Sonntag, 26. Mai 2024

Die Zeit wird knapp.


aus nzz.ch, 25.05.2024                                                                                            zu öffentliche Angelegenheiten

Eine parteiübergreifende Allianz in Deutschland plädiert für den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Boden
Immer wieder greifen Putins Truppen die Ukraine von russischem Staatsgebiet aus an. Doch die Verteidiger dürfen die vom Westen gelieferten Waffen nicht zur Abwehr jenseits der Grenze einsetzen. 
 
Nun kommt Bewegung in die Debatte, auch in Deutschland.

von 
Marco Seliger, Berlin

In Anbetracht der Lage in der Ukraine hat in Deutschland offenbar ein Umdenken über den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Boden eingesetzt. Nachdem am Freitag Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Verbündeten aufgefordert hatte, die restriktiven Einsatzregeln zu lockern, sprachen sich am Samstag auch namhafte deutsche Politiker aus Regierung und Opposition dafür aus.&nbsp Aus den USA waren bereits Ende der Woche entsprechende Signale zu vernehmen gewesen. Das russische Regime in Moskau hatte daraufhin die Regierung in Washington vor einem entsprechenden Schritt gewarnt.

Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der Sozialdemokraten, erklärte gegenüber der NZZ, unter der Bedingung, dass die USA und die anderen Verbündeten zusammen mit Deutschland zu einem entsprechenden Beschluss kämen, sei der Einsatz westlicher Waffen auf russischem Territorium für ihn vertretbar. Völkerrechtlich sei er eindeutig vom Selbstverteidigungsrecht der Ukraine gedeckt.

Anton Hofreiter, außenpolitischer Fachmann der Grünen und Vorsitzender des Europa-Ausschusses des Bundestags, sagte, es gehe um den Schutz der ukrainischen Bevölkerung. «Daher sollten wir die Ukraine nicht daran hindern, mit den gelieferten Waffen russische Kampfjets auch im russischen Luftraum abzuwehren», äußerte er in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Alexander Müller, verteidigungspolitischer Sprecher der Liberalen, erklärte, wenn die russische Armee, wie in Charkiw, unmittelbar die ukrainische Grenze angreife, wo es kein ukrainisches Hinterland gebe, dann müsse auch die Wirkung auf die Militärbasen der Angreifer auf deren Territorium möglich sein.

Scholz soll endlich Taurus liefern

Damit plädierten wichtige Parlamentarier aller drei Regierungsparteien dafür, das Einsatzverbot auf russischem Boden zu beseitigen. Dabei haben sie die oppositionelle Union an ihrer Seite. Fraktionsvize Johann Wadephul sagte der NZZ, «westliche Beschränkungen bei der Nutzung von uns gelieferter Waffen helfen nur Russland und sollten sofort aufgehoben werden». Nach wie vor, meinte er weiter, bleibe der Kanzler aufgefordert, endlich die Taurus-Lieferung zu ermöglichen.

Seit gut einem Jahr diskutiert die Politik in Berlin über eine Lieferung dieses Waffensystems an die Ukraine. Bundeskanzler Olaf Scholz weigert sich bisher und steht dabei einer Front aus seinen Koalitionspartnern Grüne, FDP und Teilen seiner SPD sowie der Union gegenüber. Scholz lehnt die Taurus-Lieferung unter anderem mit der Begründung ab, es sei nicht auszuschliessen, dass der Marschflugkörper von den Ukrainern gegen Ziele auf russischem Boden eingesetzt würde. Taurus hat eine Reichweite von etwa 500 Kilometern.

Die Taurus-Befürworter in Berlin hatten bisher argumentiert, es gebe keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die Ukrainer die Restriktionen für den Waffeneinsatz beachten würden. Das hätten sie bisher auch getan. Die Debatte fand also vor dem Hintergrund statt, dass Taurus nur innerhalb der Ukraine gegen russische Ziele, etwa die Brücke von Kertsch auf die Krim, eingesetzt würde. Nun aber gehen die Überlegungen in Berlin offenkundig darüber hinaus. Russische Ziele auf russischem Boden mit westlichen Waffen anzugreifen, erscheint jetzt zumindest Fachpolitikern als legitim.

Befeuert wurde dieser Wandel mutmaßlich von den Entwicklungen auf dem Gefechtsfeld. Seit Wochen attackieren russische Truppen die grenznahe Region um Charkiw. Die Millionenstadt im Nordosten der Ukraine liegt immer wieder unter russischem Beschuss. Die Angriffe erfolgen zumeist aus Gebieten hinter der Grenze, gegen die sich die Ukrainer mit westlichen Waffen bisher nicht wehren können. Präsident Wolodimir Selenski hatte diese Einschränkungen erst vor gut einer Woche kritisiert. Russland könne von seinem Gebiet aus sämtliche Waffen auf die Ukraine abfeuern, während dies seinem Land umgekehrt nicht möglich sei. «Das ist der größte Vorteil, den Russland hat», sagte Selenski in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP.

Der Völkerrechtsexperte Matthias Herdegen von der Universität Bonn sieht das Recht aufseiten der Ukraine. «Das Recht auf Selbstverteidigung deckt gerade militärische Operationen auf dem Territorium des Angreiferstaates», äussert er. Gerade dafür sei es da. Wenn westliche Staaten den Einsatz der gelieferten Waffensysteme auf das Gebiet der Ukraine beschränkten, sei dies allein eine Frage der politischen Opportunität, sei es aus Sorge um eine Eskalation oder aus reiner Ängstlichkeit vor dem Kreml, meint Herdegen.

Am Freitag erklärte Nato-Generalsekretär Stoltenberg in der britischen Wochenzeitung «Economist», es sei an der Zeit, dass die Verbündeten darüber nachdächten, ob sie einige der Beschränkungen für den Einsatz von Waffen, die sie der Ukraine zur Verfügung gestellt haben, aufheben sollten. «Besonders jetzt, wo ein Grossteil der Kämpfe in Charkiw nahe der Grenze stattfindet, ist es für die Ukraine sehr schwierig, sich zu verteidigen, wenn ihr die Möglichkeit genommen wird, diese Waffen gegen legitime militärische Ziele auf russischem Gebiet einzusetzen.»

Zugleich räumte Stoltenberg, der im Oktober nach zehn Jahren im Amt seinen Posten aufgeben wird, das Risiko einer Eskalation ein. Es gehe darum, «zu verhindern, dass dieser Krieg zu einem ausgewachsenen Krieg zwischen Russland und der Nato in Europa wird», sagte er. Er unterschied jedoch zwischen der Lieferung von Waffen und Ausbildung sowie einem direkten militärischen Engagement der Nato. Die Allianz biete der Ukraine Ausbildung, Waffen und Munition an, werde aber nicht direkt von Nato-Territorium aus in Kampfhandlungen über oder in der Ukraine eingreifen.

Der Bundeskanzler äussert sich ablehnend

Sein Amtsvorgänger Anders Fogh Rasmussen hatte Mitte Mai gefordert, die Nato-Länder in Osteuropa sollten die Möglichkeit erhalten, russische Raketen und Drohnen, die auf die Ukraine zufliegen, mit bodengestützten Flugabwehrsystemen abzuschiessen. Stoltenberg wies diesen Vorschlag zurück. «Wir werden uns nicht an diesem Krieg beteiligen», sagte er dem «Economist». Die Nato sei nicht vor 75 Jahren gegründet worden, um einen Krieg zu führen, sondern um ihn zu verhindern. Auch in der deutschen Politik stossen die Überlegungen Rasmussens auf weitgehende Ablehnung.

Die «New York Times» hatte zuletzt berichtet, US-Aussenminister Antony Blinken wolle dafür werben, der Ukraine den Einsatz amerikanischer Waffen auf russischem Gebiet zu ermöglichen. Blinken war in der vergangenen Woche zum vierten Mal in seiner Amtszeit in Kiew und soll nach seiner Rückkehr für eine Lockerung der bisherigen Regeln plädiert haben. Präsident Joe Biden und der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan mahnen bisher zur Vorsicht und lehnen den Einsatz amerikanischer Waffen auf russischem Gebiet ab.

Diese Haltung hat offensichtlich auch nach wie vor der deutsche Kanzler. Am Freitag, noch vor der Veröffentlichung des «Economist»-Interviews mit Stoltenberg, sagte Scholz bei einem Besuch des portugiesischen Ministerpräsidenten in Berlin, es mache «überhaupt keinen Sinn, irgendwelche Spekulationen darüber anzustellen, was irgendwer irgendwo erwägt». Es sei sehr viel wichtiger, darauf hinzuweisen, «dass wir sehr klare Regeln haben». Damit wollte Scholz mutmaßich ausdrücken, dass er einen Einsatz westlicher Waffen auf russischem Boden ablehnt.

Allerdings war Scholz bisher immer ein Befürworter eines mit den Amerikanern und anderen wichtigen Nato-Partnern abgestimmten Vorgehens. Wenn am Sonntag Emmanuel Macron zu einem dreitägigen Staatsbesuch nach Deutschland kommt, kann er zumindest schon einmal den französischen Präsidenten fragen, wie dessen Position ist.

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