aus deutschlandfunkkultur.de, 2. 4. 2015 zu Jochen Ebmeiers Realien
Die moderne Konzeption des Gehirns ist erst 200 Jahre alt
Von Matthias Eckoldt
... Die Trepanationen weisen darauf hin, dass die
Medizinmänner jener Jahre das Gehirn bereits für das zentrale
Steuerungsorgan gehalten haben. Das ist durchaus nicht
selbstverständlich, wenn man sich die Geschichte der Erforschung des
Gehirns anschaut. Die moderne Konzeption unseres Denkorgans ist noch
nicht einmal 200 Jahre alt.
Im antiken Griechenland gibt es heftige Debatten
über den Stellenwert des Gehirns innerhalb des Körpers. Der Arzt
Hippokrates lebt von 460 bis 370 vor Christus und schreibt:
Mit dem Gehirn vor allem denken und überlegen,
sehen und hören wir und unterscheiden das Hässliche vom Schönen, das
Schlechte vom Guten und das Angenehme vom Unangenehmen. Dasselbe Organ
lässt uns in Raserei und Wahnsinn verfallen, und es treten Angst und
Furcht an uns heran, sowohl des Nachts als auch am Tage, dazu
Schlaflosigkeit, Irrtümer, unpassende Sorgen, Nichterkennen der
wirklichen Lage und Vergessen. Alles dies erleiden wir durch das Gehirn,
wenn es nicht gesund ist. Dementsprechend bin ich der Meinung, dass das
Gehirn im Menschen die größte Macht hat.
Ganz anderer Meinung ist da Aristoteles, der an
diesem Punkt mit seinem Lehrer Platon in Widerstreit gerät. Platon geht
davon aus, dass es drei Seelenteile im Menschen gibt: Den vernünftigen, den begehrenden und den vom Willen bestimmten. Den höchsten, den vernünftigen Seelenteil verortet
Platon im Gehirn, den Willen im Herzen, das Begehren im Rumpf.
Aristoteles hingegen misst dem Gehirn eine untergeordnete Rolle zu:
Illing: Aristoteles sagt: Nein, es muss das
Herz sein, wo unsere Seele wohnt – unsere Empfindungsfähigkeit, unser
Denkvermögen – denn das Herz macht ja alles das mit, was wir empfinden.
Also unser Herzschlag erhöht sich, wenn wir erregt sind. Und sobald das
Herz verletzt wird, ist das mit dem Ende des Lebens identisch. Also dann
entweicht der Lebensgeist aus dem Organismus, was man vom Gehirn nicht
so einfach sagen konnte. Deswegen sagt Aristoteles: Es ist das Herz!
Während dem Hirn nach Aristoteles lediglich die
Aufgabe zufällt, das erhitzte, aufwallende Blut zu kühlen – also kühlen
Kopf zu bewahren.
Der römische Arzt Claudius Galen widerspricht der
aristotelischen Lehre im zweiten nachchristlichen Jahrhundert mit guten –
das heißt empirischen – Argumenten. Er schaut einfach in den Gehirnen
selbst nach. Vorzugsweise in denen von Hunden und Schafen. Dabei fällt
ihm keinerlei Kühlfunktion auf. Wenn er jedoch an bestimmten Stellen des
Hirns herumdrückt, tut sich etwas bei den lebend sezierten
Versuchstieren. Besonders empfindlich scheinen Galen die Hohlräume des
Gehirns zu sein: die sogenannten Ventrikel – zu deutsch: kleine Bäuche.
In den Ventrikeln vermutete Galen Luft. Allerdings
eine ganz besondere Luft. Eine Art kosmischen Atem, der in der
griechischen Philosophie – besonders bei Aristoteles – als Pneuma
bezeichnet wird und der zwischen Leib und Seele vermittelt. Mit Galen ist das antike Projekt zum Abschluss
gekommen, allerdings in einer Form, die dann für 1000 Jahre fixiert
wurde und durch die abendländische Geschichte als Dogma bestand.
Von Galen ausgehend bildet sich die erste große Metapher der Hirnforschung, die besagt: Das Hirn funktioniert wie ein Römischer Brunnen.
Für Galen sind die Nerven hohl und bilden ein
Kanalsystem kreuz und quer durch den Körper, das mit der zentralen
Zisterne verbunden ist. Diese wiederum besteht aus den drei Ventrikeln
mit ihren je eigenen Zuständigkeiten. Wie beim Brunnen das Wasser durch
die verschiedenen Becken, fließt hier der luftige Lebensgeist, der
Spiritus animalis, und bewirkt alle körperlichen und geistigen
Funktionen. Diese Lehre wird von den Kirchenvätern des Mittelalters
übernommen.
Augustinus schrieb im vierten Jahrhundert nach Christus: Wir wissen, dass es drei Hirnventrikel gibt,
das vordere, zum Gesicht hin, enthält alle Sinnesfunktionen, das hintere
nahe dem Nacken ist der Ort des Gedächtnisses, und schließlich das
dritte zwischen den beiden kontrolliert alle Bewegungen.
Der Römische Brunnen setzt die christliche
Konzeption nicht nur des Hirns, sondern des gesamten Körpers plastisch
ins Bild: Er ist lediglich ein Gefäß für die unsterbliche Seele. Deshalb
lohnt die Beschäftigung mit dem vergänglichen Teil des Menschen nicht.
Für 1000 Jahre finden kaum mehr empirische Untersuchungen der
sterblichen Hülle statt. Die Kirche verbietet über einen längeren
Zeitraum sogar anatomische Studien.
Illing: Descartes hat diese Vorstellung des
Römischen Brunnens erstmal sehr wortreich dargestellt, um sie dann zu
zerpflücken. Er hat gesagt, es kann überhaupt nicht so funktionieren,
denn unsere Verhalten und unsere motorischen Fähigkeiten, die
Geschwindigkeit unserer Wahrnehmungen und die Vielfalt des sensorischen
Eindrücke, die wir von Moment zu Moment unterscheiden können, übersteigt
das, was das Bild eines Römischen Brunnens liefern kann, bei weitem.
Jetzt hat er sich wieder bedient aus dem, was an Bildern und Metaphern
zur Verfügung stand und sagte: Eigentlich ist doch die Orgel ein
wunderbares Bild für die Hirnfunktion. Was haben wir denn in der Orgel?
Da mussten die Pfeifen durch einen Luftstrom zum Klingen gebracht
werden, der durch ein Windwerk erzeugt wurde. Der Windkasten – das ist
das, was dem spiritus animalis entspricht. Denn der kommt in unserem
Organismus durch Herz und Arterien in Bewegung. Und jetzt fließt er auf
eine differenzierte Art und Weise durch die ganzen Nervenkanäle genauso
wie in einer Orgel diese Luft durch Kanäle zur Traktur geführt wird, wo
dann, wenn ein bestimmtes Ventil an einer bestimmten Stelle geöffnet
wird, dann ein Ton zustande kommt.
Descartes sieht den Körper des Menschen als eine
Maschine, die vom Gehirn gesteuert wird. Alles an dieser menschlichen
Maschine ist materiell und kann prinzipiell erklärt werden. Alles – bis
auf die Seele. Sie kann man nach Descartes nicht mit
naturwissenschaftlichen Mittel erschließen, weil sie nicht aus Materie
besteht. Zudem rückt sie ihr göttlicher Ursprung sowie ihr
Unsterblichkeitsstatus aus dem Erkenntnisbereich des Menschen.
René Descartes und das Leib-Seele-Problem
Der französische Naturforscher und Philosoph René
Descartes lebt von 1596 bis 1650. Er trennt die beiden Bereiche des
Daseins in res cogitans und res extensa, die denkende und die
ausgedehnte, körperliche Substanz. Womit wir wieder beim
Leib-Seele-Problem wären.
Er musste sich natürlich die Frage vorlegen:
Wie hängen eigentlich diese immaterielle Seele und der materielle Körper
miteinander zusammen? - Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Descartes hat die erstaunliche Idee
entwickelt, dass es im Gehirn eine bestimmte Struktur gibt, und da
meinte er nun die Epiphyse identifiziert zu haben, die also ungefähr so
in der Mitte des Kopfes unter dem Gehirn hängt – wie so ein kleines
Glöckchen. Das ist die Zirbeldrüse. Und da sollte nun der
Hauptinteraktionsort zwischen dem Leib und der Seele stattfinden. Wie er
sich das gedacht hat, war im Prinzip ein rein mechanischer Vorgang.
Zitat: Die Lebensgeister stoßen die
Zirbeldrüse an und reizen so die Seele zur Empfindung, die diesen Stoß
ihrerseits erwidert! Nur der Mensch übrigens besitzt eine Seele. Die
Tiere sind bloße Maschinen, ihre Empfindungen bloße Reflexbewegungen.
Hagner: Da bemerkt dann die Seele, was
eigentlich an Informationen aus dem Körper kommt und umgekehrt gibt sie
Impulse zurück, die dann den Körper zu Handlungen antreibt. Und damit
hat er ein Paradigma geschaffen, nämlich dass das Seelenorgan ein Teil
des Gehirns ist, der die Interaktion von Körper und Seele gewährleistet.
Und das war das herrschende Paradigma für ungefähr 180 Jahre. Also von
1630 bis etwa 1800.
Um 1800 – 150 Jahre nach seinem Tod – wird
Descartes Schädel ausgegraben. Grund hierfür ist die neue Hirntheorie
von Franz Joseph Gall, einem deutschen Arzt, der von 1758 bis 1828 lebt.
Zunächst in Österreich, und nachdem er wegen des Verstoßes gegen die
Grundsätze der Moral und Religion ausgewiesen wird, in Frankreich.
Gall entwickelt die sogenannte Phrenologie, die
alle Fähigkeiten des Menschen in streng umrissenen Schädelbereichen
verortet. Seine aufsehenerregende Theorie löst eine wahre Sammelwut von
Schädeln aus. Nicht nur die Köpfe von Genies wie Descartes oder Joseph
Haydn werden nun akribisch vermessen und mit anderen Schädeln
verglichen, sondern auch jene von Verbrechern und Geisteskranken. Gall
selbst verfügt in Wien über eine gewaltige Schädel- und Büstensammlung.
Für Gall ließ sich Descartes mathematisches
Genie daran ablesen, dass sein Kopf über einen ausgeprägten
Orbitalknochen verfügte, unter dem der Organologe ein stark entwickeltes
Organ für Zahlensinn vermutete. Der anthropologische Status des
Schädels lag also darin, dass er in einer Sammlung aufbewahrt und
ausgestellt, betrachtet und vermessen und mit anderen Schädeln
abgeglichen werden konnte... schreibt Michael Hagner in seinem Buch Der Geist bei der Arbeit – Historische Untersuchungen zur Hirnforschung.
Die Gall'sche Theorie markiert unabhängig von ihrer
wissenschaftlichen Tragfähigkeit die Entstehung eines neuen
Menschenbildes. Wenn alle geistigen und seelischen Zustände am Schädel
zu erkennen sind, dann haben sie einen materiellen Ursprung. Das aber
heißt, dass die Seele weder gottgegeben, noch unsterblich sein kann, wie
noch bei Descartes, sondern von der Natur her nichts anderes ist als
der Rest des Körpers auch. Von diesem Punkt aus startet das
materialistische Projekt der Neuzeit. Die Theorie von Franz Gall
verschwindet allerdings rasch wieder, da der von ihm unterstellte
Zusammenhang zwischen Schädelform und Gehirn nicht haltbar ist. Die Idee
streng abgrenzbarer Areale allerdings, die für jeweils spezifische
Funktionen zuständig sind, wirkt in der Hirnforschung fort. – Bis heute.
Die Hirnforschung geht nun wiederholt den Weg des
Negativbeweises. Von Ausfallerscheinungen zieht man Rückschlüsse auf die
Funktion der beschädigten Teile des Hirns. Zum Stammvater dieser
sogenannten Lokalisationstheorie wird Paul Broca, ein französischer Arzt
und Anatom, der von 1824 bis 1880 lebt.
Broca findet 1860 bei der Autopsie eines Patienten,
der zu Lebzeiten nur die Silbe „Tan“ aussprechen konnte, eine
erhebliche Beschädigung im Hirn, die er in kühnem Umkehrschluss zum
Sprachzentrum erklärt.
Hagner: Broca, ein klinisch arbeitender
Mediziner, der also nun auch erstens ein umschriebenes Krankheitsbild
liefern konnte und zweitens eine dazu passende Lokalisation. Nämlich der
hintere Teil der dritten vorderen Windung links. Als Broca mit seinem
Sprachzentrum hervortrat, war genau das der entscheidende Punkt, dass
hier zum erstenmal Sprache nicht mehr als ein
psychologisches Phänomen verstanden wurde, sondern als ein cerebrales
Phänomen und damit das Edelste, über das der Mensch verfügt, einen
cerebralen Ursprung erhält – und damit einen materiellen. Was nach Broca
passierte, war nichts anderes als ein experimentelles und klinisches,
auf Beobachtungen an Hirnverletzungen bei Patienten basierendes Suchen
nach Zentren in der Hirnrinde, die mit einer bestimmten kognitiven
Fähigkeit assoziiert sind.
Gelegenheiten sollten sich den Anatomen bis ins 20. Jahrhundert hinein reichlich bieten. Kein Soziologe übersieht, schreibt Dirk Baecker, Professor für
Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität Friedrichshafen,
in seinem Buch Neurosoziologie, dass sich die
Entwicklung der Neuroanatomie und -physiologie seit dem 19. Jahrhundert
der Untersuchung, Vermessung und Protokollierung von Gehirnläsionen
verdankt, mit denen die Ärzte in den Kriegen des 19. und 20.
Jahrhunderts großzügig versorgt wurden.
Besonders der Erste Weltkrieg bringt die
Lokalisationstheorie voran. So ist es wohl auch kein Zufall, dass mit
Karl Kleist schließlich ein Militärarzt das Standardwerk vorlegt:
Kriegsverletzungen des Gehirns in ihrer Bedeutung für die Hirnlokalisation und Hirnpathologie. Johann Ambrosius Barth-Verlag, Leipzig 1934.
Hagner: Was aber gleichzeitig damit verbunden
war, dass diese Art von Lokalisation auch benutzt wurde, um so etwas wie
eine Typologie eines Gehirns von einer Gruppe von Menschen erstellen zu
können. Und das führte zu ziemlich verheerenden Entwicklungen
dergestalt, dass man meinte, wissenschaftlich feststellen zu können,
dass Frauen weniger intelligent seien als Männer und deswegen nicht zum
Studium zugelassen werden sollten. Dass Kriminelle ganz besondere
Gehirne haben und kriminelles Verhalten angeboren ist. Dass
Nichteuropäer weniger kultiviert sind als Europäer und das auf ihre
Hirnstruktur zurückzuführen ist. Das heißt, alle Arten von
Hierarchisierung, von Polarisierung, von Sexismus und Rassismus wurden
also mit dieser Hirnforschung begründet. Und man kann nicht behaupten,
das ist der entscheidende Punkt, dass das nun von Pseudowissenschaftlern
betrieben wurde. Nein, es waren die angesehensten Anatomen und
Physiologen und Ärzte jener Zeit, diejenigen, die gleichzeitig die
Erkenntnis über das Gehirn vorangebracht haben, die eine solche Meinung
vertraten.
Die Lokalisationstheorie liefert, was die politisch
und sozial unruhigen Zeiten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts
benötigt: Eine wissenschaftliche Begründung für Polarisierung,
Ausgrenzung, Elitewahn und eine neue Art des Hierarchieaufbaus nach dem
Ende der Monarchien. Vor dem Hintergrund der Lokalisationstheorie bildet
sich nun eine neue Metapher in der Hirnforschung heraus, die sich auf
die Kommunikationswege konzentriert. Voraussetzung dafür ist die
experimentelle Entzauberung des spiritus animalis.
Illing: Galvani hat ja dann auch Nerven
aktiviert durch elektrische Ströme. Aber, es wurde nicht bewiesen, dass
elektrische Ströme das eigentliche Agens der Nervenfunktion ist. Es
wurde immer nur gezeigt: Der Strom kann Nerven aktivieren. Aber ein
Druck kann auch Nerven aktivieren. Dieser Durchbruch kam erst – dass
also bewiesen wurde, dass Ströme fließen durch die Nervenfunktion, ohne
dass Strom hineingesteckt wurde in das System – das hat erst Du
Bois-Reymond 1850 nachweisen können. Also die Identifikation des
spiritus animalis mit der Elektrizität ist 1850 etwa gelungen.
Wieder bedient sich die Hirnforschung des aktuellen technischen Höchststandard, um ihr Konzept des Hirns zu verdeutlichen.
Das Hirn als Telegrafenstation
Seit 1866 verbindet das erste Seekabel Irland mit
Neufundland. 1870 sind bereits weite Teile der Welt per Telegraf
erreichbar. Nun wird auch das Hirn zur Telegrafenstation: Die Nerven
sind – ähnlich wie die Kabel der Telegrafie mit der ganzen Welt – auf
elektrischen Bahnen mit den Befehlsempfängern im Körper verbunden. Die
Zentrale im Kopf morst an die Muskeln die entsprechenden Signale und
entschlüsselt die Nachrichten von den Rezeptoren. Das elektrische
Zeitalter der Hirnforschung beginnt.
Der Telegraf als Metapher für das Hirn wird in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich von der neuen
Leit-Technologie des Computers abgelöst. Seit die Computer auch noch
miteinander reden können, ist für die Hirnforscher das Netzwerk der
eigentliche Schlüssel zum Verständnis der denkenden Materie, und das
Hirn funktioniert wie das Internet.
Hagner: Daraus habe ich geschlussfolgert, dass
dieses moderne Gehirn in seiner Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert
kulturell kontaminiert ist. Und dass das Gehirn ein Organ ist, in das
alle möglichen Ansichten hineinprojiziert werden. Und daraus habe ich
dann die Schlussfolgerung gezogen, dass eigentlich eine Hirnforschung,
die über so fabelhafte Möglichkeiten verfügt wie die Hirnforschung
heute, eine besondere Verpflichtung hat, besonders vorsichtig und
besonders zurückhaltend zu sein. Und was nun die Frage betrifft von
Geist und Gehirn, die ist inzwischen abgelöst worden durch die Frage:
Können wir Gedanken lesen? Und ich muss sagen: Das ist doch irgendwie
ein schwaches Bild. Also wenn die Hirnforschung nichts anderes im Sinn
hat, dann sind sie doch die braven Auguste einer Überwachungsmentalität,
und da, finde ich, sollte die Kreativität schon in eine andere Richtung
gehen.
Illing: Vor einigen hundert Jahren – also noch
vor Descartes – war die Vorstellung von den Hirnfunktionen, dass es
sich da um einen raffinierten römischen Brunnen handeln würde beim
Gehirn. Heute heißt es, das Gehirn ist ein Computer. Also, ein
neugieriger Mensch kriegt diese Auskunft und sagt: Meine Güte, toll,
jetzt weiß ich: Das Gehirn ist ein Computer. Wenn man diese zwei
Situationen mal gegenüberstellt. Ich glaube, dann fällt einem mancher
Schuppen von den Augen und man wird sehr realistisch zu sehen, dass wir
uns auch heute in einem Übergangsstadium befinden.
Dann aber liegt die Vermutung nahe, dass jenes
Übergangsstadium in der Erforschung der Natur ein Dauerzustand ist. Auch
wenn uns die Neurowissenschaft seit langem glauben machen möchte, dass
sie kurz – ganz kurz – vor dem ultimativen Durchbruch steht. So wird das
letzte Jahrzehnt des zweiten Jahrtausends zur Dekade des Gehirns
erklärt, in dem unserem Denkorgan mit vereinten wissenschaftlichen
Kräften seine letzten Geheimnisse entlockt werden sollen. Nach dem
darauffolgenden Jahrzehnt der Ernüchterung in den Neurowissenschaften
würde heute niemand mehr diese vollmundige Prognose unterschreiben. Wie
wenig die Hirnforscher tatsächlich von ihrem Gegenstand verstehen, zeigt
die Tatsache, dass ihre Simulationen von Prozessen im Nervensystem
derzeit bei etwa 10.000 Neuronen zusammenbrechen. Während unser Gehirn
mit 100 Milliarden Neuronen arbeitet.
Nüchtern betrachtet, besteht die Geschichte der
Hirnforschung letztlich in der Abfolge verschiedener Metaphern mit
begrenztem Erklärungspotenzial. Das Hirn funktioniert wie ein Römischer
Brunnen, wie eine Orgel, wie eine Maschine, wie ein Telefgraf, wie ein
Computer und wie das Internet.
Aber wenn man das Ideal der absoluten Wahrheit, die
keine Metaphern mehr braucht, beiseite schiebt, gibt es vielleicht gar
keine Alternative zu diesen bildhaften Erklärungen.
Wir Wissenschaftler unterscheiden uns in der Weise von den anderen Leuten auch nicht, insofern wir nämlich in Bildern denken - Randolf Menzel leitet seit 1976 das Institut für
Neurobiologie der Freien Universität Berlin und gilt als einer der
weltweit führenden Forscher auf dem Gebiet des Bienenhirns.
Ich glaube, wir haben jetzt über diese
Historie von Metaphern die Möglichkeit, verschiedene Bilder zu
verwenden. Und das tun wir auch. Wenn wir neuroanatomisch arbeiten,
haben wir andere Bilder als wenn wir funktionell arbeiten. Ob uns das
befördert oder behindert – sagen wir mal jetzt, uns als die gesamte
Neurowissenschaft – insgesamt. Wie wir miteinander reden. Ob uns das
behindert oder befördert, ich weiß es nicht recht. Die Physiker würden
aus ihrer Erfahrung mit der Entwicklung ihres Fachs sagen: es behindert.
Erst wenn etwas mathematisch formuliert ist, wenn man es in eine Formel
pressen kann, erst dann ist eine Aussage gemacht. Da ist es dann vom
Bild unabhängig.
Dann ist es ein funktionaler Zusammenhang, der seine
Logik ausschließlich im Formalismus hat. Das ist sicher das
Anstrebenswerte, aber ich glaube halt, wir sind noch so sehr weit davon
entfernt. Da wir noch gar keine Ahnung haben, in welche Richtung wird es
denn gehen, sind alle Metaphern hilfreich.
Nota. - Daran tut der Verfasser gut, dass er zum Schluss auf das Verhältnis von Bildern und Begriffen zu sprechen kommt. Er würdigt den Anteil der Bilder an der Ausbildung der Begriffe. Das ist recht, so ist der Weg der Wissenschaft. Aber dabei bleibt er stehen. Die begreifende Wissenschaft ist nicht der Schlusspunkt unseres Weltverständnisses. Die Begriffe taugen, über ihre wissenschaftliche Operationalität hinaus, dazu, dass die Menschen sich von ihrer Welt ein... Bild machen können.
Darum ist die Rede auch von Weltanschauung, und dass die eher dogmatisch ausfällt als kritisch, ist ja nicht ausgemacht. Was für eine Philosophie einer wählt, hängt davon ab, was für ein Mensch er ist. Ist das Gehirn ein Modell fürs Internet oder das Internet ein Modell für unser Gehirn? Das Tertium comparationis ist die Denkmaschine, und siehe da: ...weder dies noch das; sondern zwei paar Schuhe.
JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen