Montag, 20. November 2023

Venedig: Landschaft, Porträt und Ästhetisierung der Kunst.

Giovanni Bellini: Heiliger Hieronymus lesend in einer Landschaft, um 1480/1485.
aus nzz.ch, 18.11.2023         Giovanni Bellini, Heiliger Hieronymus lesend in einer Landschaft, um 1480/1485.           zu Geschmackssachen

In Venedig entstand die moderne Malerei
Wie Renaissancekünstler die Landschafts- und Porträtmalerei revolutionierten, zeigt jetzt eine Schau in der Alten Pinakothek München.


von Franz Zelger

Venedig ist unvergleichlich. Bis heute lassen sich die Menschen verzaubern von dieser Stadt zwischen Wasser und Himmel, auf Pfählen und kleinen Inseln gebaut. Es ist das Werk von Jahrhunderten und dennoch von perfekter Einheit in der Vielfalt. Dazu das verzaubernde Wechselspiel von Licht und Schatten, Regen, Dunst und Nebel, Wolkenzügen, Morgen- und Abendrot. Das macht das Erscheinungsbild der Serenissima aus – eine Schönheit, die vom Untergang bedroht ist. Die klimatischen Voraussetzungen haben hier seit je die Wahrneh-mung von Farben und Licht gesteigert. «Das, was man Malerei nennt, entsteht erst bei den Venezianern», meinte Cézanne.

Dies gilt insbesondere für Giorgione und den jungen Tizian, die in der Nachfolge Giovanni Bellinis die Welt im Medium der Farbe neu entdeckt haben. Bellini hatte seit den frühen 1470er Jahren mit der Technik der Ölmalerei experimentiert. Sie ermöglicht fliessende Übergänge zwischen Licht und Schatten weit besser als die eher trockene Tempera.

Entdeckung der Landschaft

Die Alte Pinakothek München, deren Sammlung über 200 Werke venezianischer Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts beherbergt, hat sich jetzt im Rahmen einer grossangelegten Bestandsaufnahme zum Ziel gesetzt, in einer Ausstellung die «sanfte Revolution» in der venezianischen Malerei während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Wobei sie sich auf Porträts und Landschaften und deren Wechselwirkung konzentriert.
Die Landschaftsmalerei gehört zu den zentralen Errungenschaften der Renaissancekunst in Venedig. Zuvor hatten Landschaften nach nordischen Vorbildern fast immer als «Kulisse», als Umrahmung der Figuren in Andachtsbildern oder biblischen Szenen gedient. In der Renaissance wurde die Landschaft zum symbolhaltigen Stimmungsträger. In Giovanni Bellinis «Christus am Ölberg» oder seiner «Auferstehung Christi» lässt sich das besonders gut nachvollziehen.<

Beliebt waren Darstellungen des Heiligen Hieronymus in der Einöde, weil hier der Bezug zwischen Mensch und Natur thematisch vorgegeben ist. Manchmal lässt sich eine Landschaft identifizieren, so in Bellinis Andachtsbild, das den lesenden Hieronymus zwischen schroffen Felswänden wahrscheinlich vor der Stadt Marostica zeigt.

Eine der ersten reinen Landschaftsdarstellungen des Veneto hat der in der Münchner Ausstellung vor allem mit grossartigen Porträts vertretene Lorenzo Lotto 1506 auf der Predella des Marienaltars in der Kirche Santa Maria Assunta in Asolo geschaffen. Da die venezianischen Maler sich gerne von den Dichtungen Ovids, Theokrits und Vergils inspirieren liessen, fanden von der Terraferma inspirierte arkadische Landschaften auch in die Schilderung mythologischer und bukolischer Szenen Eingang.


Giovanni Bellini: Maria mit Kind zwischen Johannes dem Täufer und einer Heiligen, 1500–1505.

Giovanni Bellini Maria mit Kind zwischen Johannes dem Täufer und einer Heiligen, 1500–1505.

Giorgione und die Folgen


Giorgiones «Madonna di Castelfranco» greift den von Giovanni Bellini in Venedig eingeführten Bildtypus der Sacra Conversazione auf: die Darstellung der thronenden Madonna, umgeben von Heiligen in handlungslosem Zusammensein. Es ist die einzige bekannte Altartafel des Malers, der vorwiegend für private Sammler der venezianischen Elite gearbeitet hat, für eine gebildete Kennerschaft.



Mit Werken wie der «Tempesta», über die es eine fast unüberschaubare Fülle von Interpretationen gibt, führt Giorgione die Landschaftsmalerei in eine neue Dimension. Die Gewitterszene mit Blitz und Wetterleuchten wird gleichsam zum Vexierbild, voller versteckter Bezüge und geheimer Botschaften, die es zu entschlüsseln gilt. An diesem visionären Werk, einer Ikone der europäischen Malerei, konnte keine der folgenden Künstlergenerationen vorbeigehen.

Vasari erwähnt nachdrücklich, dass Giorgione Bilder «senza disegno» (ohne Vorbereitung mittels Zeichnungen) geschaffen hat. Tatsächlich sind von ihm nur wenige Skizzen für Gemälde erhalten. Technische Untersuchungen haben nachgewiesen, dass der Künstler im Schaffensprozess manchmal Änderungen vorgenommen hat. Das gilt auch für das Doppelbild des Giovanni Borgherini und des Trifone Gabriele, das die Alte Pinakothek jetzt aufgrund von naturwissenschaftlichen, quellenkundlichen und stilistischen Untersuchungen mit grosser Wahrscheinlichkeit als eigenhändiges Opus Giorgiones identifizieren konnte – eine fulminante Entdeckung.



Giorgione  Bildnis eines jungen Mannes, um 1505/1510


Giorgione, Bildnis des Giovanni Borgherini und des Trifone Gabriele, 1509/1510.

Die Bildnismalerei erfuhr um 1500 einen Entwicklungsschub. Giovanni Bellini etablierte gegen Ende des 15. Jahrhunderts das autonome Porträt in Venedig. Da erscheinen Dogen, Patrizier und Gelehrte, kühl-gelassen, distanziert, emotionslos, oft hinter einer Brüstung. In der Folge wurde der individuelle Charakter der nun gerne im Dreiviertelprofil mit Blickkontakt zum Betrachter Porträtierten immer stärker herausgearbeitet, das Innere nach aussen transponiert.

Der namentlich von Giorgione virtuos eingesetzte Schulterblick steigerte die spontane, momenthafte Wirkung. So erfuhr das Männerporträt im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts eine Metamorphose vom repräsentativen Abbild zum intimen Charakterbild. Dass auch das «lyrische Männerporträt» in der späten Kunst Giorgiones wurzelt, überrascht nicht. Es sind Konterfeis von melancholischer Versunkenheit, wie sie auch der lyrischen Dichtung jener Zeit eigen ist. Dabei werden Menschen ganz unterschiedlicher Identität in diesem Bildmodus wiedergegeben, bis hin zu Kaiser Karl V., den Tizian müde, alt und mit skeptischem Bli

Neben dem weiblichen Akt gehörte zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch das Frauenbildnis zu den neuen Bildthemen. In offiziellen Porträts tauchen die venezianischen «nobildonne» selten auf. Die Gesellschaft wurde von Männern dominiert, die Politik war ausnahmslos in deren Hand. Realistischen Bildnissen von Damen der gehobenen Gesellschaft begegnet man vor allem in Pendant-Porträts von Paaren. Inspiriert von der damaligen Liebesdichtung, schufen nun Tizian und seine Zeitgenossen Palma Vecchio, Lorenzo Lotto, Paris Bordone, Jacopo Tintoretto und Paolo Veronese einen neuen Typus, poetisch-erotische, idealisierte Frauenbildnisse, die für die europäische Malerei der nachfolgenden Jahrhunderte wegweisend wurden.

Solche Idealporträts attraktiver junger Damen – oft mit grosszügigem Décolleté und kokettem Blick, bei der Toilette, vor dem Spiegel, am Frisiertisch – erfreuten sich grosser Beliebtheit. Die Münchner Ausstellung fächert ein erlesenes Panorama dieser erotisch konnotierten Frauenbildnisse auf, die weibliche Reize zur Schau stellen, gleichzeitig aber auf die Vergänglichkeit jugendlicher Schönheit verweisen. Nach neuesten, auf der Analyse von Gesten und Blicken beruhenden Erkenntnissen stellen diese «belle donne» Bräute dar, die ihren Verlobten mit dem Entblössen der Brüste ihre Herzen öffnen und so ihr Ehe- und Treueversprechen besiegeln.

Familien- und Stifterbildnisse ergänzen das Spektrum der venezianischen Porträtkunst. Zum Drei-Generationen-Bildnis der Familie Maggi von Tintoretto und seiner Werkstatt, das bisher als anonymes Familienbildnis aus der Hand eines nicht identifizierbaren venezianischen Malers galt, hat das Münchner Forschungsteam in interdisziplinärer Detektivarbeit eine dramatische Familiengeschichte samt Erbschaftsstreit ans Licht gebracht.


Palma il Vecchio, Bildnis einer jungen Frau in blauem Kleid mit Fächer, nach 1514


Tizian, Junge Frau bei der Toilette, um 1515.

Wissenschaftlich ambitioniert, präsentiert sich die Münchner Schau in einer Inszenierung, die die Besucher mittels Klanginstallationen und einer raffinierten Farb- und Lichtregie atmosphärisch umfängt, und in einer Raumarchitektur, die Nähe zu den Bildwelten erzeugt. Mit ihrer hochkarätigen Werkauswahl, die auch exquisite Zeichnungen, druckgrafische Arbeiten und einige Skulpturen einschliesst, bewegt sie sich auf Augenhöhe mit den vorangegangenen Ausstellungen zum unerschöpflichen Thema Venedig in Hamburg, Frankfurt am Main, Wien und Mailand.

«Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei». Alte Pinakothek München. Bis 4. Februar 2024. Katalog: 256 S., 166 farbige Abb., € 34.–.

 

Nota. - Vor Jahren habe ich mir vorgenommen, den Ausdruck die Moderne nicht mehr zu gebrauchen. Da wird viel zu Verschiedenes mit gemeint und manchmal - besonders wenn er zu "das Projekt der" ergänzt wird - auch gar nichts. Nachdem sich irzwischen erwiesen hat, dass auch die Postmoderne schon vorüber ist, können wir aber darauf vertrauen, vom oberen Ende her auf das Ding zu blicken. Dass es irgendwann begonnen hat, liegt auf der Hand, wann genau, ist ein Streit um Kaisers Bart. Es mag ja eine stetige etappenreiche Wendung gewesen sein - worauf es aber ankommt, ist die Frage: wohin?  Das ist in der Kunst leichter zu beantworten, als mancher denkt. Es ist die Wende von einer thematisch gebundenen, an die Zwecke des materiellen Verkehrs emphatisch oder polemisch gebundenen Kunst fort, und hin zu einer freien und am bloß-Ästhetischen orientierten. 

Der entscheidende Wendepunkt, das vertrete ich seit Jahren, war die Entdeckung der Landschaft, die wohl bildhaft pittoresk gefasst werden will, aus der jedoch alles geschäftig Nützliche ebenso ausgeschieden werden kann wie das übersinnlich Heilige - wenn man will; und damit kokettieren kann man auch, wenn man will.

Giorgione und Tizian habe ich auch die Ehre erwiesen, aber dass die Venezianer einen vorgeschobenen Post in der Eroberung der Landschaft für die Kunst besetzt hatten, war mir nicht recht deutlich geworden, ich habe sie mehr mit dem Manierismus in Verbindung gebracht. Doch dass die Landschaftsmalerei eine untergründige Verwandschaft mit der Porträtkunst unterhält, ist auch mir nicht entgangen. Ebensowenig wie für die Landschaft, ist es beim Porträt für den Nachgeborenen von Belang, ob das künstliche Nachbild dem natürlichen Vorbild "ähnlich sieht": Das Bild will als es selbst genommen werden, und es ist je individueller, je abstrakter (oder umgekehrt). Nämlich Ausdruck als Abstraktum.
JE

 

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