Piranesi, Der runde Turm
aus nzz.ch, 15. 10. 2024 zu öffentliche Angelegenheiten
Die Epochenwende von 1989 brachte mit dem Ende des real existierenden Sozia-lismus einen Triumph des Freiheits- und Gerechtigkeitsgedankens, was manche veranlasste, vom «Ende der Geschichte» zu sprechen. Danach schien das Prinzip der wissenschaftsbasierten, rechtsstaatlich verfassten liberalen Demokratie weltweit konkurrenzlos gesiegt zu haben.
Während der vormoderne Mensch fest in die Netzwerke von Clans und Stämmen integriert war und sein Verhalten streng nach deren Erfordernissen ausrichtete, de-finiert sich der moderne Mensch als Individuum, das seine persönlichen Fähigkeiten zu entwickeln trachtet, einen analytischen Geist ausbildet und sein Verhalten ratio-nalen Prinzipien unterwirft. Diese modernen Individuen lösen sich in der Neuzeit aus den starren, auf genetischer Verwandtschaft basierenden Sozialstrukturen, wer-den mobil und bilden zunehmend Institutionen durch flexiblen und freiwilligen Zusammenschluss nach den Erfordernissen des Geistes, in Form von Städten, Zünften, Universitäten, Unternehmen, modernen Staaten.
Dieser Prozess wurde entscheidend gefördert durch die Ehe- und Familienpolitik der katholischen Kirche: Verbot von Viel- und Verwandtenehe, Förderung der mo-nogamen Kernfamilie mit entsprechenden Erbschafts- und flexiblen Wohnsitznor-men, Förderung einer geistig-religiös begründeten Identität. Ebenso bedeutsam war die Förderung von Alphabetisierung und allgemeiner Lesekultur durch den Prote-stantismus: Jeder Christ war angehalten, die Bibel selbst zu lesen.
All dies und der langsam in Gang kommende technologische Fortschritt traten in ein Verhältnis wechselseitiger Verstärkung – mit tiefgreifenden Konsequenzen für Gehirnfunktion und Psychologie. Selbstdisziplin und Arbeitsethik verbesserten sich. Die Regeln von Logik und Wissenschaftlichkeit wurden erkannt und gelernt.
Es gelang zunehmend, den Denkraum von ausserrationalen Einflüssen wie Instink-ten und Emotionen abzuschirmen. Durch Wissensaneignung entstanden umfassen-de innere Modelle, welche die äussere Lebenswelt in immer mehr Facetten abbil-deten und komplexe Abwägungsentscheidungen in Bezug auf das Gesellschafts-ganze ermöglichten. Theoretische und diskursive Kompetenz entwickelten sich: Dem entwuchs das Bewusstsein, dass der Einzelne perspektivisch beschränkt ist und die Welt immer nur in unvollständigen mentalen Modellen zu erfassen vermag, die niemals ein absolut wahres Abbild der gesamten Realität liefern.
So wurde es möglich, sich in den anderen hineinzuversetzen, um im gewaltfreien Diskurs kreativ mit Meinungen umzugehen und sachlichen Erkenntnisfortschritt zu erzielen.
In dieser Entwicklung kam immer mehr zum Tragen, was die Psychologie als Kohä-renzgefühl bezeichnet. Menschen geniessen kohärente Abläufe desto mehr, je kom-plexer und stimmiger sie geraten. Finden lässt sich das beispielsweise im Erleben einer Gruppe, die im Gleichtakt und unter pulsierendem Licht zu Musik tanzt. Das gilt auch im Geistigen: Philosophen geniessen die Eleganz ihrer Gedankenfiguren, Physiker erleben ihre Theorien als schön. Solch subjektive Kohärenzorientierung hat sich oft als guter intuitiver Wegweiser in Richtung objektiver Wahrheit erwiesen.
Im entwickelten Geist entsteht so eine intrinsische Motivation, die eigene Kohärenz immer weiter zu steigern, Unverbundenes zu verbinden und Widersprüche auszu-schalten. Kognitive Dissonanzen dagegen sind schwer auszuhalten. Von einem Sinnzusammenhang getragen zu sein, füllt den Menschen aus, macht ihn glücklich, ja sogar gesund.
Die Pflege dieses Geistes hat nun zwei ganz zentrale psychostrukturelle Voraus-setzungen, die mit Mühe und Anstrengung verbunden sind. Es muss in grossem Umfang Wissen eingelernt und verinnerlicht werden. Weiter müssen die eingelern-ten Wissensteile im Inneren angepasst und kohärent integriert werden, was oft eigenkreative Ergänzungen erfordert.
Diese mühevolle und langwierige innere Arbeit kann nur gelingen unter der Bedin-gung existenzieller Abgesichertheit, der Verfügbarkeit von Zeit und der Pflege von Konzentration. Solches zu garantieren, ist die Aufgabe von Lehrkräften und Bil-dungseinrichtungen auf allen Stufen.
Allerdings ist es seit dem Siegeszug der Massen- und Konsumkultur, vor allem aber seit dem Aufkommen des Internets um diese Bedingungen nicht mehr zum Besten bestellt. Die Explosion digitaler Inhalte aller Art führt zu einer dramatischen Ver-knappung der Ressource Aufmerksamkeit. Klicks bedeuten im Cyberspace Geld, und diese werden durch Überreizung, Zuspitzung und Emotionalisierung generiert, was zu einem Tsunami von Ablenkung führt. Bewusst werden niedere biologische Instinkte angesprochen, was Kinder und Jugendliche in die Tiktok-Sucht treibt. Auf der Strecke bleiben die Seele und der Geist.
Doch auch wer sich bemüht, seriös mit dem Internet umzugehen, begibt sich in Gefahr: Die äussere Allverfügbarkeit des Wissens untergräbt die Lernmotivation, immer weniger Wissen wird eingelernt und verinnerlicht, Hektik und Ablenkung tun das ihre, um die innere Kohärenzbildungsarbeit zu behindern.
Wohlstandsverwöhnung schlägt Anstrengungsbereitschaft. Die zunehmend fehl-ende gesamthafte innere Repräsentation der Welt führt zu thematischen Veren-gungen und zur Unfähigkeit, komplexe Abwägungen in Graustufen zu treffen. Beides fördert die Neigung zum weltanschaulichen Extremismus.
Die Folgen haben sich schleichend in den letzten zwanzig Jahren entwickelt, sie sind mittlerweile dramatisch, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen: Auf-merksamkeitsspanne, Konzentrationsfähigkeit und Selbstbeherrschung nehmen ab. Das Verständnis komplexer Texte sinkt, Jüngeren geht sogar die Grundfähigkeit für Lesen, Rechnen und Schreiben ab. Psychische Störungen nehmen seit längerem stark zu.
In den Geisteswissenschaften siegt zusehends Ideologie über Wissenschaft, Schwarz-Weiss-Denken hält Einzug, was einen Rückfall in den vormodernen Geist darstellt. Die Verabsolutierung von Opfer- bzw. Tätergruppen etwa bedeutet eine Abkehr vom universalistischen Individualismus und die Hinwendung zu Tribalis-mus, Clan- und Stammesdenken. Einzelaspekte, so sie denn politisch genehm sind, werden aus dem Kontext gerissen und fanatisch überhöht – etwa Fragen der Ge-schlechtlichkeit oder der Sprache. Auch die Klimabewegung leidet unter einer ex-tremistischen Verengung auf das Thema CO2-Reduktion, das in den Kontext ganz-heitlicher Kosten-Nutzen-Rechnungen gehört, um es mit den Folgen in anderen Bereichen abzugleichen: Energieressourcen, Wirtschaftsentwicklung, Armutsbe-kämpfung, Gesundheitsversorgung.
Verloren geht die Diskursfähigkeit, und es blüht der Narzissmus. Argumente wer-den durch Gefühle ersetzt. Was sich gut anfühlt, ist wahr, wer es anders sieht, wird beschimpft und ausgegrenzt. Während man für sich selber grösstes Verständnis einfordert, versagt man dem anderen die Empathie. Die Fähigkeit, seine Gefühls-welt von innen her, durch das Einnehmen von Gegenperspektiven, zu modulieren, geht verloren. Entsprechend laut wird der Ruf nach Schutz durch Regulierung und Gesetz.
In den unterkomplexen Innenwelten werden offenkundige Selbstwidersprüche entweder nicht mehr wahrgenommen oder nicht als störend empfunden: Im Na-men von Antidiskriminierung werden gezielt neue Gruppen diskriminiert; Queere stellen sich an die Seite von Terrororganisationen, die sie steinigen würden; fremde Kulturen werden vergöttert, die eigene Kultur wird verachtet; Antisemitismus kann es nur rechts geben, und Frauenrechte gelten überall, nur nicht in Iran und Afghani-stan; demokratisch gewählte Parteien werden im Namen der Demokratie aus dem politischen Prozess verbannt. Gar nicht zu reden von dem, was in den dunklen bis abgründig bösen Tiefen des Internets abläuft.
Die Kultur des Westens erodiert auf vielen Ebenen, und das verbindende Element ist die Selbstzerstörung des modernen Geistes, der die Bedingungen seines Gedei-hens nicht ausreichend zu begreifen und abzusichern versteht. In der Weltpolitik erleben wir schleichend den Zusammenbruch der regelbasierten Weltordnung. Vor-moderne Kräfte wittern Morgenluft: vom fundamentalistischen Islam über den chi-nesischen Ultranationalismus bis zum revanchistischen russischen Imperialismus. Sie alle riechen die Schwäche des Westens und haben längst einen hybriden Krieg gestartet, dessen Wahrnehmung sich viele im Westen aus Bequemlichkeit und Schwäche lieber verweigern.
Von einem «Ende der Geschichte» kann keine Rede sein. Die aufgeklärte westliche Welt muss vielmehr aufpassen, nicht selbst Geschichte zu werden. Um dem vorzu-beugen, muss der Westen sich auf seine Herkunft besinnen. Nur wenn wir verstehen, warum wir so erfolgreich geworden sind, besteht die Chance auf eine geistige Renaissance und eine Rückkehr in die Zukunft.
Dietmar Hansch ist Arzt, Psychotherapeut und Publizist. Bis 2023 leitete er den Schwerpunkt Angsterkrankungen an der Privatklinik Hohenegg in Meilen.
Nota. - Das geht ganz nüchtern an und man erwartet einen Beitrag des gesunden Menschenverstands. Doch nach und nach beginnts zu schwindeln, man denkt, man geräte in eine Parodie, und wer schon etwas betagter ist, fühlt sich vielleicht an den gottlob kurzlebigen Hoax von Lloyd de Mause's Psychohistory erinnert.
Es beginnt mit einer ganz plausiblen Phänomenologie des souveränen bürgerlichen Subjekts, doch schon, wer sich zum Lesen ein klein' bisschen Zeit nimmt, fragt sich: Wie und warum? Springt das Subjekt wie ein Virus nach und nach von einem Indi-viduum auf das andere über, war das Zeitalter der Vernunft sozusagen ein epidemi-ologisches Ereignis? Es wird zwar an einer Stelle ein überindividueller Akteur bei-läufig erwähnt - die katholische Kirche -, aber als gesellschaftliche Instanz wird auch sie nicht identifziert. Es ist wie bei Max Weber: Die bürgerliche Mentalität erschafft eine bürgerliche Gesellschaft.
Und die war gut, wissen Sie noch? Überall gesunder Menschenverstand, da war die Welt noch in Ordnung. Die Zeit des Kalten Kriegs, nehm ich an, denn mit dem En-de des Realexistierenden fing das Elend an: Mit dem Siegeszug der Massen- und Kon-sumkultur, vor allem aber mit dem Aufkommen des Internets ging alles den Bach runter: Wohlstandsverwöhnung schlägt Anstrengungsbereitschaft, die Kultur des Westens erodiert auf vielen Ebenen, und das verbindende Element ist die Selbstzer-störung des modernen Geistes, der die Bedingungen seines Gedeihens nicht ausrei-chend zu begreifen und abzusichern versteht...
Ich reibe mir die Augen: Hatte sich der "moderne Geist" zwischendurch zu einem über individuellen autonomen Subjekt gemausert? Was ist aus ihm geworden, dass er nun sich selbst zerstört? Hat er sich seiner Schäfchen nicht genügend angenom-men, haben sie selber gar nicht Schuld?
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Ach, er ist ja Psychologe... Dass die bürgerliche Gesellschaft das bürgerliche Subjekt hervorgebracht hat und dass es nunmal nicht über deren Schatten springen kann, darf er einkommensbedingt gar nicht in Erwägung ziehen.
Fehlt nur noch, dass er uns allen seine therapeutische Unterstützung andient.
JE
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