Kant
‚Ästhetik’ ist, wie ‚Bildung’,[26] eine typisch-deutsche Prägung. Sie wurde von A. G. Baum-garten eingeführt. Das Werk, das diesen Titel trägt,[27]
ist ein charakteristisches Produkt der Wolff’schen Schule: Wörter
werden durch Wörter bestimmt. Ästhetik wird, der griechi-schen Wurzel
gemäß,[28]
als Wissenschaft des sinnlichen Erkennens definiert, aber darunter sind
sowohl die Theorie der schönen Künste als auch die „untere
Erkenntnislehre“, das Wissen von den Sinnesreizen gefaßt, und diese
Vieldeutigkeit blieb den ästhetischen Debat-ten bis heut erhalten. Kant
hat das Ästhetische in seine kritische Erkenntnistheorie aufge-nommen und
in Gestalt der Urteilskraft als eine Art Mittelglied zwischen das
theoretische Vermögen (das auf Erkenntnis des Seienden gerichtet ist)
und das praktische Vermögen (das ‚aus Freiheit’ postuliert, was sein
soll) geschoben;[29]
ohne daß immer klar würde, ob es sich dabei um ein selbständiges
Drittes handelt oder um einen Übergang oder um eine Schnittmenge. Oder
womöglich um die höhere Einheit? (So hat Fichte sie genommen.)
„Urteilskraft ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.“[30]
Was ist daran ästhetisch? Ästhetisch wird es, wenn das Allgemeine als
der Zweck, als die höhere Bestimmung des Besondern aufgefaßt wird:
„Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie,
ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird.“[31]
Schönheit ist Zweckmäßigkeit ohne Zweck; oder schön ist, was als Zweck
seiner selbst erscheint – und so gerät das Ästhetische in ganz intime
Nähe zum ‚Sinn der Welt’! Denn immerhin erscheint unserm theoretischen
Verstand die ganze Natur „so, als ob“ sie zweckmäßig eingerichtet sei; so, daß immer eins genau zum andern paßt; so, als ob sie nach einem Plan gemacht ist.[32]
Das ist zunächst einmal eine nützliche Fiktion, wenn es darum geht, die
Dinge der Welt industriell brauchbar zu machen, und rechtfertigt sich
durch den Erfolg. Aber abgesehen davon? Abgesehen davon erscheint die
Zweckmäßigkeit der Welt ohne Zweck. Es ist eine ästhetische Idee, die
unserer Umgangssprache als Sinn geläufig ist. „Unter einer
ästheti-schen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der
Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend
ein bestimmter Gedanke, d. h. Begriff adäquat sein kann, die folglich
keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“[33]
Die Ein-bildungskraft ist nämlich das „produktive Erkenntnisvermögen“,
ihr Geschäft ist die „Schaf-fung gleichsam einer andern Natur aus dem
Stoff, den ihr die wirkliche gibt.“[34]
Die andere, unstoffliche, überwirkliche ‚Natur’, das ist die Welt des
Sinns; des moralischen, des ästheti-schen – gleichviel: „Das Schöne ist
das Symbol des Sittlichen.“[35]
Die Kritik der Urteilskraft
war ein Nachzügler, die dritte der Kritiken, und führte den Autor zu
Ergebnissen, die er nicht erwartet hatte. Den erwähnten Halbheiten und
Widersprüchen fügte sie das ihre hinzu. Die obige Darstellung ist nicht
bloß eine Raffung, sondern eine In-terpretation. Andere sind möglich; ob
sie aber schlüssiger wären? Diese hier tut dem Ge-schmack des Autors
immerhin keine Gewalt: hatte er doch seinen Abfall vom
Wolff-Leibniz-schen System mit den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen[36]
ein-geleitet, wo er sich – halb versuchsweise und tändelnd – an die
Kunst- und Schönheitsmeta-physik des Grafen Shaftesbury anschloß.[37] Jedenfalls wurde die Kritik der Urteilskraft zu so etwas wie der Geburtsakte von Romantik und ‚Wissenschaftslehre’.
[22] dt. Philosoph und Psychologe, 1776-1842
[23] (1803) Herbart, Sämtliche Werke (Hg. Hartenstein) Bd. 11, Hbg./Lpzg. 1892
[24] ders., Allgemeine Pädagogik, aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet (1806) in: aaO, Bd. 10, 1891; neu u. a.: (Hg. Holstein) Bochum 61983
[25] Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung,
[26]
Die Unterscheidung zwischen Bildung und Ausbildung gibt es nur im
Deutschen; sie stammt, nicht dem Wort, aber dem Sinn nach, von Fr. I.
Niethammer (s. Anm. 18)
[27] Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, 2 Bde. Ff/O 1750/58
[28] gr. aísthesis, Sinneswahrnehmung
[29] Kritik der Urteilskraft in: Kant, Werke (Hg. Weischedel) Bd. 6, Ffm. 1968
[30] ebd, S. 87
[31] ebd, S. 155
[32] ebd, S. 89. – Heute kommt uns die Natur eher als ein Reich der Vergeudung vor, wo auf 1000 Versuche kaum 1 Treffer gelingt.
[33] ebd, S. 249f.
[34] ebd, S. 250
[35] ebd, S. 297
[36] (1764) in: aaO, Bd. 2, S. 823-884
[37]
Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury (1671-1713); trug seine
Philosophie in dichterischer Form vor; wurde von Francis Hutcheson
(1694-1746) systematisiert: An den knüpft Kant an.
aus Herbarts Einsicht vom ästhetischen Grund der Erziehung; im Oktober 2003
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