aus FAZ.NET, 16. 19. 2024 Pit-stop, 1984 zu Geschmackssachen
Die drei großen Fehlurteile zu den Skulpturen Jean Tinguelys lauten: Der Schweizer Dinosaurier habe vollkommen anachronistische Macho-Monumentalmaschinen aus Stahl zusammengeschweißt; das viele Altmetall habe bis zuletzt nur einer simplen Ikonographie des Schrotts im Sinne einer überlebten Arte Povera oder – noch schlimmer – seiner Leidenschaft für schnelle Rennwagen gedient, und Tinguelys Werk habe, drittens, als Möchtegern-Uhrmacherbastelei von Großskulpturen keinerlei philosophischen Überbau.
Wo einst Lokomotiven gebaut wurden, malen nun Maschinen hinreißende Bilder
All diese Mären widerlegt eine fulminante Ausstellung im monumentalen Hangar Bicocca in Mailand, die erste große Retrospektive in Italien, die Werke aus allen Schaffensphasen zeigt. In der ehemaligen Fabrikhalle, in deren stützenfreien und kathedralhohen Inneren einst Lokomotiven gefertigt wurden, stehen nun drei Dutzend kleine wie große Maschinen, ein leichtfüßiges Ballett des Industriezeitalters, transformiert in Kunst. Ballett deshalb, weil die Kuratoren Lucia Pesapane und Camille Morineau die überwiegend sich noch bewegenden Maschinen nicht alle auf einmal krachen und rumpeln lassen wollten, vielmehr über den Zeitraum von 45 Minuten hinweg fein choreographiert eine nach der anderen anspringen lässt.
Eine solche Choreographie hätte Tinguely gefallen, der sich selbst als Dirigent eines Maschinenorchesters sah, dem er weitgehende Autonomie zudachte. Und um den Vorurteilen nur jeweils kurz mit Argumenten aus der Schau zu entgegen: Bereits mit seiner ersten Frau Eva Aeppli schuf Tinguely von 1951 bis 1960 gemeinsame, äußerst feinnervige und filigrane Automata; erst recht kooperierte er seit 1971 mit Niki de Saint Phalle auf Augenhöhe, was auch nach der Scheidung nicht aufhörte, wie die großzügige Schenkung vieler Arbeiten durch Saint Phalle an das vor allem auf ihr Betreiben hin nach seinem Tod 1991 eingerichtete Museum Tinguely in Basel belegt. Viele seiner Skulpturen wären wie Platos Kugelmenschen unvollständig ohne Partizipation Beider. Für das Zarte in Tinguelys Werk steht etwa die Gruppe der sechs „Baluba“-Figuren aus den Sechzigern, die den Unabhängigkeitskampf der kongolesischen Bantu mit den typischen metallischen Anteilen Tinguely verkörpern, jedoch mit Kinderspielzeug und quietschgelbem Vogelplastikkopf auch zentrale Anteile des Œuvres seiner Frau Niki de Saint Phalle enthalten.
Auch der Vorwurf eines Schrottsammlers der Arte Povera ist schnell widerlegt: Zwar sehen die mehr als fünf Meter hohe Arbeit „Pit Stop“ mit ihren auseinanderstiebenden Renault-Rennwagenteilen und „Schreckenskarette – Viva Ferrari“ auf den ersten Blick tatsächlich wie adrenalinstrotzende „Transformer“-Skulpturen der Formel 1 aus. Es handelt sich dabei aber um die Momentaufnahme einer üblen Karambolage, zumal es auch die einzige Installation Tinguelys mit integriertem Video ist, das auf der rechten Wandseite den Piloten Alain Prost übergroß in schnellen Bewegtbildern zeigt.
Nie hätte Tinguely trotz seiner Begeisterung für schnelle Mobile unkritisch die Raserei gefeiert, im Gegenteil: Seit er 1955 beim Autorennen von Le Mans Zeuge einer Tragödie mit zwanzig Toten wurde, war er traumatisiert und Rennsport für ihn von diesem Schlüsselerlebnis an immer mit Tod und Vanitas assoziiert. Jede Skulptur aus Autoteilen war seither der Versuch, diese psychologische Barriere zu überwinden oder zumindest die Grenzen seiner eigenen Angst-Limitierung zu verschieben. Erst recht ist das monodimensionale Zusammenschweißen ohne Überbau schnell ins Reich der Legende verwiesen: Ausgestellt sind in der Halle die zwei Gruppen „Philosophen“ und „Acht Philosophen“, zu denen etwa Rousseau, Engels, Kropotkin, der Kunsthistoriker Jacob Burckhardt, aber auch antik-griechische wie aktuell angesagte französische Denker zählen. Wem die aus Altmetall aufs Altenteil geschobenen und wiederbelebten Meister-Philosophen („Plato in Aktion“, „Demokrit in Nöten“) nicht ein Schmunzeln entlocken, der hat kein Herz; dennoch sind sie in Ihrer Charakteristik sofort erkennbar und präzise porträtiert. Intensiv hat sich der Künstler mit den jeweiligen Schriften der Denker auseinandergesetzt, bis zuletzt schlief er, wie es ihm seine Mutter als Kind angeraten hatte, auf und über Büchern – auch unter dem Kopfkissen.
Schließlich besitzen beinahe alle seine Skulpturen nicht nur Humor, sie haben auch durchgängig kunsthistorischen Tiefgang. Tinguely ist nicht ohne Grund einer der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Links an der Wand begrüßt den Hallenbesucher eine direkte Auseinandersetzung mit der französischen Künstlergruppe von 1929 in der gleichnamigen Arbeit „Cercle et carré-éclates“. Kreise und Quadrate, eigentlich Garanten für Symmetrie und Ausweis präziser Geometrie, formen hier allerdings einen imperfekten, eiernden großen Kreis, zudem mit hohem Lärmaufkommen. Mit diesen Maschinen, die ihm erlaubten „poetisch zu sein – und sie im Gegenzug freizusetzen“, wie er einmal sein Werk definierte, stürmte er seit den Sechzigern die Museen. Sein lärmender und ölverschmierter Maschinenpark blieb dennoch stets ein Antimuseum.
Auch Maschinen können Demiurgen sein
Tinguely gilt als einer der bedeutendsten Kinetiker: sein Interesse an Bewegung und Modi der visuellen Wahrnehmung verlegt er in Maschinen, die ihrerseits eine Eigengesetzlichkeit der Kinesis bewirken. Manche zerstören sich partiell durch Abnutzung und wandeln sich, andere bringen neue Maschinen hervor und werden so selbst zu Künstlern. Seine Zeichenmaschine „Méta-Matic“, die gegen einen Jeton zu benutzen ist, schafft je nachdem, wie nahe zum Papier man den Filzstift in sie einspannt, immer wieder neue Originale, ist also selbst künstlerisch tätig.
Am poetischsten bündelt er diese in „Requiem pour une feuille morte“, wo riesige Zahnräder und ein heilloses Transmissionsriemen-Gewirr, in dem man irgendwo den unter die (Zahn-)Räder gekommenen Charlie Chaplin aus „Modern Times“ sucht, nur dafür konstruiert wurden, ein winziges weiß lackiertes Blatt, das herbstlich verwelkte aus dem Titel nämlich, in eine fast unmerklich leichte Schaukelbewegung zu versetzen. Nicht nur dieses antikapitalistische Auf-den-Kopf-Stellen von Aufwand und Wirkung, auch der Humor der Zweitbedeutung des Titels im Französischen, als umgangssprachlicher Begriff für Burgunderflaschen, erhöhen die poetische Wirkung. Am stärksten wirkt jedoch das Kontrastive der schwarzen Maschinenteile vor dem hellweißem Grund, sodass die Arbeit wahlweise wie ein indonesisches Schattentheater – eine zweite Maschine aus Licht und Schatten dahinter – oder wie der in mehreren Schichten hintereinander gestaffelte und in Eisen dreidimensional ausgeführte Orphismus der Delaunays wirkt, in dem sich auch lyrisch Räder und Formen drehen.
Den Barock und vor allem das Mittelalter mit seinen wandelbaren Flügelaltären und bewegten Erzählungen liebte er, und wenngleich die knapp ein Dutzend Lampen- und Lichterketten-Installationen wie „Café Kyoto“ oder „Mercédès“, die mit ihren bunten Lichtern geheimnisvoll im Dunkel der Halle aufleuchten, japanisch inspiriert sind, finden sich doch in den Girlanden und Licht-Solitären auch figürliche Anteile und Hirschgeweihe, die den Mittelalteraffinen sofort an Dürers Lüsterweibchen erinnern, ein Pasticcio aus Geweihschaufel und Karyatide.
Das Grelle der Pop Art wollte er nicht in seinem Werk
Nur von der bunten Pop-Art wollte sich Tinguely absetzen – seit dem Jahr 1965 und der Arbeit „Ios II“ strich er nahezu alle seine Skulpturenteile schwarz. „Seine“ Künstlerbewegung des Nouveau Réalisme dagegen ließ er in der Aktion „La Vittoria“ 1970 vor dem Dom von Mailand in Form eines Phallus in Flammen aufgehen. Der filmisch verewigten, im katholischen Milano naturgemäß skandalträchtigen Performance, die aber auch an die große Liebe der maschinenaffinen Stadt zu Tinguely erinnert, ist ein eigener Raum gewidmet.
Damit war sein Nachleben längst nicht beendet. Noch die Schweizer Fischli/Weiss beriefen sich auf Tinguely. Ihr legendärer Film „Der Lauf der Dinge“ als Lebensmetapher-Perpetuum mobile aus kollabierenden, abbrennenden und doch weiterrollenden kinetischen Skulpturen ist ohne ihn nicht zu denken. Als Beleg dafür muss man im Hangar nur die mehr als zehn Meter lange „Maschinenbar“ mit zwölf Kunstkammer-Kinesis-Skulpturen sehen. Ein grüner Lodenhut wird da mechanisch gelupft, und ein Schelm ist, wer hier an Wilhelm Tell und den Landvogt Gessler denkt; ein Plastik-Spielzeugclown mit Glocke im kugeligen Unterleib schaukelt klingend auf dem Boden. Der gefleckte Holz-Spielzeughund der Kindheit dackelt mit Kopf und Schwanz wackelnd über diesen Catwalk der Automaten. Die Maschine ist eben nur da ganz Mensch, wo sie spielt.
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