Montag, 6. Mai 2024

Warum die Zeit eine Katze ist


aus derStandard.at, 5. 5. 2024                                                                         zu Jochen Ebmeiers Realien

Die Zeit ist eines der größten Rätsel der Physik. Je mehr wir darüber herausfinden, umso wirrer wird unser Verständnis davon, was die Zeit eigentlich ist

In der historischen Perspektive zeigt sich, dass im Laufe der Jahrhunderte nicht nur sehr unterschiedliche Konzepte über die Zeit vorgestellt worden sind. Immer wieder haben sich diese auch fundamental widersprochen. Ein legendäres Match der intellektuellen Giganten, das europäische Gelehrte jahrhundertelang in den Bann nahm, war jenes zwischen Aristoteles und Isaac Newton.

Maß der Veränderung

Für Aristoteles war Zeit einfach das Maß für Veränderung, sei es innerlich oder äußerlich. Ohne Veränderung vergeht demnach keine Zeit. Komplett im Widerspruch dazu stand hingegen Newtons Zeitverständnis. Für ihn war Zeit absolut und unveränderlich, wie ein unbarmherziges, unfehlbares Uhrwerk, das einen fixen Takt vorgibt, aber von uns, unseren Taten und unserem Empfinden völlig unbeeindruckt ist.

Albert Einsteins Relativitätstheorie hat unser Verständnis von Zeit abermals grundlegend revolutioniert. Und obwohl die Theorie inzwischen 100 Jahre auf dem Buckel hat, wir also allerhand Zeit hatten, uns daran zu gewöhnen, und obwohl sie vielfach experimentell bestätigt worden ist, kann sie uns immer noch ins Staunen versetzen. Gemäß der Relativitätstheorie ist es so, dass die Zeit im Gebirge schneller vergeht als im Tal. Das hat mit dem Effekt der Schwerkraft auf die Zeit zu tun. Genau genommen vergeht die Zeit – wenn wir aufrecht stehen – für unseren Kopf etwas schneller als für unsere Füße. Äußerst sonderbar!

Zeitschleife
Die Relativitätstheorie hat unser Verständnis von Zeit grundlegend verändert.

Unvermeidliche Zeitreisen

Wie Einstein erkannte, ist die Zeit aber nicht nur von der Gravitation abhängig, sondern auch von der Bewegung. Synchronisiert man zwei Uhren und schickt eine mit dem Flugzeug um die Welt, während die andere an derselben Position bleibt, und vergleicht sie dann wieder, geht die stationäre Uhr ein wenig voraus. Bewegte Uhren ticken dagegen langsamer. Auch dieser Effekt wurde vielfach experimentell bestätigt und wird beim Navigationssystem GPS bei der Berechnung der Laufzeit des Lichts einkalkuliert. Wäre das nicht der Fall, könnte uns das Navi nicht so genau durch die Stadt dirigieren. Wenn wir ein Smartphone nutzen, verwenden wir also Einsteins kuriose Theorie. Aber wie lässt sich all das verstehen?

Eine besonders merkwürdige Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist, dass wir täglich Zeitreisen unternehmen. Und das hat folgenden Hintergrund: Immer, wenn wir uns relativ zu etwas bewegen, vergeht für uns die Zeit etwas langsamer als für die relativ zu uns ruhenden Objekte. Wenn wir also in der Früh unsere Wohnung verlassen, uns quer durch die Stadt bewegen und am Abend wieder heimkehren, dann ist für uns etwas weniger Zeit vergangen als für die Objekte in unserer Wohnung. Anders gesagt: Wir sind um winzigste Bruchteile von Sekunden in die Zukunft gereist!

Determinismus unterlaufen

Zugegeben, der Effekt ist nicht besonders stark ausgeprägt, solange wir uns nicht mit annähernd Lichtgeschwindigkeit bewegen (dann allerdings würde er gewaltig ausfallen). Dennoch ist bemerkenswert, dass Zeitreisen gemäß der Physik nicht nur möglich, sondern unvermeidlich sind. Die Relativitätstheorie hat aber längst nicht das letzte Wort bei unserem Verständnis von Zeit gesprochen. Denn die zweite große Theorie der modernen Physik ist die Quantentheorie, und sie basiert auf einem gänzlich anderen Zeitbegriff. Während die Zeit in der Relativitätstheorie in einer komplizierten Geometrie mit dem Raum verwoben ist, tritt sie in der Quantenphysik einfach als Parameter in den Formeln in Erscheinung.

Zudem gibt es in der Quantenphysik kuriose Phänomene, in denen sich Quantensysteme völlig zufällig verhalten und damit den Determinismus unterlaufen oder gar die zeitliche Ordnung durcheinanderbringen. Darüber hinaus ist die Quantenphysik, wie der Name schon sagt, von einer Quantisierung, also einer Granularität, geprägt: Für alle Phänomene gibt es eine kleinste Größenordnung, auch für die Zeit. All diese Quanteneigenschaften vertragen sich ganz und gar nicht mit Einsteins Zeitverständnis.

Größtes Rätsel der Physik

Seit inzwischen hundert Jahren besteht die größte ungelöste Aufgabe der Physik darin, die Relativitätstheorie mit der Quantenmechanik in einer gemeinsamen Theorie zusammenzuführen. Das dazugehörige Forschungsfeld trägt den Namen Quantengravitation, und einer der bekanntesten Protagonisten in diesem Feld ist der italienische Physiker Carlo Rovelli. Er ist einer der Begründer der Schleifen-Quantengravitation, die eine Lösung für das größte ungelöste Problem der Physik darstellen könnte.

Noch ist diese Theorie nicht durch Experimente abgesichert, und mit der Stringtheorie gibt es einen prominenten Konkurrenten. Doch nachdem die Stringtheorie seit Jahrzehnten vergeblich nach experimentellen Belegen fahndet, könnte sich der Newcomer Schleifen-Quantengravitation vielleicht durchsetzen.

Der italienische Physiker Carlo Rovelli beschäftigt sich seit Jahrzehnten intensiv mit der Natur der Zeit.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Die Frage, was die Zeit eigentlich ist, steht seit Jahrzehnten im Zentrum von Rovellis Forschung. Und wie sich dabei gezeigt hat, scheint die Zeit in den fundamentalen Gleichungen der Schleifen-Quantengravitation zu verschwinden. Doch wie lässt sich das erklären?

Der Knackpunkt ist für den theoretischen Physiker, dass wir es bei der Zeit mit einer sehr komplexen Angelegenheit zu tun haben. "Auch Katzen zu verstehen ist eine sehr komplexe Sache", sagt Rovelli. Man müsse dafür viel über Chemie, Biologie und vieles weitere wissen. So sei es wenig verwunderlich, dass auch "Katzen in den grundlegenden Gleichungen der Physik nicht enthalten sind".

So wie die Zeit sind Katzen weder in den Maxwell-Gleichungen noch in den Einstein-Gleichungen enthalten. "Das liegt nicht daran, dass Katzen im Widerspruch zu den Gleichungen stehen", sagt Rovelli, sondern einfach daran, dass die Verbindung von der grundlegenden Physik der Elementarteilchen bis hin zur Komplexität von Katzen zu kompliziert sei, um das in den Grundgleichungen der Physik abzubilden. "Ich denke, mit der Zeit ist es so wie mit Katzen: Sie ist real, aber sehr kompliziert."

Wärme und Zeitpfeil

Eine andere rätselhafte Eigenschaft der Zeit betrifft ihre Richtung. Denn woraus ergibt sich überhaupt der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft? Erstaunlicherweise gibt es in den Gesetzen der Physik keinen Hinweis darauf, warum die Zeit eine Richtung hat – mit einer Ausnahme: der Thermodynamik. "In den elementaren Gleichungen der Welt taucht der Zeitpfeil nur dann auf, wenn Wärme vorhanden ist", bringt Rovelli die Causa auf den Punkt. "Zwischen Zeit und Wärme besteht also eine tiefgreifende Beziehung: Wann immer ein Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft zutage tritt, dann durch Wärme." Alle anderen Phänomene in der Physik, an denen Wärme nicht beteiligt ist, können sich genauso gut vorwärts wie auch rückwärts ereignen, ohne damit den Gesetzen der Physik zu widersprechen.

Die Physik spielt zwar eine gewichtige Rolle beim Verständnis der Zeit, gleichzeitig gibt es aber auch andere Disziplinen, die dabei ein Wörtchen mitzureden haben. Legendär ist beispielsweise die Debatte, die sich Albert Einstein und Henri Bergson am 6. April 1922 in Paris geliefert haben. Einstein war damals ein junger, aufstrebender Physiker, erst wenige Jahre zuvor hatte er seine allgemeine Relativitätstheorie vollendet. Bergson wiederum galt als intellektuelles Schwergewicht, er war einer der angesehensten Philosophen der Welt und erhielt den Nobelpreis für Literatur, etliche Jahre bevor Einstein in der Kategorie Physik zum Zug kam.

Illustration WurmlochWurmlöcher könnten eine theoretische Möglichkeit bieten, um durch die Zeit zu reisen.

Physik vs. Philosophie

Bergson nahm Anstoß daran, dass Einstein sich anmaßte, mit seiner physikalischen Beschreibung der Philosophie ein Zeitkonzept vorzusetzen. Im Gegensatz zu Einstein war die Zeit für Bergson nicht unabhängig von uns Menschen und unserem Erleben. So bevorzugte er den Begriff Dauer gegenüber jenem der Zeit, da Dauer eine stärkere Betonung auf das Erleben legt.

Carlo Rovelli kann beiden Sichtweisen etwas abgewinnen. "Bergson hatte recht, darauf hinzuweisen, dass die Zeit, die wir erleben, ein grundlegender Aspekt unserer Erfahrung ist – anders als die Zeit der Physik. Die Zeit der Physik ist die Zeit der Uhr." Allerdings will Rovelli Bergson nicht bei seiner Schlussfolgerung zustimmen: "Er lag falsch, als er ableitete, dass die Zeit, die wir erleben, etwas Grundlegendes ist." Die Zeit sei zu komplex, als dass wir uns anmaßen könnten, sie in ihrem grundlegenden Wesen erleben zu können. Einstein konnte auf Bergsons Einwand nicht so richtig antworten und blieb bei der Frage, wie unser persönliches Zeitempfinden mit der Zeit der Uhren zusammenhängt, selbst etwas ratlos zurück.

Wenn Rovelli auf seine Forschung der vergangenen Jahrzehnte zurückblickt, stellt er fest, dass sich auch sein Zeitverständnis ständig geändert hat, bedingt durch die Fortschritte im Bereich der Quantengravitation. Eine seiner Lehren aus der intensiven Beschäftigung mit der Zeit ist: "Wir müssen aufhören zu glauben, dass die Zeit nur eine Sache ist." Viele unterschiedliche Phänomene würden dabei zusammenkommen und sich in unterschiedlichen Aspekten manifestieren. "Es ist so, wie wenn man fragt, was eine Stadt ist. Da kommen viele Aspekte zusammen, wie die Menschen, die dort leben, die Gebäude oder die politischen Strukturen", sagt Rovelli.

Verändertes Zeitgefühl

Und während sich Rovelli über viele Jahre hinweg mit der Zeit beschäftigt hat, ist die Zeit natürlich auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. "Als ich damit angefangen habe, war ich in meinen Zwanzigern, jetzt bin ich in meinen späten Sechzigern."

Nicht nur in der physikalischen Betrachtung, sondern auch in seiner persönlichen Innenschau sieht Rovelli die Zeit als "unzusammenhängend, weil die Zeit keine einzige Sache ist". Durch das Älterwerden habe sich auch sein Zeitgefühl verändert. "Ich bin älter geworden und dadurch vielleicht ein bisschen dümmer. Oder ein bisschen weiser. Wer weiß." 

 

Nota. - Ganz zum Schluss sagt er das erlösende Wort: Alter! Es ist ja nichts anderes als die Zeit, nur nicht mehr vergehend, sondern vergangen: objektiviert in einem neuen Aggregatzustand.

Und nun frag ich Sie: Ist Alter ein historisches Phänomen? Ein persönliches Erle-ben? Ein gesellschaftliches Problem, ein philosophisches? Ein biochemischer Zu-stand?

Alles. Bloß kein physikalischer Sachverhalt, und auch kein Granulat mehr.
JE


Lexikon: Wie Zeitreisen möglich sind

Zeitreisen: Sie sind ein uralter Traum der Menschheit und gängiges Motiv in der Science-Fiction. Auch die Physik beschäftigt sich mit der Möglichkeit von Zeitreisen und bietet gleich mehrere Optionen an, wie es gelingen kann, durch die Zeit zu reisen, ohne dabei den Gesetzen der Physik zu widersprechen. Eine Form der Zeitreise ist nicht nur theoretisch möglich, sondern ereignet sich tagtäglich.

Zeitdilatation: Wie sich aus der Relativitätstheorie ergibt, ist die Zeit keine absolute Größe, sondern hängt ab vom Bewegungszustand, in dem sich eine Beobachterin befindet, oder auch dem Schwerefeld, dem sie ausgesetzt ist. Das Phänomen trägt den Namen Zeitdilatation oder Zeitdehnung und kann für Zeitreisen in die Zukunft ausgenutzt werden: Für eine Beobachterin in Bewegung vergeht die Zeit etwas langsamer als für einen Beobachter, der sich relativ zu ihr in Ruhe befindet. Wenn sie sich sehr schnell von ihm wegbewegt und dann wieder zurückkehrt, ist für ihn mehr Zeit vergangen als für sie – mit anderen Worten: Sie ist in die Zukunft gereist. Darüber hinaus gibt es die gravitative Zeitdilatation: In einem starken Gravitationsfeld vergeht die Zeit langsamer als in einem schwachen.

Wurmlöcher: Während Zeitreisen in die Zukunft durchaus möglich sind, gelten Zeitreisen in die Vergangenheit in der Wissenschaft nach aktuellem Wissensstand als nicht möglich. Dennoch eröffnet die Relativitätstheorie ein paar spekulative Optionen, die es doch ermöglichen könnten, in die Vergangenheit zu reisen, darunter auch Wurmlöcher. Gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie ist es denkbar, dass zwei entfernte Punkte in der Raumzeit durch eine Abkürzung verbunden sind – ein sogenanntes Wurmloch. Für den äußerst hypothetischen Fall, dass es möglich wäre, ein Wurmloch zu passieren, und das auch noch unbeschadet, würde das theoretisch die Möglichkeit eröffnen, in die Vergangenheit zu gelangen. Das ist freilich sehr spekulativ und fern jeder praktischen Umsetzung; bemerkenswert ist allemal, dass die physikalischen Gesetze dieser Möglichkeit zumindest nicht widersprechen.

Gödel-Universum: Eine andere hypothetische Möglichkeit, in die eigene Vergangenheit zu reisen, stellt das sogenannte Gödel-Universum dar. Es handelt sich dabei um eine Lösung der Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie, die der Mathematiker Kurt Gödel 1949 entdeckt hat. Übrigens sehr zum Missfallen seines Freundes Albert Einstein, der die Konsequenzen dieser Lösung gar nicht goutierte: Denn im Gödel-Universum existieren geschlossene zeitartige Kurven, die Zeitreisen in die eigene Vergangenheit ermöglichen würden. Bisher gibt es keine Hinweise darauf, dass das Universum, in dem wir leben, tatsächlich vom Typ Gödel ist – restlos ausgeschlossen werden konnte es aber auch noch nicht.

Quanten-Teleportation: Auch die Quantenphysik eröffnet eine theoretische Möglichkeit, ohne Zeitverlust an einen weitentfernten Punkt im Universum zu reisen. Und wenn man wie Einstein davon ausgeht, dass Raum und Zeit in einer Geometrie verwoben sind, wäre so eine Raumreise zugleich eine Zeitreise. Bisher ist die Teleportation nur bei sehr kleinen Quantensystemen gelungen. Ob es eine prinzipielle Grenze für die Größe teleportierbare Objekte gibt, ist Gegenstand aktueller Forschungen.

Hinweis: Am 14. Mai hält Carlo Rovelli einen Vortrag im Wiener Rathaus auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.


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