Mittwoch, 22. Mai 2024

Ästhetik und Moral.

MJ, Ghosts                                           
aus spektrum.de, 16. 5. 2024                                                                               zu Geschmackssachen 

Ästhetische Wahrnehmung
Unmoral hemmt Kunstgenuss
Der Maler war offenbar ein Scheusal? Kein Wunder, dass mir sein Bild nicht gefällt!

Wie Kunst auf uns wirkt, hängt auch vom Wissen über den Urheber ab. Ist dieser etwa eines moralischen Vergehens verdächtig, fällt die ästhetische Wirkung seines Werks schwächer aus. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Psychologinnen Hannah Kaube und Rasha Abdel Rahman von der Humboldt-Universität zu Berlin.

Das Forschungsteam hatte Studierenden Bilder von Kunstwerken zur Bewertung vorgelegt, zu denen verschiedene Informationen mitgeliefert wurden. Darunter war beispielsweise ein surrealistischer Frauenakt des Spaniers Salvador Dalí sowie ein vergleichbares Bild, das dem (fiktiven) Maler Santino Martí zugeschrieben wurde. Auf diese Weise sollten sich die bewusst ähnlich gewählten Künstlernamen nur hin-sichtlich ihrer Bekanntheit unterscheiden. Zudem waren in den biografischen Hin-tergrundinfos zu den Malern mal neutrale Details und mal unmoralische Handlun-gen enthalten. So hieß es etwa über Dalí entweder, er sei verheiratet gewesen, oder aber, er habe Frauen sexuell genötigt.

Die Probanden sollten nach jedem präsentierten Bild drei Dinge beurteilen: Wie gut gefiel es ihnen? Wie aufregend fanden sie es? Und wie künstlerisch wertvoll er-schien ihnen das Bild? In einer zweiten Testreihe wurden zusätzlich die elektrischen Hirnströme per EEG gemessen.

Erregung hui, Ästhetik pfui

Wie sich zeigte, sackten sowohl das persönliche Gefallen als auch der vermutete künstlerische Wert unter dem Eindruck der Untat deutlich ab, das Erregungslevel hingegen stieg. Dieser Effekt war bei den berühmten Künstlern nur hinsichtlich der künstlerischen Qualität schwächer ausgeprägt. Vielleicht weil die Teilnehmenden implizit annahmen, bei einem so großen Namen müsse doch etwas an dem Werk »dran sein«.

Die gemessenen EEG-Kurven offenbarten, dass die negativen Informationen vor allem bei den bekannten Künstlern bereits nach 110 bis 160 Millisekunden zu einem größeren Ausschlag einer Hirnstromkomponente namens P1 führten. Die visuelle Verarbeitung unterschied sich also schon in dieser sehr frühen Phase, je nachdem, was die Betrachter über den Künstler wussten.

Die Resultate stützen die Annahme, dass Menschen auf Werke »verdächtiger« Künstler weniger ansprechen. Offenbar kann etwa der biografische Hintergrund durch so genannte Top-down-Prozesse bereits die Aktivität auf frühen Wahrneh-mungsstufen modulieren.

Das erscheint vor dem Hintergrund von Debatten um mutmaßlich übergriffige Re-gisseure wie Roman Polanski oder Dieter Wedel, pädophile Musiker wie Michael Jackson oder andere Kunstschaffende bedeutsam. Wenn sich die Befunde erhärten, führen nicht bloß nachträgliche Bewertungen, sondern bereits grundlegende Modu-lationen in der Sinnesverarbeitung dazu, dass Werke umstrittener Künstler schlech-ter ankommen. Anscheinend kann ein moralischer Wahrnehmungsfilter den Kunst-genuss trüben. Wie bei solchen Studien üblich, klärte man die Probanden übrigens im anschließenden Debriefing darüber auf, dass die bösen Gerüchte über Dalí und Kollegen nur für das Experiment erfunden worden waren.

 

Nota. - Sagt uns das irgendwas über das Verhältnis von Ästhetik zu Moral und besonders Sexualmoral? Natürlich nicht. Sondern nur darüber, wie leicht es ist, einen Künstler durch persönliche Verunglimpfung am Markt zu schaden. Welche Verunglimpfungen öffentlich wirksamer sind als andere, ist eine Frage für sich. Zwischen Moral und Öffentlicher Meinung ist aber zu unterscheiden. Denn welche Rolle die Wahrhaftigkeit der öffentlichen Beschuldigungen spielt, wurde nicht ge-fragt. Dass aber Sex mehr erregt als irgendwas anderes, habe ich irgendwo schon-mal gelesen.
JE

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