Als es mit Europa so richtig bergab ging
Überbevölkerung, Klimawandel und Pandemien: Im 14. Jahrhundert
durchlitt das Abendland eine düstere Zeit. Der britische Publizist Dan
Jones schildert diese Herausforderung in seinem neuen Buch. Am Ende half
den Menschen nur die Anpassung an die Verhältnisse.
von Sven Felix Kellerhoff
Die Stimmung ist geradezu depressiv: Die Temperaturen spielen verrückt. Eine rätselhafte Krankheit
fegt durch die Welt. Gleichzeitig hat sich die Bevölkerung binnen
weniger Generationen teilweise vervierfacht. Unzählige Menschen leben in
niederschmetternd schlechten Verhältnissen, sodass sich fast jeder, der
kann, aufmacht in wohlhabendere Regionen, um dort sein Glück zu suchen.
Die Mobilität, die zunächst noch den Handel gefördert und damit
Wohlstand vermehrt hat, wird nun zur Gefahr. Offensichtlich sind die
Grenzen des Wachstums erreicht.
Das
mag klingen wie eine Beschreibung der Zustände im beginnenden dritten
Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts: Erwärmung des Erdklimas; Angst vor der
Infektionskrankheit Covid; mehr als acht Milliarden Menschen auf der
Erde, von denen viele in Slums leben müssen; ungesteuerte Migration.
Doch in Wirklichkeit handelt es sich um Europa im 14. Jahrhundert.
Der
Göttinger Wirtschaftshistoriker Wilhelm Abel nannte die Zustände dieser
Zeit in seiner Habilitationsschrift 1935 den Beginn der „Krise des
Spätmittelalters“. Griffiger formuliert denselben Gedanken der britische
Geschichtsjournalist Dan Jones in seinem gerade erschienenen Buch
„Mächte und Throne“, einer eingängig geschriebenen „neuen Geschichte des
Mittelalters“ (C. H. Beck, 793 S., 38 Euro): „Eis und Keime“ läuteten
die dramatischen Umwälzungen ein, die Europa bis zum Beginn der
Industrialisierung im Würgegriff hielten.
Es
begann mit dem Wetter: Seit etwa dem Jahr 900 waren die Temperaturen
weltweit kontinuierlich gestiegen, was auf allen Kontinenten zu
Aufschwung geführt hatte. Die „Mittelalterliche Warmzeit“ sorgte für
genügend Lebensmittel, ließ Kunst und Kultur florieren. Doch dann kam es
um 1310 zum Umschwung: Zahlreiche Vulkanausbrüche schleuderten Asche in
die Stratosphäre, die das Licht der Sonne reflektierte. Als Folge
kühlte sich das Klima ab – der Auftakt zur „Kleinen Eiszeit“, während
der es im Winter vielfach so kalt wurde, dass auch größere Flüsse in
Europa regelmäßig zufroren.
So richtig zu spüren bekamen die
Europäer den Wandel im Spätsommer 1314: Es wollte gar nicht mehr
aufhören zu regnen. Bäche und Flüsse schwollen zu reißenden Strömen an,
die viele Felder überfluteten und die kaum befestigten Wege
wegschwemmten. Im Frühjahr 1315 musste in durchfeuchtete Böden gesät
werden. Weil es den gesamten Sommer und Herbst erneut zu viel regnete
und die Temperaturen deutlich zu niedrig blieben, fiel die Ernte
weitgehend aus. Und weil ein Unglück selten allein kommt, schloss sich
ein bitterkalter Winter an.
Da war schon die nächste Katastrophe ausgebrochen. Gerade als sich die Lage mit der Ernte 1317 etwas stabilisiert hatte, raffte eine tödliche Seuche die meisten Rinder, Schafe, Ziegen und andere Nutztiere dahin. Die Tiere verfaulten bei lebendigem Leibe und starben oft innerhalb von zwei bis drei Wochen. Mit enormem Tempo breitete sich der Erreger in Europa aus; wahrscheinlich war es das gleiche Virus, das in späteren Zeiten die Rinderpest auslöste und erst seit 2011 als ausgerottet gilt. Drei Fünftel aller Paarhufer erlagen 1318/19 der Krankheit, ob domestiziert oder in freier Wildbahn.
Horror aus dem Osten
Johannes von Trokelowe, ein Mönch der Benediktinerabteil St. Albans nördlich von London, hielt Gerüchte über Kannibalismus für so glaubwürdig, dass er festhielt: „Es heißt, dass Männer und Frauen an vielen Orten heimlich ihre eigenen Kinder aßen.“ Der anonyme Biograf des englischen Königs Eduard II. bestätigte das zwar nicht, vermerkte aber: „Hunde und Pferde und andere unreine Dinge wurden als Nahrungsmittel genutzt“ und klagte: „Ach, bedauernswertes England!“ Doch er ahnte nicht, dass dies erst der Anfang von Europas Abstieg war.
„Einfach ausgedrückt, gab es zu viele Menschen für den damaligen Stand der Technik“, schreibt der 42-jährige Jones in dem für seine Bücher typischen verständlichen, stets zugespitzten Stil. „Gleichzeitig hatte die starke Zunahme des globalen Handels und der Reisen, die mit den mongolischen Eroberungen im 12. und 13. Jahrhundert eingesetzt hatte, still und leise auch die Möglichkeit geschaffen, dass Krankheiten genauso ungehindert zirkulieren konnten wie Seidenstoffe, Sklaven und Gewürze.“ Die Schattenseiten der im Hochmittelalter so förderlichen Globalisierung.
Der wahre Horror begann gut zwei Jahrzehnte später, als sich die Menschen in Europa gerade mit den immer noch niedrigen Temperaturen arrangiert hatten. Sein Ursprung lag im Mongolenreich. „Achthundert Jahre zuvor hatte die Justinianische Pest im Byzantinischen Reich des 6. Jahrhunderts gewütet“, schreibt Jones, der in Cambridge studiert hat. „Doch die Pest im 14. Jahrhundert war noch schlimmer: eine neue, hochinfektiöse Mutation des alten Erregers, die mit Leichtigkeit zwischen Ratten, Katzen, Hunden, Vögeln und Menschen hin und her wechseln konnte.“ Das Bakterium Yersinia Pestis wurde von Flöhen verbreitet.
Anfang
1347 erreichte die Seuche mit einem mongolischen Heer die Hafenstadt
Caffa auf der Krim, einen Stützpunkt der Republik Genua. Die Belagerung
war nicht erfolgreich, doch entlang der genuesischen Handelsrouten drang
der Erreger anschließend nach Europa vor. Zuerst trat sie in den
Hafenstädten Genua und Marseille auf, bis Mitte 1348 dehnte sie sich
über ganz Italien, große Teile Frankreichs und Spaniens aus, in
Nordafrika und entlang der Adria. Ende 1348 gab es die ersten Pesttoten
in Basel, Dover und Madrid, bald darauf in London, Brügge und Wien. Bis
1350 verbreitete sich die Krankheit bis nach Schottland, Skandinavien
und Polen.
In
den Städten Europas, in denen zu viele und noch dazu geschwächte
Menschen in beengten Verhältnissen lebten, herrschten ideale Bedingungen
für die Übertragung: „Wenn einer erkrankte, brach er bald zusammen und
starb. Dabei infizierte er seine ganze Familie“, schilderte Gabriele de
Mussi, ein Notar aus Piacenza, die Verhältnisse in seiner lombardischen
Heimatstadt. In Florenz starben von März 1348 bis Juni 1349 mehr als
70.000 der etwa 100.000 Einwohner; im viel kleineren Mainz waren es
6000, ungefähr jeder dritte.
Die meisten Infizierten bekamen erst
hohes Fieber, dann bildeten sich Schwellungen, die sogenannten
Pestbeulen, in der Leistengegend, den Achselhöhlen und am Hals. Ferner
entwickelte sich eine Variante, die vor allem die Lungen befiel und zu
heftigen Hustenanfällen führte – deren Auswurf seinerseits hochinfektiös
war.
„Es
war apokalyptisch“, urteilt Jones und liefert einen schlagenden Beleg:
„Ein Augenzeuge in Irland hinterließ am Ende seiner Chronik leere
Seiten, falls es wie durch ein Wunder Überlebende geben würde, die sein
Werk fortsetzen könnten.“ Allein in Europa dürften rund 25 Millionen
Menschen der Pest binnen weniger Jahre zum Opfer gefallen sein – bei
seinerzeit und gerade nach den Folgen der Hungersnöte zwischen 1316 und
1323 gerade einmal etwa 75 Millionen Einwohnern insgesamt. Es war die
größte demographische Katastrophe der abendländischen Geschichte.
Die
Zeitgenossen vermuteten ganz unterschiedliche Ursachen für die Geißel,
die sie getroffen hatte: etwa den Zorn Gottes oder die Sündhaftigkeit
der Menschen, die bevorstehende Ankunft des „Antichristen“ oder die
Auferstehung des Stauferkaisers Friedrichs II. aus dem Kyffhäuser. Aber
ebenso spekulierte man über so weltliche Gründe wie unsittliche Kleidung
von Frauen, ungünstige Planetenkonstellation, Sodomie und andere
sexuelle Ausschweifungen sowie über – unreifes Gemüse.
Pogrome gegen Juden
Nicht
fehlen durfte natürlich die Beschuldigung der Juden, die angeblich
Brunnen vergiftet hätten; das Gerücht wurde in Savoyen durch erpresste
Geständnisse offiziell „bestätigt“. Über Städte in der Schweiz und im
Elsass verbreitete sich diese Kunde genauso schnell wie der Erreger.
Anders als bei früheren judenfeindlichen Vorwürfen wie dem
„Hostienfrevel“ und dem „Ritualmord“ bremste das Papsttum diesmal:
Clemens VI. erließ am 26. September 1348 die Bulle „Quamvis Perfidiam“
(zu Deutsch: „Trotz des Verrats“), in der er vor Gerüchten warnte und
darauf hinwies, dass die Pest auch dort auftrete, wo keine Juden lebten.
Doch
damit drang der Papst, selbst übrigens ein übler Nepotist, der gleich
reihenweise seine (angeblichen oder tatsächlichen) Neffen in hohe Ränge
der Kirche beförderte, nicht durch. In weiten Teilen Europas beteiligten
sich Pfarrer und Bischöfe an den Pestpogromen. Gegen die Bulle wurden
erzwungene Geständnisse gefolterter Juden ins Feld geführt.
Beispielsweise in Freiburg sollte ein Mann gestanden haben, dass er aus
Jerusalem ein besonderes Gift mitgebracht habe, das nur für Christen
tödlich sei. Dass Juden ebenso an der Pest starben wie Nichtjuden,
störte nicht. Die Pogrome, die im deutschen Sprachraum von November 1348
bis Februar 1351 dauerten, vernichteten fast alle bedeutenden jüdischen
Gemeinden.
Die
Stimmung Mitte des 14. Jahrhunderts gab Gabriele de Mussi wieder, als
er schrieb: „Die Vergangenheit hat uns verschlungen, die Gegenwart nagt
an unseren Eingeweiden, die Zukunft droht mit noch größeren Gefahren.“
Im
Abstand von je rund zehn Jahren folgten weitere Ausbrüche der Pest in
Europa, bis in die 1390er-Jahre. Sie waren nicht so heftig wie die
erste, forderten aber immer noch viele Opfer. Erholen konnte sich Europa
so nicht. „Theoretisch hätte das Leben nach dem Schwarzen Tod für die
Überlebenden etwas leichter sein müssen“, stellt Dan Jones fest, „es
hätten die Pachtzahlungen niedriger, die Löhne höher und die Aussichten
allgemein besser sein müssen.“ Doch das war nicht der Fall, weil nun
politische und Armutsaufstände ausbrachen. Selbstgeißlerische Bewegungen
wie die Flagellanten erhielten Zulauf.
Dennoch
schwächte sich Ende des 14. Jahrhunderts das allgemeine Gefühl, die
Welt stehe am Rand der Apokalypse, etwas ab. Zwar blieben Pest, Krieg
und Hunger feste Bestandteile des Lebens, aber die Menschen gewöhnten
sich an solche und andere Herausforderungen. Es blieb zwar kalt, aber
wer die schrecklichen Jahrzehnte überstanden hatte, konnte nun wieder
Zuversicht fassen. Auf den Niedergang seit 1310 folgte im 15.
Jahrhundert die Renaissance der Antike und damit des geistigen Lebens.
Die Apokalypse blieb aus, auch wenn es danach lange nicht ausgesehen
hatte.
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