Fragonard, Le philosophe
aus Die Presse, Wien, 14. 10. 2024 Wo bleiben heute die großen Denker? zu Philosophierungen
Die Presse: „Uns gehen die mitreißenden Denker aus“, wurde jüngst in der „NZZ“ geklagt. „Wo bleiben die Nachfolger von Foucault und Habermas?“, also Philoso-phen, die unsere Weltbilder mitbestimmen und in gesellschaftliche Debatten hinein-wirken. Ist die Zeit der epochemachenden Meisterdenker vorbei?
Geert Keil: Sie ist aus guten Gründen vorbei. Um zu den großen politischen Themen der Gegenwart Stellung zu nehmen, vom Nahostkonflikt bis zur Klimaforschung, braucht man ein riesiges Maß an sachlicher Expertise. Wir haben auch einen Strukturwandel in der öffentlichen Kommunikation, wo heute sehr viele Sprecher ihr Wissen oder auch Nichtwissen einspeisen können. Dass es dann noch Leute gibt, die das alles zusammenführen und sich als öffentliche Intellektuelle mit Durchblick und überlegener Urteilskraft aufspielen – nein, solche Figuren haben sich überlebt.
Die Philosophie wirkt heute wie alle Disziplinen: Man schreibt kurze Artikel in Fachjournalen zu sehr speziellen Problemen. Wo bleiben die großen Fragen, der Blick aufs große Ganze?
Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Nehmen wir ein Beispiel: Ich selbst habe viel zu Willensfreiheit gearbeitet – das ist ja nun zweifellos eine große, alte und öffentlichkeitswirksame Frage. Dazu passt der schöne Spruch: Es gibt kein noch so kompliziertes Problem, das nicht, wenn man es richtig angeht, noch komplizierter würde. Es gehört zu den Hauptbeschäftigungen der Philosophie, Antworten auf trügerisch einfache Fragen zu verweigern. Hat der Mensch einen freien Willen oder hat die Hirnforschung diese Annahme widerlegt? Das ist eine schlecht gestellte Entweder-oder-Frage, darauf antworten wir nicht. Stattdessen stellen wir Vorfragen, oft begrifflicher Art: Was sollen wir unter Willensfreiheit sinnvollerweise verstehen? An welchem Verständnis hat sich die Hirnforschung abgearbeitet? Wir zerlegen also eine große Frage. Das wird dann kleinteilig, und das ist auch gut so, obwohl es weniger spannend klingt. Unser Job ist ja, etwas Neues herauszukriegen, und das heißt in der Regel: etwas Kleines herauskriegen. Zusätzlich sollte es Leute geben, die diese zerlegten Teile wieder zusammensetzen und ab und zu ein Sachbuch schreiben, für eine größere Öffentlichkeit. Auch das geschieht bereits.
Aber große Würfe sind selten geworden.
Große neue Ideen klingen oft aufregend. Aber ob sie tatsächlich eine Einsicht enthalten, ist eine andere Frage. Man kann die grobe Regel aufstellen: Je vollmundiger eine These auf den Markt geworfen wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie falsch ist. Denken Sie an Slogans wie „Tatsachen sind konstruiert“ oder „Alle Wahrheiten sind von Menschen gemacht“ – das kommt von Debattenteilnehmern, die noch nie einen Grundkurs in Erkenntnistheorie besucht haben.
Ist die Philosophie eine Wissenschaft?
Wir sollten Wissenschaft als Erkenntnissuche sehen, die methodisch kontrolliert, fehlbar und ergebnisoffen ist. Dazu trägt die akademische Philosophie sicherlich bei. Die besten zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Methoden können auch philosophische sein. Bei manchen Forschungsfragen, die sich naturwissenschaftlich nicht beantworten lassen, sind sie sogar die einzigen.
Auch in der Philosophie dominieren heute Texte auf Englisch. Geraten da nicht alle, die sich in dieser Sprache nicht so elaboriert ausdrücken können, ins Hintertreffen?
Ja, das tun sie, zwangsläufig. Wer kein Native Speaker ist, hat einen echten Nachteil. Ich verliere sicherlich 15 Prozent an Qualität, wenn ich auf Englisch schreibe – und wer kann sich das schon leisten? Aber die Entwicklung liegt nicht in unserer Hand. Irgendeine Lingua franca braucht es, früher war es Latein. Um 1910 mussten Sie als Physiker oder Chemiker Deutsch können – die wichtigen Journale waren alle in deutscher Sprache. Sicher ist es durch die Nazizeit etwas schneller gegangen, dass Deutsch seine Rolle als globale Wissenschaftssprache verloren hat. Aber es war unvermeidlich. Und die Philosophen leiden darunter stärker als etwa die Mediziner. Die Fähigkeit, eine stilistisch gewandte Prosa zu schreiben, ist bei uns wichtiger. Dazu gibt es auch linguistische Untersuchungen: Die Fachsprache der Medizin kommt mit wenigen Dutzend Verben aus. Das wäre für mich furchtbar.
Sie waren Präsident der deutschen Gesellschaft für Analytische Philosophie, der heute weltweit dominierenden Richtung. Was zeichnet sie aus?
Analytische Philosophen möchten nicht durch Assoziationen philosophieren, sondern mit Argumenten. Sie versuchen, sich klar auszudrücken. Dazu gehört auch die Analyse von Begriffen. In der analytischen Philosophie wird das auf Frege, Russell, Wittgenstein zurückgeführt. Aber natürlich sind das Tugenden, um die sich auch schon Aristoteles, Hume oder Kant bemüht haben. Insofern fehlt mir der Gegenbegriff. Man spricht von der „kontinentalen Philosophie“, also vom europäischen Festland – aber die wird sich doch nicht dadurch auszeichnen, dass sie sich nicht um Argumente schert? Die Unterscheidung hat stark an Bedeutung verloren.
Gibt es nicht mehrere gleich gute Wege des Philosophierens?
Es gibt zum Beispiel auch Mystiker. Aber man kann nicht alles zugleich haben. Mir gefällt die Sottise von Lichtenberg über den Mystiker Jakob Böhme: Seine „unsterblichen Werke“ seien „wie ein Picknick, wo der eine die Worte mitbringt und der andere den Sinn“. Diese Spitze mache ich mir zu eigen: Wenn die Gegenstände schon sehr schwierig sind – und das sind sie in der Philosophie durchgängig – dann sollten wir uns bemühen, sie in möglichst klarer, einfacher Sprache darzulegen.
In „Ihrer“ analytischen Philosophie herrscht oft Geschichtsvergessenheit: Man stellt sich eine systematische Frage und ignoriert, dass sie schon viele vor uns umgetrieben hat. Man erfindet das Rad neu, und es wird dann oft eckig …
Da ist einiges dran. Ich selbst sehe Aristoteles, Descartes oder Kant als Gesprächspartner für die Klärung von Fragen, die mich interessieren. Das ist immer lohnend, weil die wahnsinnig schlau waren, die meisten auch schlauer als wir. Wäre ja sehr unwahrscheinlich, dass die Mehrzahl der klugen Gedanken von den Leuten stammen, die jetzt gerade leben. Ein Kollege, der sehr seriös historisch arbeitet, hat einmal gesagt: „Der durchschnittliche Philosophieprofessor bewegt sich in der Geschichte wie ein Fallschirmjäger: Er springt über unbekanntem Gelände ab, ballert ein bisschen rum und verschwindet wieder, mit einem Zitat von Duns Scotus im Gepäck.“ Das finde ich sehr treffend, viele von uns haben diese Mentalität. Wir projizieren: Wir stülpen früheren Denkern unsere Fragen über. Dabei hatten sie andere Fragen, die nur oberflächlich gleich klingen.
Es heißt, Kant sei ein Rassist gewesen. Sollen wir ihn trotzdem noch lesen?
Kant war nach heutigen Standards ein Rassist, die entsprechenden Passagen sind schlimm. Wir haben aber keinen Grund zur Selbstgerechtigkeit: Kant hat sich durch Selberdenken aus mehr Vorurteilen herausgearbeitet als so gut wie alle von uns. Nur: Selberdenken schützt nicht vor groben moralischen Fehlurteilen, auch uns nicht. Seine blinden Flecken sehen wir jetzt, unsere eigenen noch nicht.
Und den Antisemiten Heidegger?
Heideggers Urteilsschwäche ist von einem ganz anderen Kaliber als die von Kant. Was da in den „Schwarzen Heften“ über das „Weltjudentum“ steht – die schiere Anzahl der infamen Verdrehungen, die Heidegger in einem einzigen Satz unterbringt, das kann einem die Sprache verschlagen. Und sein Antisemitismus spielt indirekt, aber wesentlich in seine Philosophie hinein. Er hat die Moderne in allen ihren Erscheinungsformen verachtet: die Technik, das Finanzwesen, das kalkulierende Denken, den Kosmopolitismus, die Demokratie. Eine toxische Mischung, nicht nur in Bezug auf antisemitische Stereotype. Lassen Sie mich etwas übertreiben: Heideggers Werk besteht wesentlich aus philosophisch verbrämten Ressentiments. Dass die Zeitlichkeit unserer Existenz bedeutsam ist, kann man auch ohne seine Lektüre herausbekommen. Und dass es mir Sorge bereiten sollte, dass ich sterben muss, wusste ich auch schon vorher. ...
Nota. - Dies schrieb ich bei einer ähnlichen Gelegenheit:
Nicht die mitreißenden Denker fehlen, sondern mitreißende Gedanken. Das ist nicht trivial. Gedanken müssen in der Luft liegen, um Erfolg zu haben - dann werden sich schon welche finden, die sie publikumswirksam vorzutragen wissen. Wenn aber die Ideen sich als Mehltau niederschlagen, geraten auch die Vorträger in Vergessenheit. Wenn Foucault unlängst wieder Aufmerksamkeit fand, lag das nicht an seinen Ideen.
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