Mittwoch, 22. Mai 2024

Über Trivialliteratur.

Schriftstellerin Larissa Reissner (1895–1926)
aus welt.de, 22. 5. 2024                             Larissa Reissner                                   zu Geschmackssachen  

„Tolstoi, Goethe? Sie können sich mit einem Herrn Weber nicht messen“
1924 reiste die russische Kommunistin und Publizistin Larissa Reissner durch Deutsch-land. Neugierig besichtigte sie kapitalistische Betriebe. Besonders für die Romanfabrik des Ullstein-Konzerns interessierte sie sich. Da hatte sie mit Kafka etwas gemeinsam. 
 

Wir haben in der Schule gelernt, dass Literatur immer Bedeutendes thematisiert: die großen Fragen der Menschheit oder der eigenen Nation, mindestens aber die des Menschseins an und für sich, in gebildeten Kreisen gern als „condition humaine“ tituliert. Dass Lesen auch viel banalere, bisweilen triviale Bedürfnisse des mensch-lichen Seelenhaushaltes befriedigen muss und kann, gerät eher selten in den Blick.

Welche Themen und Stoffe das sind – und es schon immer waren – hat Literatur-wissenschaftler kaum interessiert. Manchmal aber doch. Erinnert sei an Rudolf Schenda. Der 1930 in Essen geborene und im Jahr 2000 in der Schweiz verstorbene Volkskundler und Erzählforscher war ein Pionier der deutschsprachigen Leserfor-schung. Für „Die Lesestoffe der kleinen Leute“ (1976) hat sich Schenda auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Herkunft interessiert, explizit erinnert er an seinen eigenen Vater, „den Bergmannssohn und Malermeister Rudolf Schenda“ senior: „Er las wenig, aber er ließ mich lesen.“

Rudolf Schenda über populäre Lesestoffe

Schenda junior wollte wissen, was das breite Volk liest – im Unterschied zur klassi-schen Literaturwissenschaft, die künstlerisch wertvolle Texte studiert. In seiner 1975 erschienenen Schrift „Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910“ schrieb Schenda über das sogenannte Land der Dichter und Denker: „Deutschland besaß nicht nur tausend ‚Dichter‘, sondern mindestens 100.000 Männer und Frauen der Feder. Mindestens 99 Prozent dieser Schriftsteller fallen für die Literaturgeschichtsschreibung aus. Da die Œuvre-Kataloge dieser Produzenten oftmals nicht dünner, manchmal eher dicker sind als die der kanonisierten ‚Dichter‘, bleibt ein hoher Prozentsatz des literarischen Materials im toten Winkel der Literaturbetrachtung.“

Diesem Manko versuchen heutige Forscher aus dem Bereich der digitalen Literaturwissenschaften entgegenzuwirken. Fotis Jannidis, Professor an der Universität Würzburg, untersucht mithilfe quantitativer und stilometrischer Verfahren literarische Texte und Genres, die die traditionelle Wissenschaft bislang links liegengelassen hat. Beispielsweise Heftromane. Jannidis hat Abenteuer-, Adels-, Arzt-, Erotik-, Horror-, Heimat-, Kriegs-, Kriminal-, Liebes-, Science-Fiction- und Westernromane analysiert, denen er eine große „Binnenvarianz“ bescheinigt. Mehr zur Heftroman-Forschung von Jannidis und Kollegen findet man hier in einem Abstract (PDF), dort in einem Buch. Die Erkenntnis, dass Leser ausdifferenzierte Ansprüche an Genreliteratur stellen, deckt sich mit den Einschätzungen, die der Stanford-Professor Mark McGurl jüngst in einem WELT-Interview gab.

Das Phänomen, dass Konzerne Unterhaltungsliteratur entsprechend ihren Vermarktungslogiken im Medienverbund fabrizieren, gab es lange vor Amazon. Sinnbildlich für die deutsche Tradition steht der „Ullstein-Roman“, der von Zeitgenossen als Inbegriff der Kleinbürger-Literatur gegeißelt wurde. Aber trotzdem mächtig angesagt war. Frisch nachlesen kann man das bei Larissa Reissner (1895 bis 1926), einer russischen Kommunistin und Publizistin, die Deutschland in der Zeit der Weimarer Republik bereiste, kapitalistische Betriebe inspizierte und in dokumentarliterarischer Form kritisch porträtierte.

Reissners soeben unter dem Titel „1924. Eine Reise durch die deutsche Republik“ neu aufgelegtes Reportagebuch (Rowohlt Berlin, 270 Seiten, 24 Euro), enthält auch ein Kapitel zum Ullstein-Konzern, dessen kulturindustrielle Dimensionen sie kritisiert, als hätte sie schon Adorno gekannt.

Larissa Reissner reist durch Deutschland
 
Polemisch bis aktivistisch mustert Reissner zunächst das Spektrum an Ullstein-Zeitungen und -Zeitschriften. Sie zählt Dutzende Druckereien des Verlags und bezeichnet sie als „Deutschlands beste Mühlen, die die täglichen Lügen- und Wahrheitsernten ausgezeichnet vermahlen“. Ein eigenes Unterkapitel kommt auf die „Ullstein-Romane“ zu sprechen und erklärt voller Spott: „Tolstoi, Goethe? Sie können sich mit einem Herrn Weber nicht messen, der ‚Ja, ja, die Liebe‘ geschrieben hat.“

Im Weiteren lässt Reissner sich über den Geschäftssinn des Verlages aus: „Der alte gute Ullstein macht es mit der Literatur wie das Kamel mit der Dattel. Nachdem sie einmal heruntergeschluckt ist, zwingt er seinen Leser, so oft wie möglich wiederzukäuen. Alle Ullstein-Romane werden sofort nach Erscheinen von den größten Kinofabriken in Deutschland verfilmt.“

Der letzte Satz ist so pauschal nicht richtig, aber mit Feinheiten hält sich Reissners Reportage nicht auf. In Buchform erschien sie erstmalig 1926. So wie der Rowohlt-Verlag mit dem heutigen Titel-Zusatz „1924“ auf der Welle von Sachbüchern mit Jahreszahl im Titel surft (die nach dem Orakel von „1923“ allerdings abgeebbt ist), so war der historische Buchtitel von Reissners Werk – „Im Lande Hindenburgs. Eine Reise durch die deutsche Republik“ – Mogelei fürs Marketing.

Reissner bereiste Deutschland im Jahr 1924, da war noch kein Hindenburg Reichspräsident, sondern Friedrich Ebert, der 1925 starb. Weil Reissners Buch 1926 erschien und deutsche Zustände beschrieb, sollte es entsprechend aktuell erscheinen. „Marketing bis in die Titelfindung“ hinein (Mark McGurl) stand als kulturindustrielle Strategie eben schon immer im Dienst der Aufmerksamkeitsökonomie.

Welches werbestrategisch ausgefeilte Dienstleistungs-Business die Ullstein-„Romanabteilung“ praktizierte, haben die Mainzer Buchwissenschaftlerin Ute Schneider und der Literaturwissenschaftler Erhard Schütz in Fachaufsätzen dargelegt. Allein die schieren Zahlen beeindrucken und finden vor einem Buchmarkt statt, der ganz auf Masse setzt. Während 1889 deutschlandweit 18.000 neue Titel auf den Markt kamen, produzierte die Branche im Jahr 1910 bereits 31.281 Buch-Neuerscheinungen (zum Vergleich: 2022 lag der Output der deutschen Buchbranche bei 71.521 Titeln). Ullstein startete gleich mehrere Buchreihen. Neben dem klassischen Bildungsbürgertum setzte man gezielt auf „neue Käuferschichten, deren Lektürevorlieben sich auf leichte Unterhaltungsstoffe konzentrierten“ (Schneider). Unter dem Label „Ullstein-Bücher“ wurden ab 1903 Sport-, Hotel-, Reise-, Heimat- und Großstadtromane lanciert, Liebesromane in Massen sowieso.

Kafka über Ullstein-Romane

Schon Kafka kam – rund ein Jahrzehnt früher – am Phänomen der Ullstein-Romane nicht vorbei. In seinen Reisetagebüchern findet sich eine hübsche Stelle, wo er 1912 ein mitreisendes Pärchen im Eisenbahnabteil beobachtet: „Sie liest einen Ullstein-Roman von Ida Boy-Ed, mit dem ausgezeichneten, wahrscheinlich von Ullstein erfundenen Titel ‚Ein Augenblick im Paradies‘. Ihr Mann fragt sie, wie es ihr gefällt. Sie hat aber erst angefangen, kann bis dato nichts sagen.“ Ida Boy-Ed war um 1900 eine viel gelesene Schriftstellerin, die heute kaum einer mehr kennt. Wie viele ihrer Bücher angefangen, zu Ende konsumiert und vergessen wurden, weiß niemand.

Auch wenn Trivialliteratur selten Literaturgeschichte schreibt, dürfte ihr emanzipatorisches Potenzial bis heute eher unter- als überschätzt sein. Ihr latent negatives Image hat speziell in Deutschland mit dem Verdikt der „Kulturindustrie“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu tun. In ihrer „Dialektik der Aufklärung“ haben die beiden Götter der Kritischen Theorie alles, was nur von ferne nach Massengeschmack riecht, unter Verdacht gestellt. Wo Leute sich, vielleicht auch mal unter Niveau, amüsieren, kann nur antiaufklärerische Massen-Manipulation am Werk sein.

Dass verkaufstüchtige und crossmediale Unterhaltungskonzerne wie Amazon (heute) und Ullstein (historisch) unter dem Argwohn der Literaturliteratur-Hüter stehen, versteht sich nach den „Regeln der Kunst“ (Pierre Bourdieu) von selbst. Als ein Ullstein-Lektor 1913 Interesse daran bekundete, Hermann Hesses Künstlerroman „Gertrud“ zu verlegen, gab ihm sein Stamm-Lektor von S. Fischer Nachhilfe: Hesse müsse „zwischen einem Verlag und einem buchindustriellen Unternehmen strengstens unterscheiden“. Bei Ullstein bleibe ja doch „fast nichts als das ganz gewöhnliche Lesefutter, und es braucht die paar vorzüglichen Werke und Namen nur zur Aufputzung“.

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