aus spektrum.de, 4.11.2023 zu öffentliche Angelegenheiten zu Philosophierungen
Ist das Gute relativ?
Kann
ein und dieselbe Handlung je nach Kontext gut und schlecht sein? Unser
Kolumnist ist vom moralischen Relativismus nicht überzeugt, findet die
Frage aber trotzdem spannend
von Matthias Warkus
Im Frühjahr 2023 habe ich zum ersten Mal in Italien eine Restaurantrechnung selbst bezahlt und war, wie ver-mutlich viele andere Reisende zuvor, erstaunt davon, dass kein Trinkgeld erwartet wurde. In anderen Ländern ist das bekanntlich ganz anders: In den USA beispielsweise sind deutlich über zehn Prozent üblich, am besten eher 20 Prozent, und kein Trinkgeld zu geben ist zwar nicht verboten, gilt jedoch als grober Verstoß gegen die unge-schriebenen Regeln des Zusammenlebens. Deutschland liegt irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Andere Länder haben sprichwörtlich andere Sitten.
Ist es möglich, dass das, was in Italien richtig ist, in den USA falsch ist und umgekehrt? In der Philosophie bezeichnet man die Ansicht, dass dieselbe Handlung in unterschiedlichen Kontexten, beispielsweise in ver-schiedenen Kulturen, als unterschiedlich wünschenswert zu betrachten sein kann, als moralischen Relativismus. Die Diskussion darüber, was Relativismus ist und welche Folgen er mit sich bringen würde, ist seit ein, zwei Jahrhunderten eines der großen Themen der Ethik – und, ganz nebenbei, nicht bloß der Ethik, denn es gibt relativistische Argumente in so ziemlich allen philosophischen Unterdisziplinen, zum Beispiel auch in der Erkenntnistheorie.
Die bloße Vorstellung, Relativismus könnte irgendwie gerechtfertigt sein, treibt viele Menschen zuverlässig auf die Palme. Warum soll eine bestimmte Handlung in einer Gesellschaft gut sein, in einer anderen jedoch schlecht?
Ein gängiges Argument sieht, stark vereinfacht, so aus: Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass es zwischen verschiedenen Menschengruppen erhebliche Unterschiede im moralischen Empfinden gibt. Das geht über harmlose Themen wie Trinkgeld weit hinaus. In bestimmten Kontexten werden etwa harte Strafen für Gotteslästerung akzeptiert oder dass Ehen durch Familien arrangiert werden; in anderen wird beides heftig abgelehnt.
Diese Unterschiede sind nicht nur erheblich, sie sind auch unüberbrückbar. Durch rationales Argumentieren lassen sich die Vertreter der widerstreitenden Ansichten nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, denn es stellt sich in der Diskussion zum Beispiel heraus, dass die Grundlagen für die Abweichungen Glaubenssätze sind, an die mit Argumenten nicht heranzukommen ist. Wenn jemand der festen Meinung ist, dass Gott diejenigen strafen wird, die ihn lästern, und es daher eine rundum lobenswerte Sache ist, Gotteslästerung durch weltliche Gesetze zu unterbinden, weil dies die Gefahr von Höllenstrafen reduziert: Wie will ich ihn vom Gegenteil überzeugen?
Aus der Feststellung, dass es einschneidende Uneinigkeiten über moralische Fragen gibt und dass diese Uneinigkeiten sich nicht alle rational auflösen lassen, ergibt sich letztlich die Schlussfolgerung, dass Moral etwas Relatives ist. (Wozu genau relativ und was das für die Praxis bedeutet, ist eine andere Diskussion, die den Rahmen dieser Kolumne sprengen würde.)
Es wird Sie nicht wundern, dass dieses Argument an verschiedenen Punkten angreifbar ist. So wird die Existenz großer unüberbrückbarer moralischer Differenzen durchaus bezweifelt. Oft könnten diese lediglich auf Differenzen in der Einschätzung von Sachverhalten zurückgehen, während die eigentlichen moralischen Wertungen, die in die Urteile einfließen, sich gar nicht unterscheiden. Das lässt sich am Trinkgeld-Beispiel demonstrieren: Eventuell ist man sich in Italien und in den USA ja einig darüber, dass es unmoralisch wäre, Servicepersonal, das von seinem Gehalt allein nicht leben kann, das Trinkgeld zu verweigern. Nur die verbreiteten Überzeugungen darüber, wie gut oder schlecht Servicekräfte von ihrem Gehalt leben können, weichen zwischen den beiden Gesellschaften ab – möglicherweise zu Recht.
Ein drastischer, aber nicht von der Hand zu weisender Einwand gegen den Relativismus, der mir zu Beginn meines Studiums nahegebracht wurde, ist zudem, dass es starke Intuitionen dazu gibt, welche Handlungen in jedwedem Kontext falsch sein müssen. Das Beispiel meines Professors war damals, dass man sich schlechthin nicht vorstellen könne, dass es in irgendeiner Gesellschaft als moralisch gut gelte, Babys zu kochen. Wenn Relativismus sich sozusagen ausschließlich auf Themen aus der »zweiten Reihe« der dringlichen moralischen Fragen beziehen kann, ist vielleicht gar nicht so viel relativ.
Ich bin kein Ethiker und erst recht kein Experte für Relativismus. Ich werfe hier lediglich ein Schlaglicht auf eine Debatte, die so umfangreich ist, dass selbst komprimierte Lexikonartikel zum Thema Dutzende Seiten umfassen. Im Rahmen meiner begrenzten Kenntnisse lehne ich den moralischen Relativismus, heute wie vor 20 Jahren, entschieden ab. Die Frage, ob moralische Urteile zu Handlungen notwendigerweise von einem bestimmten kulturellen Kontext abhängig sind, lohnt sich aber intensiv zu betrachten – und sei es nur, um ein klareres Verständnis davon zu bekommen, was überhaupt ein moralisches Urteil, eine Handlung und ein kultureller Kontext ist.
Nota. - Das ist schockierend dumm. Die Frage 'Darf man Babies kochen?' ist an den Haa-ren herbeigezogen, reell könnte sie nur immer heißen: "Darf ich dieses Baby kochen?" Alles andere wäre logische Spekulation, aber kein moralisches Problem. Eine Situation, in der sich mir diese Frage stellen würde, ist nicht vorstellbar. Dass sie logisch möglich ist, interessiert den Logiker, aber nicht den Menschen aus Fleisch und Blut, der sich entscheiden muss. Und das muss er in gegenbenen Situationen und nicht 'logisch'. Und es ist niemals 'man', son-dern immer dieses und kein anderes Individuum.
Ja, wenn Moral ein Katalog wäre, in dem eingetragen ist, was man unter welchen Umstän-den darf und was nicht, dann wärs einfach: Man müsste nur in der richtigen Spalte nach-schauen. Welche Spalte die richtige ist - das müsste man wohl immer noch selber entschei-den, aber entscheiden, indem man Merkmale zählt und gegeneinander verrechnet. Das kann einer mit kühlem Verstand besorgen, wenn auch sein Herz eine Mördergrube ist.
So ist es nicht in "unentwickelten Gemeinwesen". Da steht zwar fest, was recht und was unrecht ist, bevor es noch geschieht. Aber nicht kodiert, systematisiert und für jedermann auffindbar. Sondern festgesetzt im gemeinsamen Erleben, das aus der Überlieferung her-kam - sowie alles andere auch, was man an den naturwüchsigen Gemeinwesen Kultur nen-nen kann. Es ist das Selbstverständliche, das sich von alleine zeigt. Tritt ein Ereignis ein, das sich nicht von selbst versteht, weil es in der Überlieferung nicht vorgesehen war, tritt ein Zwiespalt auf. Der wird nicht mit logischen Gründen, sondern mit Gewalt überbrückt - der Gewalt der Bilder unter Anleitung eines inspirierten Sehers, aber wohl auch mal handgreif-lich.
Solchen Gelegenheiten zuvor zu kommen, galt der Versuch des Jesuitenordens, alle denk-baren Fälle vorauszusehen, die situativen Besonderheiten zu unterscheiden und eine Diffe-rentialliste der jeweiligen Lösungen zu erstellen. Dies wurde vom gesunden Menschenver-stand alsbald mit Spott überzogen. Doch bis heute herrscht allenthalben der jesuitische Glaube, was Moral sei, wäre im Grunde längst entschieden - mit dem biedermännischen Beisatz, man müsse es nur nicht jedesmal so genau nehmen.
*
Als ich mit vier in den Kindergarten kam, fragten die andern, ob ich evangelisch oder katholisch wäre. Das wusste ich nicht. Ich sollte zuhause nachfragen. Dort hieß es, wir wären weder noch. Das geht nicht; man ist entweder das eine oder das andere. Was ist überhaupt evangelisch und katholisch? Das betrifft uns nicht, dass betrifft nur Leute, die an Gott glauben. Und wer ist das? Das ist einer, der an deiner Stelle entscheidet, was gut oder böse ist - so ist es bei mir hängen geblieben.
Das hat mich damals so empört wie heute. Wer das nicht selber weiß, wer einen andern fragen muss und gar in einem Register nachschaut, ist ohne Sitte und Anstand, ohne Ach-tung für sich noch für die andern; eine unmoralische Existenz.
Ich weiß es aus eigener Überzeugung: "Die Moral sagt schlechterdings nichts Bestimmtes – sie ist das Gewissen – eine bloße Richterin ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber im-mer einzeln. Gesetze sind der Moral durchaus entgegen."* Oder, wie es mein Gewährs-mann Fichte formuliert: "Dem wirklichen Menschen im Leben kommt das Pflichtgebot nie überhaupt, sondern immer nur eine bestimmte Willensbestimmung in concreto als Pflicht vor. Inwiefern er nun wirklich seinen Willen so bestimmt, wie sein Gewissen es in diesem Falle fordert, so handelt er moralisch."
Wer das nicht tut, der handelt vielleicht vorschriftsmäßig - wenn er selbst nicht sagen könnte, wessen Vorschrift er folgt und weshalb; aber unmoralisch. Denn das ist es, was Moralität ausmacht: Das Einstehen für die eigene Wahl. Und immer in concreto.
Herr Warkus! Jeder Spruch meines Gewissens ist der Form und dem Gehalt nach einzig: singulär. Was singulär ist, steht mit nichts und niemandem in einem Verhältnis: Es ist ab-solut. Das ist, wenn ich nicht irre, das Gegenteil von relativ.
*) Novalis, Allgemeines Brouillon N°670
JE
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