Montag, 27. Mai 2024

Das Orientbild der Europäer...

...und das orientalische Bild vom Westen. 

 
aus derStandard.at, 6. 4. 2024                          Schlacht von Lepanto                                 zu öffentliche Angelegenheiten

Historisches Stereotyp
Wie Europa das Bild des kulturell unterlegenen Orients prägte
Exotisch, gefährlich und roh: So berichteten europäische Reisende jahrhundertelang über das Osmanische Reich. Diese Berichte werden nun genau unter die Lupe genommen

"Zu Bethlehem hab ich gesehen ein Chamaelicontem / das ist ein Thierlein von Haut und ansehen wie ein Frosch / doch etwas höher und länger / hat gespalten Füßlein wie ein Kuh / es laufft gar schnell wie ein Eidechs / und verendert sein Haut in allerley Farben."

Chamäleon Orient-Impressionen Nationalbibliothek

Texte wie dieser, in denen Gelehrte der frühen Neuzeit, also ab dem 15. Jahr-hundert, über ihre Reisen in den Orient berichten, gibt es viele in der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB). Zu viele, um sie mit herkömmlichen Forschungsmethoden auszuwerten. In dem Projekt Osmanische Natur in Reiseberichten, 1501–1850 (ONiT), analysiert nun ein Team aus Historikerinnen, Bibliothekaren und Data-Scientists frühneuzeitliche Reiseberichte in großem Stil und nutzt dabei Algorithmen und Machine-Learning.

Stereotype des Orients

"Der westliche Blick auf den Orient ist die längste Zeit von Stereotypen geprägt worden. Naturdarstellungen spielten dabei eine große Rolle", sagt Arno Strohmeyer. Der stellvertretende Leiter des Instituts für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Professor für Geschichte der Neuzeit in Salzburg will mit einem Forschungsteam herausfinden, inwiefern Darstellungen von Flora, Fauna und Landschaften den westlichen Blick auf das Osmanische Reich geprägt haben. Fördergelder stammen vom Wissenschaftsfonds FWF.

Orient Impressionen ÖNBOrientimpressionen, wie sie in der Österreichischen Nationalbibliothek haufenweise dokumentiert sind.

Neben dem eingangs zitierten Text, der 1608 erstmals publiziert wurde, werden in dem Projekt über 3.000 frühneuzeitliche Reiseberichte auf Deutsch, Englisch, Französisch und Latein analysiert. Diese wurden von der Nationalbibliothek in den vergangenen Jahren digitalisiert und stehen nun Forschenden der ÖAW, der Uni Salzburg und des Austrian Institute of Technology (AIT) zur Verfügung, die die vorhandenen Texte und Abbildungen interdisziplinär auswerten. Dabei kommen innovative Methoden der digitalen Geisteswissenschaften zum Einsatz.

KI findet Pferd und Maus

Um die großen Datenmengen handhabbar zu machen, setze man auf maschinelle Auswertung durch Algorithmen, erklärt Doris Gruber, die hauptverantwortliche Wissenschafterin bei ONiT. Durch eine Datenbank haben die Forschenden Zugriff auf Naturdarstellungen in Text und Bild. "Mit dem von uns entwickelten Tool können wir mit Prompts über sprachliche Grenzen hinweg nach Bildern suchen – das ist revolutionär", erklärt Gruber.

Orient Impressionen ÖNB WüstenmausAuch Wüstenmäuse dürfen bei den Orientbeschreibungen natürlich nicht fehlen.

So kann man in die vom Forschungsteam entwickelte Datenbank etwa den Begriff "Landschaft mit Pferden" eingeben. Sodann werden einem dutzende Beispiele entsprechender Abbildungen angezeigt, die von einem eigens entwickelten Algorithmus aus tausenden digitalisierten Reiseberichten extrahiert werden. Man habe dafür einerseits auf bestehende Machine-Learning-Tools zurückgegriffen, andererseits auch eigene Anwendungen entwickelt, sagt Michaela Vignoli, Data-Scientist am AIT und Projektmitarbeiterin.

"Bilder werden in mathematische Repräsentationen umgewandelt. Ein Algorithmus, der darauf trainiert wurde, Ähnlichkeiten zu erkennen, und gelernt hat, wie ein Pferd aussieht, kann dann das ganze Korpus durchsuchen und alle Abbildungen mit Pferden anzeigen." Egal also, ob das gesuchte Tier in den Texten als "Pferd", "horse", "equus" oder "cheval" vorkommt, der Algorithmus findet die entsprechende Stelle in Sekundenschnelle.

Kulturelle Überheblichkeit

"Schon jetzt können wir sagen, dass Beschreibungen der osmanischen Flora und Fauna genutzt wurden, um die vermeintliche kulturelle Überlegenheit Europas und die Unterlegenheit des Orients zu behaupten", sagt Doris Gruber. Beschreibungen gefährlicher Tiere brachten so nicht nur Exotik in die Reiseliteratur, sondern kommunizierten auch kulturelle und politische Werthaltungen.

Orient Impressionen ÖNB HyäneWilde, gefährliche Tiere unterstreichen das Bild des verrohten Orients.

Bislang wurde auf Basis der Wiener Sammlung der europäische Blick auf das Osmanische Reich untersucht, er soll durch Reiseberichte aus weiteren europäischen Bibliotheken erweitert werden, ergänzt Jacopo Jandl von der ÖNB, der sich um die technische Seite des Projekts kümmert. Um auch die Gegenperspektive zu berücksichtigen, würde man im nächsten Arbeitsschritt aber auch persische, arabische und osmanische Handschriften in die Analyse einbeziehen. Zu diesem Zweck haben die österreichischen Forschenden erst kürzlich eine Kooperation mit der Marmara University in Istanbul gestartet.

Kooperative Geisteswissenschaften

Das Innovationspotenzial sieht Projektleiter Arno Strohmeyer aber nicht nur in den konkreten Forschungsergebnissen, die somit erzielt werden. Auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Geisteswissenschaftern und Datenwissenschaftern sei wegweisend. "Data-Scientists denken in Nullen und Einsen. Historiker operieren mit ganz anderen Kategorien. Wir mussten eine gemeinsame Sprache entwickeln, um über die Grenzen unserer Disziplinen hinweg kommunizieren zu können", sagt Strohmeyer.

Orient-Impressionen der Österreichischen NationalbibliothekOrientimpressionen der Österreichischen Nationalbibliothek.

Machine-Learning und künstliche Intelligenz werden das Arbeiten in den Geisteswissenschaften auf vollkommen neue Beine stellen, glaubt auch Doris Gruber. "Durch digitale Forschungsmethoden wird die Forschung künftig deutlich kooperativer als bislang. Bei ONiT erproben wir diese Art der interdisziplinären Zusammenarbeit."

Digitale Infrastruktur

Ein weiterer Mehrwert des Projekts sei die Entwicklung einer digitalen Forschungsinfrastruktur, ergänzt Max Kaiser. Er leitet die Abteilung Forschung und Datenservices an der ÖNB, welche die Daten für ONiT bereitstellt. "Wir stellen die erhobenen Metadaten und die entwickelten Algorithmen dauerhaft für die Nachnutzung zur Verfügung. Somit profitieren auch spätere Forschungsprojekte vom jetzt erworbenen Know-how", freut sich Kaiser.

Apropos: Wer selbst eine imaginäre Reise in den Orient unternehmen möchte, kann dies über die Suchmaschine der ÖNB tun. Alles, was man dazu machen muss, ist, "projectonit*" in die Suchmaske einzugeben, dann erscheinen die im Projekt erforschten und vollständig digitalisierten Reiseaufzeichnungen. Nur auf die Suche nach einem Chamäleon muss man sich vorerst noch selbst machen.

 

Nota. - Postkolonialer Saubermann! Wissen Sie, was nach Ansicht mancher Histo-riker die tiefere Ursache für den unaufhaltsamen Niedergang des Osmanischen Reichs gewesen ist? Die aus dem hellenistischen Ostrom ererbte kulturelle Über-heblichkeit des muslimisch gewordenen Nahen Ostens gegenüber den ungebildeten Ungläubigen des Westens. 

Die Kreuzfahrer hatten sich quasi von allein überlebt, und Europa war für den Sultan im Vergleich zu den immer wieder kriegerisch hervorbrechenden Persern nur ein lästiger Nebenkriegsschauplatz. Noch nach der Seeschlacht von Lepanto ließ er sich von seinem Großwesir brieflich versichern, der Verlust der türkischen Flotte ließe sich wieder wettmachen und er könne ruhig schlafen...

Man hat an der Hohen Pforte nicht bemerkt, wie seit dem 16. Jahrhundert der transatlantische Handel den in der Levante und dem Persischen Golf rasch übertraf und sich die Rolle Europas in der Welt schlagartig änderte. Die beiden osmanischen Vorstöße auf Wien waren sehr aufwändig, wurden aber halbherzig geführt, weil sie zu keinem strategischen Plan gehörten. Auch nach dem Scheitern der zweiten Bela-gerung gab es kein Umdenken; man hat sich einfach vom Westen abgewandt und wieder dem nahöstlichen Kerngeschäft überlassen.

Im neunzehnten Jahrhundert war dann der Sultan schon der kranke Mann am Bos-porus, und vor hundert Jahren schließlich hat Mustafa Kemal das Kalifat abge-schafft. 

Es wäre ratsam, dass sich der postkoloniale Blick von seiner hypnotischen Fixie-rung auf Europa löst und auch mal der Andern Seite Aufmerksamkeit zukommen lässt.
JE


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