aus nzz.ch, 18.11.2023 Giovanni Bellini, Heiliger Hieronymus lesend in einer Landschaft, um 1480/1485. zu Geschmackssachen
In Venedig entstand die moderne Malerei
Wie
Renaissancekünstler die Landschafts- und Porträtmalerei
revolutionierten, zeigt jetzt eine Schau in der Alten Pinakothek
München.
von Franz Zelger
Venedig
ist unvergleichlich. Bis heute lassen sich die Menschen verzaubern von
dieser Stadt zwischen Wasser und Himmel, auf Pfählen und kleinen Inseln
gebaut. Es ist das Werk von Jahrhunderten und dennoch von perfekter
Einheit in der Vielfalt. Dazu das verzaubernde Wechselspiel von Licht
und Schatten, Regen, Dunst und Nebel, Wolkenzügen, Morgen- und Abendrot.
Das macht das Erscheinungsbild der Serenissima aus – eine Schönheit,
die vom Untergang bedroht ist. Die klimatischen Voraussetzungen haben
hier seit je die Wahrneh-mung von Farben und Licht gesteigert. «Das, was
man Malerei nennt, entsteht erst bei den Venezianern», meinte Cézanne.
Dies
gilt insbesondere für Giorgione und den jungen Tizian, die in der
Nachfolge Giovanni Bellinis die Welt im Medium der Farbe neu entdeckt
haben. Bellini hatte seit den frühen 1470er Jahren mit der Technik der
Ölmalerei experimentiert. Sie ermöglicht fliessende Übergänge zwischen
Licht und Schatten weit besser als die eher trockene Tempera.
Entdeckung der Landschaft
Die
Alte Pinakothek München, deren Sammlung über 200 Werke venezianischer
Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts beherbergt, hat sich jetzt im
Rahmen einer grossangelegten Bestandsaufnahme zum Ziel gesetzt, in einer
Ausstellung die «sanfte Revolution» in der venezianischen Malerei
während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Wobei sie
sich auf Porträts und Landschaften und deren Wechselwirkung
konzentriert.
Die
Landschaftsmalerei gehört zu den zentralen Errungenschaften der
Renaissancekunst in Venedig. Zuvor hatten Landschaften nach nordischen
Vorbildern fast immer als «Kulisse», als Umrahmung der Figuren in
Andachtsbildern oder biblischen Szenen gedient. In der Renaissance wurde
die Landschaft zum symbolhaltigen Stimmungsträger. In Giovanni Bellinis
«Christus am Ölberg» oder seiner «Auferstehung Christi» lässt sich das
besonders gut nachvollziehen.<
Beliebt
waren Darstellungen des Heiligen Hieronymus in der Einöde, weil hier
der Bezug zwischen Mensch und Natur thematisch vorgegeben ist. Manchmal
lässt sich eine Landschaft identifizieren, so in Bellinis Andachtsbild,
das den lesenden Hieronymus zwischen schroffen Felswänden wahrscheinlich
vor der Stadt Marostica zeigt.
Eine
der ersten reinen Landschaftsdarstellungen des Veneto hat der in der
Münchner Ausstellung vor allem mit grossartigen Porträts vertretene
Lorenzo Lotto 1506 auf der Predella des Marienaltars in der Kirche Santa
Maria Assunta in Asolo geschaffen. Da die venezianischen Maler sich
gerne von den Dichtungen Ovids, Theokrits und Vergils inspirieren
liessen, fanden von der Terraferma inspirierte arkadische Landschaften
auch in die Schilderung mythologischer und bukolischer Szenen Eingang.
Giovanni Bellini Maria mit Kind zwischen Johannes dem Täufer und einer Heiligen, 1500–1505.
Giorgione und die Folgen
Giorgiones
«Madonna di Castelfranco» greift den von Giovanni Bellini in Venedig
eingeführten Bildtypus der Sacra Conversazione auf: die Darstellung der
thronenden Madonna, umgeben von Heiligen in handlungslosem Zusammensein.
Es ist die einzige bekannte Altartafel des Malers, der vorwiegend für
private Sammler der venezianischen Elite gearbeitet hat, für eine
gebildete Kennerschaft.
Mit
Werken wie der «Tempesta», über die es eine fast unüberschaubare Fülle
von Interpretationen gibt, führt Giorgione die Landschaftsmalerei in
eine neue Dimension. Die Gewitterszene mit Blitz und Wetterleuchten wird
gleichsam zum Vexierbild, voller versteckter Bezüge und geheimer
Botschaften, die es zu entschlüsseln gilt. An diesem visionären Werk,
einer Ikone der europäischen Malerei, konnte keine der folgenden
Künstlergenerationen vorbeigehen.
Vasari
erwähnt nachdrücklich, dass Giorgione Bilder «senza disegno» (ohne
Vorbereitung mittels Zeichnungen) geschaffen hat. Tatsächlich sind von
ihm nur wenige Skizzen für Gemälde erhalten. Technische Untersuchungen
haben nachgewiesen, dass der Künstler im Schaffensprozess manchmal
Änderungen vorgenommen hat. Das gilt auch für das Doppelbild des
Giovanni Borgherini und des Trifone Gabriele, das die Alte Pinakothek
jetzt aufgrund von naturwissenschaftlichen, quellenkundlichen und
stilistischen Untersuchungen mit grosser Wahrscheinlichkeit als
eigenhändiges Opus Giorgiones identifizieren konnte – eine fulminante
Entdeckung.
Giorgione Bildnis eines jungen Mannes, um 1505/1510
Giorgione, Bildnis des Giovanni Borgherini und des Trifone Gabriele, 1509/1510.
Die
Bildnismalerei erfuhr um 1500 einen Entwicklungsschub. Giovanni Bellini
etablierte gegen Ende des 15. Jahrhunderts das autonome Porträt in
Venedig. Da erscheinen Dogen, Patrizier und Gelehrte, kühl-gelassen,
distanziert, emotionslos, oft hinter einer Brüstung. In der Folge wurde
der individuelle Charakter der nun gerne im Dreiviertelprofil mit
Blickkontakt zum Betrachter Porträtierten immer stärker
herausgearbeitet, das Innere nach aussen transponiert.
Der
namentlich von Giorgione virtuos eingesetzte Schulterblick steigerte
die spontane, momenthafte Wirkung. So erfuhr das Männerporträt im ersten
Drittel des 16. Jahrhunderts eine Metamorphose vom repräsentativen
Abbild zum intimen Charakterbild. Dass auch das «lyrische Männerporträt»
in der späten Kunst Giorgiones wurzelt, überrascht nicht. Es sind
Konterfeis von melancholischer Versunkenheit, wie sie auch der lyrischen
Dichtung jener Zeit eigen ist. Dabei werden Menschen ganz
unterschiedlicher Identität in diesem Bildmodus wiedergegeben, bis hin
zu Kaiser Karl V., den Tizian müde, alt und mit skeptischem Bli
Neben
dem weiblichen Akt gehörte zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch das
Frauenbildnis zu den neuen Bildthemen. In offiziellen Porträts tauchen
die venezianischen «nobildonne» selten auf. Die Gesellschaft wurde von
Männern dominiert, die Politik war ausnahmslos in deren Hand.
Realistischen Bildnissen von Damen der gehobenen Gesellschaft begegnet
man vor allem in Pendant-Porträts von Paaren. Inspiriert von der
damaligen Liebesdichtung, schufen nun Tizian und seine Zeitgenossen
Palma Vecchio, Lorenzo Lotto, Paris Bordone, Jacopo Tintoretto und Paolo
Veronese einen neuen Typus, poetisch-erotische, idealisierte
Frauenbildnisse, die für die europäische Malerei der nachfolgenden
Jahrhunderte wegweisend wurden.
Solche
Idealporträts attraktiver junger Damen – oft mit grosszügigem Décolleté
und kokettem Blick, bei der Toilette, vor dem Spiegel, am Frisiertisch –
erfreuten sich grosser Beliebtheit. Die Münchner Ausstellung fächert
ein erlesenes Panorama dieser erotisch konnotierten Frauenbildnisse auf,
die weibliche Reize zur Schau stellen, gleichzeitig aber auf die
Vergänglichkeit jugendlicher Schönheit verweisen. Nach neuesten, auf der
Analyse von Gesten und Blicken beruhenden Erkenntnissen stellen diese
«belle donne» Bräute dar, die ihren Verlobten mit dem Entblössen der
Brüste ihre Herzen öffnen und so ihr Ehe- und Treueversprechen
besiegeln.
Familien-
und Stifterbildnisse ergänzen das Spektrum der venezianischen
Porträtkunst. Zum Drei-Generationen-Bildnis der Familie Maggi von
Tintoretto und seiner Werkstatt, das bisher als anonymes Familienbildnis
aus der Hand eines nicht identifizierbaren venezianischen Malers galt,
hat das Münchner Forschungsteam in interdisziplinärer Detektivarbeit
eine dramatische Familiengeschichte samt Erbschaftsstreit ans Licht
gebracht.
Palma il Vecchio, Bildnis einer jungen Frau in blauem Kleid mit Fächer, nach 1514
Tizian, Junge Frau bei der Toilette, um 1515.
Wissenschaftlich ambitioniert, präsentiert sich die Münchner Schau in einer
Inszenierung, die die Besucher mittels Klanginstallationen und einer
raffinierten Farb- und Lichtregie atmosphärisch umfängt, und in einer
Raumarchitektur, die Nähe zu den Bildwelten erzeugt. Mit ihrer
hochkarätigen Werkauswahl, die auch exquisite Zeichnungen,
druckgrafische Arbeiten und einige Skulpturen einschliesst, bewegt sie
sich auf Augenhöhe mit den vorangegangenen Ausstellungen zum
unerschöpflichen Thema Venedig in Hamburg, Frankfurt am Main, Wien und
Mailand.
«Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei». Alte Pinakothek München. Bis 4. Februar 2024. Katalog: 256 S., 166 farbige Abb., € 34.–.
Nota. - Vor Jahren habe ich mir vorgenommen, den Ausdruck die Moderne nicht mehr zu gebrauchen. Da wird viel zu Verschiedenes mit gemeint und manchmal - besonders wenn er zu "das Projekt der" ergänzt wird - auch gar nichts. Nachdem sich irzwischen erwiesen hat, dass auch die Postmoderne schon vorüber ist, können wir aber darauf vertrauen, vom oberen Ende her auf das Ding zu blicken. Dass es irgendwann begonnen hat, liegt auf der Hand, wann genau, ist ein Streit um Kaisers Bart. Es mag ja eine stetige etappenreiche Wendung gewesen sein - worauf es aber ankommt, ist die Frage: wohin? Das ist in der Kunst leichter zu beantworten, als mancher denkt. Es ist die Wende von einer thematisch gebundenen, an die Zwecke des materiellen Verkehrs emphatisch oder polemisch gebundenen Kunst fort, und hin zu einer freien und am bloß-Ästhetischen orientierten.
Der entscheidende Wendepunkt, das vertrete ich seit Jahren, war die Entdeckung der Landschaft, die wohl bildhaft pittoresk gefasst werden will, aus der jedoch alles geschäftig Nützliche ebenso ausgeschieden werden kann wie das übersinnlich Heilige - wenn man will; und damit kokettieren kann man auch, wenn man will.
Giorgione und Tizian habe ich auch die Ehre erwiesen, aber dass die Venezianer einen vorgeschobenen Post in der Eroberung der Landschaft für die Kunst besetzt hatten, war mir nicht recht deutlich geworden, ich habe sie mehr mit dem Manierismus in Verbindung gebracht. Doch dass die Landschaftsmalerei eine untergründige Verwandschaft mit der Porträtkunst unterhält, ist auch mir nicht entgangen. Ebensowenig wie für die Landschaft, ist es beim Porträt für den Nachgeborenen von Belang, ob das künstliche Nachbild dem natürlichen Vorbild "ähnlich sieht": Das Bild will als es selbst genommen werden, und es ist je individueller, je abstrakter (oder umgekehrt). Nämlich Ausdruck als Abstraktum.
JE
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