aus derStandard.at, 20. Oktober 2024, zu Jochen Ebmeiers Realien;
... Hätte man vor 50 Jahren eine Umfrage durchgeführt, was den Menschen einzigartig macht, stünden sowohl der Gebrauch von Werkzeugen bis hin zu moderner Technologie als auch ein bemerkenswertes Ausmaß an Aggression und Gewalt hoch im Kurs. Das eine ermöglichte neue, erschreckende Dimensionen des anderen. Ebenfalls galten Kultur, Moral und Mitgefühl als Unikum des Menschen.
Die Liste an Besonderheiten, die bislang zusammengetragen wurden, ist lang. Anatomisch unterscheiden wir uns von anderen Arten: vom aufrechten Gang, Sprechapparat, opponierbaren Daumen und Farbsehen über das große Gehirn bis zur verhältnismäßigen Nacktheit, die wir meist mit Kleidung verdecken. Wir können lang leben und haben eine erstaunlich lange Kindheit, sind zu hoher Intelligenz und ausgefeilter Kommunikation fähig. Heute gibt es uns in extrem großer Zahl auf der Erde (und in kleiner Zahl im All), in quasi allen Weltregionen, die wir noch dazu immens umformen.
"Menschen haben größere Gruppen gebildet, können sich Dinge erzählen, aufschreiben und dadurch Wissen geballt sammeln, weitertragen – und sie sind unglaublich neugierig", sagt die Primatologin Isabelle Laumer vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie im deutschen Konstanz. "Aber wenn man als Menschenaffe im Regenwald in Asien oder in Afrika überleben will, kann es gefährlich sein, wenn man zu neugierig ist. Je sicherer die Umgebung ist, umso mehr kann man sich Dinge ganz genau anschauen oder Neues entwickeln."
Kultur und Evolution
Die Neugierde dürfte Hand in Hand gehen mit dem Teilen von Wissen und eigenen Gedanken. Wir lieben es zu lehren, schreibt der Evolutionsbiologe Kevin Lala von der schottischen University of St Andrews, der zudem als externer Lehrender am Konrad-Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung arbeitet, im Scientific American. Lehren, lernen, erzählen – das sind Eigenschaften, für die wir viel Zeit verwenden und die sich heute selbst online von (sozialen) Medien bis zum STANDARD-Forum gut nachvollziehen lassen.
Soziales Lernen wiederum geht mit dem Weiterentwickeln der Kultur einher. "Auf ihre wissenschaftliche Essenz heruntergebrochen, besteht Kultur aus Verhaltensmustern, die von den Mitgliedern einer Gemeinschaft geteilt werden und auf sozial übermittelten Informationen beruhen", hält Lala fest. Er argumentiert, dass die Kultur für die Entwicklung unserer Gehirne, Intelligenz und Sprache sorgte und die Evolution veränderte und nicht anders herum – wenngleich Kultur auch ein Produkt der Evolution sei. Und durch die Koevolution von Kultur und Genen habe etwa der Werkzeuggebrauch die menschliche Anatomie mitbeeinflusst. Auf eine kleine Anzahl weiterer Arten könne dies ebenfalls zutreffen.
Das Konzept der kumulativen Kulturevolution sieht in der Ansammlung von viel Erfahrung und Wissen über die Generationen eine besonders starke Ausprägung beim Menschen. Eine Studie im Fachjournal PNAS, die in diesem Jahr erschien, liefert anhand bisheriger Funde von Steinwerkzeugen sogar einen Zeithorizont dafür: Vor rund 600.000 Jahren wurden die Objekte besonders komplex und rasch weiterentwickelt. Das sei ein Indiz für das Einsetzen kumulativer Kultur, also dem Lernen von früheren Generationen in großem Stil.
Passionierte Copycats
Die Errungenschaften des Homo sapiens sind laut dem Evolutionsbiologen Lala auf die Tatsache zurückzuführen, dass wir passionierte Copycats sind: "Beständiges, unermüdliches Kopieren und Innovation – das ist das Geheimnis des Erfolgs unserer Spezies." Und es scheint, als würden Lebewesen, die besonders gut im Kopieren sind, dafür ein eher großes Gehirn benötigen.
Längst wurde gezeigt, dass andere Arten ebenfalls nachahmen und Wissen weitergeben, sodass man von Kulturen sprechen kann. Bahnbrechend war hier die Primatologin Jane Goodall, die bei Schimpansen in freier Wildbahn verschiedene Verhaltensweisen je nach Population nachwies. Kulturtypisches Verhalten findet man selbst bei Tieren, mit denen wir nur entfernt verwandt sind: Orcas, Kohlmeisen, Fruchtfliegen. Sie entwickeln neue Jagdstrategien, die sie mit anderen teilen, öffnen die Folie von Milchflaschen und wählen Männchen als Partner, die schon bei älteren Weibchen beliebt waren.
Und es regte sich Kritik an Versuchen, das menschliche Imitieren als einzigartig und als Triebfeder der kumulativen Kulturrevolution darzustellen: Die Studien seien teils nicht kohärent und schwierig zu überprüfen. So gibt es Studien, die demonstrieren, dass junge Schimpansen nicht so imitationsfreudig sind wie Kleinkinder. Aber: "Kinder kopieren andere vor allem in einer bestimmten sensiblen Phase", sagt Laumer. "Sie machen dann mitunter Sachen, die gar keinen Sinn ergeben." Fachleute nennen dies Überimitation – etwa wenn eine Lehrerin eine Kiste entriegelt und dazwischen in die Hände klatscht und das Kind diese Handlungsfolge inklusive Klatschen übernimmt. Unklar ist, ob dies getan wird, um die soziale Bindung zu stärken oder sich den vorgegebenen Normen unterzuordnen. "Ein zuschauender Schimpanse würde das nicht so machen."
Von Moral bis Humor
Insgesamt fällt es schwer, biologisch ein Charakteristikum zu finden, das uns von allen anderen Wesen unterscheidet. Vielmehr scheint es ihre spezielle Kombination zu sein, die unsere Art beschreibt – und das Ausmaß, zu dem wir es gebracht haben. Das hebt der US-amerikanische Neurowissenschafter und Primatologe Robert Sapolsky von der Universität Stanford in einem seiner bekanntesten Vorträge hervor.
Selbst die goldene Regel zeigt sich in tierischem Verhalten, wenn Individuen reziprok kooperieren oder damit aufhören, sobald das Gegenüber nicht mehr mitzieht. Bei Schimpansen werden unschuldige Opfer einer Attacke mit höherer Wahrscheinlichkeit von Artgenossen gelaust – ein Indiz für Empathie. Und es gibt Hinweise auf eine tiefere Erkenntnis über sich selbst und andere, die Fachleute Theory of Mind nennen: ein Bewusstsein dafür, dass andere nicht über dieselben Kenntnisse und Absichten verfügen wie man selbst. Mit dem Unterschied, dass Affen womöglich bei Shakespeares Sommernachtstraum nicht mitkommen würden, wie Sapolsky nonchalant einwirft.
Das Hineinversetzen in andere ist auch nötig, wenn Menschenaffen einander erfolgreich erschrecken – oder spielerisch necken und so Humor zeigen. "Sie stupsen andere an, ziehen am Fell oder stehlen etwas, ohne am Gegenstand selbst interessiert zu sein", sagt Laumer, die selbst dazu forscht. Doch sie können gut einschätzen, wie der andere reagiert, in weniger als fünf Prozent der beobachteten Szenen reagierten die Geneckten aggressiv.
Wenn Orang-Utans vorausplanen
Unterschätzt werden insbesondere die Kommunikation anderer Arten und ihr Zeitverständnis, wie Laumer am Beispiel der Orang-Utans deutlich macht. Dominante Männchen geben sogenannte Long Calls von sich, die sich aus komplexen Sequenzen zusammensetzen. Im dichten Regenwald sind sie über 1500 Meter weit hörbar. Sie transportieren eine wichtige Botschaft für die Weibchen, die ihre Reviere im großen Gebiet des Männchens haben. "Der Long Call kündigt die zukünftige Reiseroute an: Am nächsten Morgen setzen sich das Männchen und die Weibchen in die gleiche Richtung in Bewegung, obwohl sie einander nicht sehen können", sagt Laumer. "Menschenaffen haben also nicht nur ein gutes Gedächtnis, was die Vergangenheit angeht, sie sind sich sogar der Zukunft bewusst und kommunizieren ihre Ziele." Die Primatologin glaubt, dass künftig noch viele weitere überraschende Erkenntnisse ans Licht kommen.
Zu bedenken geben auch die Anthropologinnen Katrin Schäfer und Sonja Windhager von der Uni Wien, dass uns hier etliches noch unbekannt ist. Über unsere eigene Evolution sowie über das, was andere Spezies denken, wahrnehmen, kommunizieren: "Denken Sie an das Geflecht in Bäumen und Pilzen, Lautäußerungen von Walen und Fledermäusen, die nur durch technische Hilfsmittel für uns überhaupt wahrnehmbar werden", betont Windhager. "Besonders mögen wir sein, jedoch besonders unter Besonderen." Eine bemerkenswerte Schneeflocke unter vielen.
Selbst die Frage, ob und inwiefern wir einzigartig sind, sei hinterfragenswert: "Ist nicht die spannendere Frage, was wir daraus machen, wenn wir über uns, unser Verhalten, Aussehen, Leistungen und Errungenschaften reflektieren? Wie wir mit den Herausforderungen unserer Zeit umgehen?", will Schäfer wissen.
Zu diesen Herausforderungen zählt gewiss die Zerstörung der Lebensgrundlagen zahlloser Organismen. Dafür sind Menschen, ihre Werkzeuge und Kulturen mitverantwortlich, von der Umweltverschmutzung bis zur Klimakrise. Während man Indizien dafür fand, dass selbst Schimpansen Angehörige anderer Gruppen ausrotten wollen, sprechen manche Tierschützer von einem Genozid an Orang-Utans, die durch die Vernichtung des Regenwalds in Indonesien stark vom Aussterben bedroht sind. Wenn der Mensch auf seiner Sonderstellung beharrt, könnte der nächste Schritt sein, Verantwortung für die Folgen seiner großen Macht zu übernehmen.
Nota. - Etwas Besonderes? Das ist eine Frage, die nur ein Mensch stellen kann; und nur an einen Menschen stellen kann; wie sollte er sie anders als mit ja beantworten?
JE
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