus FAZ.NET, 13. 10. 2024 zu Geschmackssachen
von Adrian Daub
"Judas!" Das Wort ist weiterhin deutlich in der Liveaufnahme des Songs zu hören. Bob Dylan war gerade dabei, seine E-Gitarre zu stimmen, die Verstärker surrten bereits, da rief jemand aus dem Publikum „Judas“. 1966 war das, während Dylans fulminanter, aber auch äußerst rauer Tournee in England. „I don’t believe you,“ erwiderte ein hörbar genervter Dylan. „You’re a liar.“ Und dann wandte er sich zu seiner Band und rief: „Play it fucking loud.“
Den Song, der dann kommt, „Like a Rolling Stone“, präsentierte Dylan in diesem Konzert zumindest als reine Publikumsbeschimpfung. Man merkt dem Moment am Anfang des Livemitschnitts eine Hitze an, die ihm in der Rückblende nicht mehr zukommt, ja zukommen kann. Eine Auseinandersetzung über Folk, Popkultur, Gegenkultur, Kommerz und E-Gitarren, die Zuschauer und Künstler gleicher-maßen umtrieb.
Und der aus heutiger Sicht das zukommt, was Theodor Adorno den „Rätselcharak-ter“ des Kunstwerks nannte. Wir spüren das Vexierpotential weiterhin, es ist Teil des Kunstwerks geworden, müssen uns dieses aber vom nervigsten Zeitgenossen bei einer Szeneparty erklären lassen. Es erschließt sich uns nicht mehr unmittelbar.
Johannes Franzens „Wut und Wertung“ spürt der Kulturgeschichte als „Geschichte von Skandalen und Kontroversen, von Fehden, Streitereien und Rivalitäten“ nach – das große Verdienst des Buches ist es, die Rätselhaftigkeit dieser Dynamiken auch in der Gegenwart aufzuzeigen, in der wir ja alle irgendwie in ihnen drinstecken, Mei-nungen zu Marvel haben müssen, und dazu, wie viel „Moral“ Literatur verträgt. Und in der wir gemeinhin nicht zugeben dürfen, dass wir zu ersterem keine Meinung haben und beim zweiten schon die Frage unbegreiflich finden.
Auf fast 400 äußerst lesbaren Seiten geht es um „kollektive Spottereignisse“, „Anti-Fans“, um „Guilty Pleasure“, um „Jetzt-erst-recht-Konsum“, um #MeToo und angeblich zu politische oder zu unpolitische Kunst. Vor allem aber konzentriert sich Franzen auf die Art, wie Identität artikuliert, infrage gestellt und verteidigt wird über die Bande der Kunst. „Die Verletzung, die im Streit über Kunst entsteht, ist eine entwertende Erfahrung, die das Zentrum der eigenen Identität berührt.“
Wenn Franzen sagt, dass Ästhetik „vor allem eine Waffe im Kampf um Legitimität“ sei, meint er damit ein vermeintlich Vorpolitisches – oder zumindest etwas, was die vielen deutschsprachigen Kritiker der „Identitätspolitik“ als vorpolitisch empfinden. Es ist ein Kampf darum, gehört, in seinen Werten und Präferenzen ernst genommen zu werden. Und das war Kunstdebatte, auch das ist die These des Buchs, schon sehr lange.
Die Erregungswellen des Feuilletons
Franzen, Germanist in Siegen, ist nebenberuflich Mitbegründer des Internetfeuilletons 54books. Er hat sich und seine verschiedenen publizistischen Bemühungen zwischen zwei Polen positioniert. Einerseits tritt er mit feuilletonistischem Anspruch an, zwischen guter und schlechter Kunst unterscheiden zu dürfen und zu sollen. Andererseits aber nimmt er die dem Internet eigene Streitkultur mit ihren Fangemeinden, Headcanons, Parodien ernst.
„Wut und Wertung“ liefert nun die Theorie zu dieser Position. Einerseits will Franzen die Erregungswellen des Feuilletons und der Kulturwelt kontextualisieren; andererseits will er sie auch nicht zu Nichtigkeiten erklären, zum bloßen Luxushobby von Kulturarbeitern. Menschen streiten aus guten Gründen über kulturelle Erzeugnisse. „Es geht um Verteilungskonflikte,“ so Franzen. „Was wir gern lesen, hören oder schauen, unterliegt einem gesellschaftlichen Druck, der unmittelbar an die Verteilung von Geld und Macht gebunden ist.“
Wie schon Kant wusste, liegt dem Geschmacksurteil ein, sagen wir, imperialistisches Moment inne: Wenn ich etwas schön, gut, interessant finde, erwarte ich, hoffe ich, dass auch Sie es schön, gut, interessant finden. „Unsere Urteile“, so Franzen, changieren „zwischen der Bescheidenheit des Subjektiven und dem Selbstbewusstsein eines Geschmacks“, „den man anderen zumuten mochte“.
Den eigenen Geschmack den anderen zumuten
Für Kant ist diese Universalisierbarkeit rein logischer Natur; ich drücke sie einfach durch ein Geschmacksurteil aus. Das „Wie“ dieses Anspruches hingegen war dem Philosophen einigermaßen egal, wohl auch, weil es, anders als die logische Struktur des Geschmacksurteils, starken historischen Schwankungen unterworfen ist.
Zu diesen Schwankungen gehört auch, dass sich unsere Gegenwart in der paradoxen Situation befindet, dass in unseren Feuilletons ständig mehr Streit gefordert wird, während man andererseits die Formen, in denen Menschen im Internet oder in Fangemeinden streiten, als unecht, falsch und gefährlich pathologisiert. Franzens Buch ebnet diese beiden Konfliktbühnen nicht ein, setzt sie aber vielfältiger zueinander in Beziehung.
Einerseits indem er Kontinuitäten herausarbeitet, wo das Feuilleton bevorzugt historische Brüche wahrnimmt. Von der im 19. Jahrhundert als miserabelste Dichterin abgefeierten Friederike Kempner springt Franzen zu Tommy Wiseaus als „Citizen Kane des schlechten Films“ gefeiertem „The Room“.
Andererseits indem er der Situation Rechnung trägt, dass wir ambitionierte Kunst in einem medial durchtränkten Umfeld konsumieren, in dem die Pflichtlektüren der Gymnasialzeit erweitert wurden durch den Pflicht- oder Unausweichbarkonsum von ubiquitärer Popmusik. „Die Hölle,“ so zitiert Franzen den Musiker Momus, „das ist die Musik der anderen“. Die gegenwärtige Hölle, könnte man generalisieren, sind die Fan-Obsessionen der anderen.
Streit als deutsches Kulturgut
Das ist die kognitive Situation, in der wir nicht unbedingt urteilen oder streiten, sondern reagieren. Bei dem „Wie“ geht es nicht nur um den so gern von einigen Feuilletons zum deutschen Kulturgut erklärten Streit selber. Sondern auch um unsere Impulse, mit denen wir uns etwa als „Anti-Fans“ an einem Hassobjekt abarbeiten. Wie Generationen ehemaliger Gymnasiasten noch unfreiwillig Details von „Homo Faber“ mit sich herumschleppen, besteht unser popkultureller Kanon aus widerwillig oder unbewusst eingetrichterter Kultur. Kultur enerviert unausweichlich, und Streit um sie trägt dieser kreatürlichen Wahrheit Rechnung.
Es geht auch um die Strategien, vermittels derer wir Streit ausweichen, kognitive Dissonanz abbauen. Fans, die sich als „Gemeinschaften der Unverstandenen“ verstehen, Autorinnen und Autoren, die sich wie Fans zu ihrem eigenen Werk verhalten, mediale Kunstparodisten wie Hape Kerkeling, das sind Formen ästhetischer Machtkritik, Angriffe auf die Werkherrschaft von Autorin und Autor, die Dominanz bestimmter Instanzen und Schichten. Die Bemerkung „Das hätte mein Kind auch malen können“ ist Banausentum – aber eben auch eine Form der Rebellion.
Dennoch zögert Franzen, das politische, das antihegemoniale Moment des Kunststreits zu betonen. Und zwar weil „alle Kombattanten selbstverständlich davon ausgehen, unterdrückte Widerstandskämpfer zu sein“. Denn das Phantasma eines angeblichen Widerstands oder gar der Zensur – durch die „Woken“, durch „Cancel Culture“ oder „den Zeitgeist“ – soll ja nur die eigenen Präferenzen nobilitieren. Wir befinden uns in einem historischen Moment, in dem „Wut auf Kunst selbst zu einem Gegenstand der Empörung“ wird; in dem Kunstkonsum die (reale oder imaginierte) Wut auf die konsumierte Kunst mitdenkt und zum Teil der Konsumerfahrung macht.
Die Geste ist dabei immer die des Ernstnehmens. Franzen bekommt das Kunststück hin, sich nie vor einer Positionierung zu scheuen und gleichzeitig scharf die Bedingungen der Möglichkeit solcher Positionierungen zu analysieren. Dieses Buch über das Urteilen urteilt selber kaum ab. Franzens Warte ist am Ende doch die des Literaturwissenschaftlers.
Er nähert sich den Kontroversen, die heute so erhitzt geführt werden, wie wir uns heute dem Schlagabtausch zwischen Dylan und dem Fan nähern. Was sie verhandeln, ist real, ist Geschichte, ist, wie der vor Kurzem verstorbene Literaturwissenschaftler Fredric Jameson schreibt, „was wehtut“. Wer „recht“ hatte in dem Moment, das ist eine Frage, die zu stellen weniger bringt, als die uneingestandenen Prämissen der Auseinandersetzung zu befragen.
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