Donnerstag, 16. Mai 2024

Das Spiel, der Flow und der Ursprung der Vernunft.

                                                                   zu Jochen Ebmeiers Realien

Das Spielen ist nicht weniger als das zweckhafte Arbeiten eine ausschließende Grundbestimmung des Menschlichen und gehört insofern zu den Fundamenten der Anthropologie. Gewiss spielen auch höhere Tiere, zumal in ihrer Kindheit. Aber meist wächst es sich aus mit dem Älterwerden, und jedenfalls hat keine andere Gattung das Spiel zu einem festen Bestandteil ihrer Lebenswelt ausgebaut. Die Menschen haben in Kunst, Unterhaltung und Sport daraus Kulturinstanzen gemacht.

Und mehr noch. Sie verdanken ihm darüberhinaus ihre Sonderstellung in und fast schon über der Natur: die Erschaffung der Vernunft.

*

Seine im Ackerbau entwickelte Fähigkeit, durch Arbeit mehr zu erzeugen, als er zum Leben braucht, machte eine Anschatzung von Reichtümern möglich, die ihrerseits der menschlichen Existenz einen grundsätzlich luxuriösen Zug eintrug. Zugleich wurde die Arbeit zu einem Fluch, indem sie Reiche und Arme schied und periodische Hungersnöte unvermeidlich machte. Alle menschliche Tätigkeit geriet in den Zwiespalt von Not und Überfluss - und von Zwang und Spiel. 

Erst durch diese Spannung erwächst dem, was ursprünglich locker beiläufiges Tändeln war, die Dimension des Flow: Der 'Zustand, in dem Handlung und Bewusstsein verschmelzen, fühlt sich frei an'. Erst im Gegensatz zur Notdurft wird Freiheit als Möglichkeit erfahrbar - und wiederum treten Handlung und Bewusstsein als Bedingung des Wählens aus einander

Und sehn Sie: Das war der Ur-Sprung der Vernunft.


Die Kindlichkeit des Kindes und die Künstlichkeit der Kunst haben einen gemein-samen Nenner, und zwar: eine Sache um ihrer selbst willen tun. Es ist die Art von Tätigkeit, die landläufig Spiel genannt wird. Immer wieder hat man versucht, das Spiel definitorisch gegen die Arbeit abzusetzen. Vergeblich. Nämlich solange der Unterschied in den technischen, ergonomischen Merkmalen der Tätigkeit selbst gesucht wurde.

Der Unterschied liegt in ihrer verschiedenen Bedeutung fürs Leben. Arbeit ist eine Tätigkeit, die um eines gesetzten Zweckes willen geschieht. Der Zweck ist ihr Was, die Unbotmäßigkeit des toten Stoffs bestimmt das Wie: An der Sicherheit, mit der sie den Stoff dem Zweck anverwandelt, mißt sich ihre Qualität.

Und wenn es möglich wird, die Tätigkeit zu ersparen und ihre Qualität den Ma-schinen einzubauen, umso besser. Industriearbeit, Lohnarbeit ist die „reine“ Form der Arbeit. Nicht logisch, aber historisch, und darauf kommt’s an. Sie ist die Art von Tätigkeit, die gesellschaftlich gilt – qua Tauschwert, denn der ist der allgemein-ste Zweck. Die Mühsal ist, allen Etymologien zum Trotz*, kein Bestimmungsgrund von Arbeit. Wenn Arbeit Spaß macht, hört sie nicht schon auf, Arbeit zu sein.

Spiel dagegen wird „um seiner selbst willen“ getan. Aber was bedeutet das? Daß es „befriedigt“? Dann wäre die Befriedigung Zweck, nicht die Tätigkeit, und wir wür-den uns im Kreise drehn. Das Eigentümliche am Spiel ist aber, daß vorher nicht feststeht, ob es befriedigen wird oder enttäuschen. Das Eigentümliche am Spiel ist sein offener Ausgang. Daß es also keinen Zweck hat.

Es werden Folgen eintreten, wie bei allem, was man tut. Aber man weiß nicht, wel-che. Man kann sie nicht „bedenken“. Man mag sie erahnen oder erhoffen, aber man muß es wohl drauf ankommen lassen… Spiel ist Risiko, und das Risiko ist sein Zweck. Es lebt vom Zauber des Unbestimmten. Arbeit dagegen will Bestimmtheit.

Die Unbestimmtheit der Zwecke – daß man erst sehen wird, was es werden soll, wenn es etwas geworden ist -, das macht Kunst zum Spiel. Die Künstler der Ver-gangenheit waren sich ihrer Zwecke freilich sicherer als die heutigen. Sie wußten sich beauftragt. Zuerst von geistlichen, dann von immer weltlicheren Mächten. Erst als der Markt die Künstler vom Geheiß der Auftraggeber befreit und ihre Existenz aber auch unsicher gemacht hatte, wurde der Ausgang der künstlerischen Tätigkeit offen. Kunst trat in einen polemischen Gegensatz zur Bürgerlichkeit – d. h. zur Arbeit.                                       aus Von der Künstlichkeit des Kindes und der Kindlichkeit der Kunst

 
 
Rhetorisch wird oft der Künstler mit dem Kind verglichen: „Ein Werden und Ver-gehen, ein Bauen und Zerstören ohne jede moralische Zurechnung in ewig gleicher Unschuld hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes.“29 Das ist mehr als eine blumige Metapher. Der holländische Verhaltensforscher und Tier-psychologe F.J.J. Buytendijk sekundiert: „Wie der Künstler reflektiert das spielende Kind nicht auf das Wie, Was und Warum seines Tuns. Dabei ist seine Tätigkeit ein wirkliches Unternehmen, das freilich nicht genau auf ein Ziel gerichtet ist, sondern sein Tun hat das Abenteuerliche eines Wagnisses. Es kann gelingen oder nicht.“ Es hat dieselbe Quelle wie die ästhetische Produktion im engeren Sinn: „Das menschli-che Spiel ist eine wundersame Freude am Schein. Wir spielen tatsächlich immer mit Bildern, die mit uns spielen.“30 

Hans-Georg Gadamer schließt den Kreis: „Sich-Darstellen ist das wahre Wesen des Spiels – und des Kunstwerks.“31 Aber er erinnert: „Der Reiz des Spiels liegt in dem Risiko.“32 Darum ist der Künstler ein aufreizendes Denkmal unserer Vorzeit: weil er gewagt hat. Er hat seinen Weg ins Ungewisse entworfen, einen Weg durch die – ja, doch: durch die Gefahr. Ist er der wahre Erwachsene? Und liegt der Unterschied zwischen Kindlichkeit und Erwachsenheit doch nicht da, wo J.H. van den Berg dachte? Oder nicht mehr da? Oder wieder nicht mehr da? Liegt womöglich unsere Zukunft in unserer Vergangenheit? 
 
29) Fr. Nietzsche, „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“, aaO Bd. III, S. 376
30) F.J.J. Buytendijk, „Das menschliche Spiel“ in: H.-G. Gadamer (Hg.), Neue Anthropologie, Bd. IV: Kulturanthropologie, Stgt. 1973, S. 109 
31) Buytendijk aaO, S. 95                                                                                    aus Homo ludens victor.


Arbeit und Spiel unterscheiden sich nicht in technologischer, nicht in ‚ergonomi-scher’ Hinsicht. Ist Arbeit das, was Mühe -, und Spiel das, was Spaß macht? Je tiefer das Kind im Spiel versinkt und ‚sich vergisst’, umso mehr Energie verbraucht es – und schwitzt. Manchem macht seine Arbeit – manchmal – Spaß. Warum aber so selten? Nicht, weil er schwitzt, sondern weil er sie nicht gewählt hat: Ein andrer hat sie ihm übergeholfen.

Da kommen wir der Sache schon näher. Arbeit erscheint umso mühseliger, macht umso weniger Spaß, je mehr sie einem fremden Zweck unterliegt. Arbeit ist gebun-denes Tun nach vorgegebenem Zweck. Spiel ist freies Tun ohne Zweck; oder: nach einem Zweck, der „sich findet“ – in dem, mit dem, durch das Spiel.

Denn das haben Kunst und Spiel gemeinsam: eine Sache um ihrer selbst willen tun. Arbeit ist eine Tätigkeit, die um eines Andern, nämlich eines Zweckes willen ge-schieht. Der Zweck ist ihr Was, die Unbotmäßigkeit des toten Stoffs bestimmt das Wie: An der Sicherheit, mit der sie den Stoff dem Zweck anverwandelt, misst sich ihre Qualität. Und wenn es möglich wird, die Tätigkeit zu ersparen und ihre Quali-tät den Maschinen einzubauen, umso besser. Industriearbeit, Lohnarbeit ist die „reine“ Form der Arbeit. Nicht logisch, aber historisch, und darauf kommt’s an. Sie ist die Art von Tätigkeit, die gesellschaftlich gilt – qua Tauschwert, denn der ist der allgemeinste Zweck.

Spiel dagegen wird „um seiner selbst willen“ getan. Aber was bedeutet das? Dass es „befriedigt“? Dann wäre die Befriedigung Zweck, nicht die Tätigkeit, und wir wür-den uns im Kreise drehn. Das Eigentümliche am Spiel ist aber, dass vorher nicht feststeht, ob es befriedigen wird oder enttäuschen. Das Eigentümliche am Spiel ist sein offener Ausgang. Dass es also keinen Zweck hat. Es werden Folgen eintreten, wie bei allem, was man tut. Aber man weiß nicht, welche. Man kann sie nicht „be-denken“. Man mag sie erahnen oder erhoffen, aber man muss es wohl drauf an-kommen lassen... Spiel ist Risiko, und das Risiko ist sein Zweck. Es lebt vom Zau-ber des Unbestimmten. Arbeit dagegen will Bestimmtheit.

Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und
Zerstören in ewig gleicher Unschuld hat in
dieser Welt allein das Spiel des Künstlers
und des Kindes. 
Nietzsche 

Die Unbestimmtheit der Zwecke – dass man erst sehen wird, was es werden soll, wenn es etwas geworden ist -, das macht Kunst zum Spiel. Die Künstler der Ver-gangenheit waren sich ihrer Zwecke freilich sicherer als die heutigen. Sie wussten sich beauftragt. Zuerst von geistlichen, dann von immer weltlicheren Mächten. Erst als der Markt die Künstler vom Geheiß der Auftraggeber befreit und ihre Existenz aber auch unsicher gemacht hatte, wurde der Ausgang der künstlerischen Tätigkeit offen. Kunst trat in einen polemischen Gegensatz zur Bürgerlichkeit – d. h. zur Arbeit. Der Künstler wurde vor die Tür gesetzt und lebt seither in einem Reich des Ungewissen. Wie die Kinder. Nur am Sonntag ließ man ihn in die gute Stube: wie die Kinder. In ihnen beiden hat unser Gattungsstil überlebt, als Residuum. Der Vergleich von Kunst und Kindheit ist mehr als eine Metapher. Denn ist der Künst-ler immer ein bisschen wie ein Kind, so ist das Kind, mit Maurice Ravel zu reden, „von Natur künstlich“.                             aus Wird Homo ludens den Homo faber unterkriegen? 


Was immer Spiel sonst auch sei - in jedem Fall ist es eine Tätigkeit, die um ihrer selbst willen ausgeübt wird. Natürlich kann man  dabei auch immer was lernen, und vielleicht gründlicher, als wenn das Lernen gewollt wäre. Wenn das der Fall ist und das Lernen zum Zweck wird -, dann ist es eben kein Spiel mehr. "Spielerisch ler-nen" ist eine Wortblase im Munde von SchlaubergerInnen, die die Kinder nicht ernstnehmen. Denn auch das Lernen kann ihnen ja Freude machen, zum Beispiel, wenn sie das, was sie lernen sollen, selber entdecken müssen. Dafür die Gelegen-heiten schaffen ist die Arbeit von LehrerInnen.                                                                                                      aus Spielen heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun

 
Die Doppelnatur des Menschen, mal Natur-, mal Vernunftwesen, kommt in seiner zwiespältigen Triebstruktur zum Ausdruck: Dem „sinnlichen Trieb“, der auf die Be-friedigung der Bedürfinisse in der Zeit gerichtet ist, steht ein „Formtrieb“ gegen-über, der auf die – logische und moralische – höhere Bestimmung des Menschen in der Ewigkeit zielt. Der eine kommt aus dem prallen Leben, der andre reißt ihn über dessen Verstrickungen hinaus. Nur seinem sinnlichen Trieb preisgegeben, bleibt der Mensch eine Art Gemüse. Nur dem Formtrieb verfallen, erstirbt er dem Leben. Doch es gibt ein Drittes, „in welchem beide verbunden wirken“: der Spieltrieb. [45] Der Gegenstand des sinnlichen Triebs heißt Leben, der des Formtriebs heißt Ge-stalt; „der Gegenstand des Spieltriebs wird also lebende Gestalt heißen können – ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinung und dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient“.[46] Im Spiel sind beide Naturen des Menschen zwanglos vereint, indem „gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, das ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet. Mit dem Angenehmen“ – dem Gegenstand des Bedürfnisses, – „mit dem Guten und Vollkommenen“ – dem Gegenstand des Formtriebs – „ist es dem Men-schen nur ernst“, und wer kann das aushalten? „Aber mit der Schönheit spielt er. Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Er spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“[47]  

Dann – mit dem 19. Brief – bricht Schiller seinen Gedankengang plötzlich ab. So-eben hat er Fichtes „Wissenschaftslehre“ gelesen.[48] Die beiden ‚Triebe’ läßt er nun beiseite, als legten sie einander brach: „Die Entgegensetzung zweier Naturnotwen-digkeiten gibt der Freiheit ihren Ursprung”! Seither gibt es „in dem Menschen keine andere Macht als seinen Willen“. Jene „mittlere Stimmung“, wo die Triebe verstum-men und der Mensch in seinen ursprünglichen „negativen Zustand der bloßen Be-stimmungslosigkeit“ zurückkehrt, diesen „Zustand der realen und aktiven Bestimm-barkeit“ muß man „den ästhetischen heißen“. „In dem ästhetischen Zustand ist der Mensch also Null“, nämlich „an Inhalt völlig leer“, und findet sich in der Freiheit wieder, „aus sich selbst zu machen, was er will. Das Vermögen, welches ihm in der ästhetischen Stimmung zurückgegeben wird“, ist „als die höchste aller Schenkungen zu betrachten“, und es ist „nicht bloß poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die Schönheit unsre zweite Schöpferin nennt.“[49]

[45] Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen, zuerst erschienen in Schillers Zs. Horen; hier zit. nach: Fr. Schiller, Ausgewählte Werke Bd. 6, Stuttgart 1950 (Cotta) , S. 285 
[46] ebd, S. 287 
[47] ebd, S. 290f. 
[48] Fichtes Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre erschienen seit dem Frühjahr 1794 bogenweise als Handschrift für seine Zuhörer. Neu: Hamburg 1979 (PhB); auch in: Fichte, Sämtliche Werke Bd. I, Berlin 1971. – Beide waren Professoren in Jena, Schiller für Geschichte, Fichte für Philosophie. 
49] Schiller aaO, S. 305-310                                                                                                              
aus Schillers Spieltrieb  

Nachtrag. 

"Die Doppelnatur des Menschen" ist keine Natur-, sondern eine Refle-xionsbestimmung. Erst nachdem die Menschen die Welt, in der sie die-se und jene Zwecke zu verwirklichen haben, je nach den Mitteln, die sie dazu einzusetzen finden, in Geist und Soff unterteilt hatten, kamen die auf den Einfall, auch sich selber diese beiden Bestimmungen zuzu-rechnen als zwei verschiedene, aber unvermeidlich komplementäre "Vermögen".


Um wirklich zu spielen, muss der Mensch, solange er spielt, wieder Kind sein.

Johan Huizinga, Homo ludens


Zweierlei will der echte Mann: Gefahr und Spiel.  ...  Im echten Manne ist ein Kind versteckt, das will spielen." 

Nietzsche, Reden Zarathustras


Die Freude am Spiel ist das schlechterdings ästhetische Vermögen: die Bereitschaft, die 'Sachen' nicht nur so anzuschauen, sondern so für wahr zu nehmen, als ob sie 'an und für sich selber' wären; nämlich ohne irgend ein Verhältnis zu irgend einem Andern, und vor allem nicht: zu meinem 'Bedürfnis'. Es ist eo ipso die Kraft zur Abstraktion und ergo der Reflexion. Kurz, am "Grunde" der Vernunft steht das Spiel – als die spezifisch männlich-kindliche Leistung

Der Gedanke, dass die Dinge so, wie sie im Fluss des Geschehens erscheinen, eben nicht 'an und für sich' sind, ist alles andere als ein naturwüchsiger; er kommt un-deutlich erst bei den ionischen Naturphilosophen und ausdrücklich erst bei den Eleaten vor.                                                                                 aus Über das Spielen.

 

Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

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