aus spektrum.de, 7. 11. 2023 pakistanischer Sufi zuJochen Ebmeiers Realien zu Philosophierungen
Isolierte Sprachen: Die Geheimnisse der Überlebenden
Beeinflusst
die Sprache das Denken eines Menschen? Die These ist umstritten. Doch
einige seltene Sprachen legen nahe, dass unsere Kommunikationsweise und
unsere Kognition miteinander verquickt sind.
Im
Februar 2022 starb in Chile eine 93-jährige Frau. Mit ihr verstummte
eine ganze Sprache. Denn Cristina Calderón war die letzte Sprecherin von
Yaghan, das einst in ganz Feuerland, an der Spitze Südamerikas,
verbreitet war. Mit Yaghan ging nicht nur eine Fülle an Wissen verloren,
sondern auch eine isolierte Sprache – eine, zu der es auf der gesamten
Welt nichts Vergleichbares gab und die keinen Bezug zu einer der
bekannten Sprachfamilien erkennen ließ.
Von
ungefähr 7000 existierenden Sprachen stellen etwa 200 isolierte
Sprachen dar – und viele von ihnen sind vom Aussterben bedroht.
Schätzungen zufolge werden 30 bis 50 Prozent aller Sprachen bis zum Ende
des 21. Jahrhunderts verschwunden sein, darunter vor allem solche,
derer nur wenige hundert Menschen mächtig sind.
Doch
je gefährdeter die Existenz einer Sprache ist, desto intensiver
forschen Fachleute über sie und erkennen: Isolierte Sprachen bergen
Indizien, mit denen die Bandbreite menschlicher Kommunikation und
Kognition genauer zu erfassen ist. In den vergangenen Jahren lieferten
sie neue Impulse zu der Frage, wie die Entwicklung einer Kultur und ihre
Sprache verquickt sind. Und sie lieferten neuen Stoff für die
umstrittene These, dass die Sprache beeinflusst, wie Menschen ihre
Umgebung wahrnehmen und sie in Worte fassen. »Jede isolierte Sprache
öffnet ein neues Fenster ins menschliche Denken«, sagt Lyle Campbell,
Linguist an der University of Hawai‘i at Mānoa. Forscherinnen und
Forscher wie Campbell erkunden daher auch Strategien, um seltene Sprache
vor dem Aussterben zu bewahren.
Die Letzten einer Linie
Die
Sprachgeschichte ist im Grunde ein Familienstammbaum. Die Ähnlichkeiten
zwischen Dänisch und Niederländisch, zwischen Swahili und Zulu oder
Türkisch und Usbekisch bezeugen, dass sich Sprachen eigentlich nicht
voneinander getrennt entwickelt haben. Vielmehr verteilen sie sich auf
etwa 140 Abstammungslinien – ausgenommen die so genannten Isolate. Von
jenen ist wohl Baskisch am bekanntesten, das Menschen an der Grenze
zwischen Frankreich und Spanien sprechen. Die Unterschiede zu den
benachbarten Sprachen sind frappant: Während »vin« ein beliebtes
französisches Getränk ist und auch in Spanien viele Menschen gerne ein
Glas »vino« genießen, ordert man in einem baskischen Lokal »ardoa«. Und
spricht man in Spanien und Frankreich von »agricultura« beziehungsweise
»agriculture« – der Landwirtschaft –, heißt es im Baskenland
»nekazaritza«.
Ein derart außergewöhnlicher Wortschatz kann bei den Muttersprachlern ein Gefühl von Stolz und auch Trotz wecken. Das erklärt vielleicht, warum das Baskische seit Jahrtausenden existiert. Das älteste Zeugnis kam erst jüngst, 2021, zum Vorschein: Auf dem Gipfel des Bergs Irulegi im Baskenland fand sich ein bronzenes Amulett in Form einer Hand. Das Blech aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. wurde auf Frühbaskisch beschriftet. Die Wurzeln des Baskischen reichen aber vermutlich weiter zurück, mehr als 5000 Jahre.
»Die Art und Weise, wie Menschen mit ihren Sprachen eine kognitive Welt konstruieren, ist extrem vielfältig«
Anna Belew, Linguistin, University of Hawai‘i at Mānoa
Sicher
ist: Isolate waren irgendwann einmal Teil einer größeren Sprachfamilie.
Doch mit der Zeit sind die anderen Mitglieder verschwunden, übrig blieb
ein einziges. Das sibirische Ket zum Beispiel gehörte einst zur kleinen
Familie jenisseischer Sprachen. Heute ist es das letzte Überbleibsel
jener altsibirischen Idiome. Womöglich weil das Russische alle anderen
verdrängte, als die Russen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert Stück
für Stück Sibirien eroberten.
Das Überbleibsel einer Weltanschauung
Für
Linguisten sind isolierte Sprachen besonders aufschlussreich. Denn jede
von ihnen zeigt, welche Varianten der Kommunikation die Menschheit
entwickelt hat. »Die Art und Weise, wie Menschen mit ihren Sprachen eine
kognitive Welt konstruieren, ist extrem vielfältig«, sagt Anna Belew
von der University of Hawai‘i at Mānoa, die wie Campbell im Endangered Languages Project
leitend tätig ist. »Und isolierte Sprachen – allein auf Grund der
Tatsache, dass sie keine Schwestersprachen haben – fassen eine
Weltanschauung meist auf einzigartige Weise in Worte.«
Indem Forscher und Forscherinnen die Strukturen jener Idiome entschlüsseln, decken sie auch bislang unbekannte Sprachregeln auf. Kutenai zum Beispiel ist ein Isolat, das eine indigene Gemeinschaft mit gleichem Namen spricht. Ihr Stammesgebiet liegt an der Grenze zwischen den USA und Kanada. Und Kutenai ist nahezu einzigartig: Es kennt eine grammatikalische vierte Person. Das heißt, die Kutenai können in einem Satz wie »Er hielt seinen Hut« genau spezifizieren, wem der Hut gehört – dem Subjekt »er« oder einer anderen männlichen Person. Kusunda, das in Nepal gesprochen wird, kommt hingegen ohne Elemente aus, die in den meisten Sprachen absolut wesentlich sind: Wörter wie »nein«.
Historische Linguisten richten ihren Blick aber nicht nur auf alte isolierte Sprachen, sondern sie untersuchen auch solche, die erst vor relativ kurzer Zeit entstanden sind. Wie im Fall der Al-Sayyid-Beduinen-Gebärdensprache (ASBG), die Beduinen in der Wüste Negev in Israel verwenden. Der Stamm der Al-Sayyid entwickelte ASBG in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Zeichensprache sollte die Kommunikation in einer Bevölkerung erleichtern, in der ungefähr 50-mal mehr Menschen gehörlos sind als im weltweiten Durchschnitt. Der Grund: Viele Stammesmitglieder sind genetisch bedingt von Geburt an taub. Doch ASBG ist speziell, weil es grundlegend anders aufgebaut ist als alle Sprachen der Welt.
Jede Sprache beruht normalerweise auf einer
zweifachen Gliederung. Was ist damit gemeint? Für gewöhnlich kombinieren
Menschen eine gewisse Zahl an für sich genommen bedeutungslosen Lauten
oder Gesten und bilden so einen umfangreichen Wortschatz. Letzterer
entspricht der ersten Gliederungsebene, zu der Wörter und Sätze zählen,
ihre kleinsten Einheiten sind Morpheme. Die zweite Gliederung umfasst
die Laute oder Phoneme, die in Form von Buchstaben niedergeschrieben
werden können. Sie allein tragen keine Bedeutung, aber aus ihnen lassen
sich bedeutungsvolle Wörter konstruieren. Ein Beispiel: Ich habe
Bauchweh. Diese Kombination vermittelt eine eindeutige Information. Und
zwar genau diese Information. Aus den Bestandteilen des Satzes oder den
einzelnen Wörtern ließen sich aber auch andere bedeutungstragende
Aussagen zusammenstellen. Wohingegen die einzelnen Komponenten der
zweiten Gliederung, bei Bauchweh etwa »b«, »au« oder »w«, für sich
genommen nicht signifikant sind.
Viel zu komplex!
Die
zweifache Gliederung bringt Vorteile mit sich, weil sie das Gehirn
nicht überstrapaziert. Man stelle sich vor, es gäbe ein
Kommunikationssystem, in dem der spezifische Schmerz für Bauchweh einem
bestimmten Schrei entspräche. Dann bräuchte man ein System, dass »eine
so beträchtliche Anzahl verschiedener Zeichen aufweisen müsste, dass das
menschliche Gedächtnis sie nicht fassen könnte«, schrieb der Linguist
André Martinet (1908–1999), der den Begriff der »double articulation«,
der zweifachen Gliederung, einführte.
Eine Sprache, in der jedes Wort einzigartig ist
und nicht in kleinere, festgelegte Einheiten zerlegt werden kann, wäre
demnach viel zu komplex. Menschen müssten sich merken, dass ein Zischen
in einer bestimmten Klangfarbe »Frühstück« hieße oder ein leichtes
Krächzen »Toilette«. Doch genau so funktioniert ASBG. Anders als alle
bekannten gesprochenen und Gebärdensprachen müssen sich die Al-Sayyid
für jedes Wort eine neue und eindeutige Geste einprägen. ASBG bezeugt
damit, dass die zweifache Gliederung kein universelles Sprachmerkmal
ist. Und die Gebärden der Al-Sayyid liefern Hinweise darauf, warum dem
so ist.
Die beiden Linguisten Simon Kirby von der University of Edinburgh und Monica Tamariz von der dortigen Heriot-Watt University verglichen ASBG mit einer nicht verwandten, aber ähnlich jungen Gebärdensprache – dem israelischen Shassi. Diese ist zweifach gegliedert. Kirby und Tamariz fiel auf, dass Schüler sie in Gruppen lernen, wie es auch für viele andere Gebärdensprachen der Fall ist. Und immer dann, wenn sich gleichaltrige Schüler und Schülerinnen miteinander unterhielten, nutzten sie die zweifache Gliederung – weil es den Austausch erleichterte. Eine Rolle spielt dabei auch, dass Lernende einer neuen Sprache stets dazu tendieren, es sich möglichst einfach zu machen. Wenn dann andere Schüler die simpleren Konstruktionen übernehmen, gehen diese allmählich in den Sprachschatz der gesamten Gemeinschaft über.
Im Fall von ASBG verläuft der Lernprozess dagegen nicht über Gleichaltrige, sondern die Älteren der Al-Sayyid geben die Gebärden vor. Selbst wenn die Sprachschüler vereinfachte Zeichen entwickelten, dann würden sie die Älteren nicht adaptieren – weil es für sie Kindersprech wäre. Die Folge: Neue, simplere Gebärden finden keinen Eingang in die Sprache, damit bleibt sie komplex.
Kirby und Tamariz prüften ihre Ergebnisse mit einer Computersimulation. Sie kreierten eine simple Sprache aus vier Wörtern und ließen sie von einer virtuellen Gruppe verwenden. Gaben die ältesten Mitglieder der Gemeinschaft die Wörter an die jüngeren weiter, mussten mehr als 50 Generationen verstreichen, bis sich die zweifache Gliederung herausgebildet hatte. Wenn in der Simulation aber ein jüngerer Mensch, der sich selbst noch die Sprache aneignete, andere unterrichtete, dann zeigte sich die »double articulation« bereits nach vier Generationen. Offenbar prägt die Gesellschaftsstruktur die Entwicklung einer Sprache. Und diejenigen, die sie neu erlernen, so erklärt Tamariz, formen sie besonders stark.
Beeinflusst das Denken die Sprache und umgekehrt?
Zu den großen Fragen der Linguistik zählt eine These, die sehr umstritten ist: die Sapir-Whorf-Hypothese.
Bei ihr geht es darum, wie sich Sprache und Denken gegenseitig
beeinflussen. Denn einige Fachleute sind überzeugt davon, dass die Art
und Weise, wie wir kommunizieren, auf unsere Wahrnehmung der Welt und
auf abstrakte Konzepte wie Zahlen einwirkt. Isolierte Sprachen legen nun
nahe, dass die Sapir-Whorf-Hypothese stimmen könnte.
Mit Hilfe der Sprache, vor allem für den Bereich jenseits der Zahl Vier, eröffnen sich Menschen »neue konzeptionelle Fähigkeiten«
Benjamin Pitt, Linguist, University of California in Berkeley
Häufig genannt in jener Diskussion ist die indigene Gruppe der Pirahã, die im Norden Brasiliens lebt. Ihre Sprache – ebenfalls Pirahã genannt – kennt Untersuchungen zufolge keine Wörter für Zahlen. Weitere Studien deuten nun darauf hin, dass die Pirahã auch Schwierigkeiten beim Zählen hätten. Folglich muss man über Wörter für Zahlen verfügen, um zumindest ein bisschen Mathematik betreiben zu können. Das Fazit klinge plausibel, sei aber höchst problematisch, sagt Benjamin Pitt von der University of California in Berkeley. Man habe nämlich bisher das Zahlenverständnis der Pirahã mit den Fähigkeiten und Kenntnissen von Menschen in Industrieländern verglichen. Eine ungleiche Gegenüberstellung, findet Pitt, weil sich die Lebensweise in einem Land wie den USA stark von der im Amazonasgebiet unterscheide.
Deshalb suchte Pitt nach einer Gemeinschaft, die einer ähnlichen Kultur wie die Pirahã angehört und Zahlwörter nutzt oder auch nicht. Fündig wurden Pitt und sein Team ebenfalls im Amazonasgebiet: bei den Tsimané im bolivianischen Tiefland. Die Sprache jener Menschen ist isoliert – und sie verwenden Zahlwörter. Allerdings kennen nicht alle Tsimané gleich viele davon: Einige können bis ins Unendliche zählen, andere hingegen geraten bei zehn oder zwölf ins Stocken.
Pitt und seine Kollegen baten 30 Tsimané, von denen 15 problemlos zählen konnten, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sie sollten Zählaufgaben lösen, nämlich neben eine Reihe Spielsteine exakt dieselbe Menge von Steinchen auslegen. Die meisten Probanden bekamen das problemlos hin – wenn sie die Spielsteine parallel zur Reihe auf den Tisch setzen konnten. Die Aufgabe war leicht, vermutet Pitt, weil man dafür eigentlich nicht zählen können muss.
Zählen bis vier ist universell
Als
Nächstes bat Pitts Team die Probanden und Probandinnen, die Steinchen
lotrecht zur Reihe anzulegen. Nun waren Zählkenntnisse erforderlich. Das zeigte auch der Versuch.
Bis zu vier Steinchen konnten alle Teilnehmenden anlegen. Doch umfasste
die vorgegebene Reihe mehr als vier Objekte, gelang es ihnen nur, die
Senkrechte so weit zu führen, wie ihre Kenntnis der Zahlwörter reichte.
Wer beispielsweise die Zahlen bis 15 beherrschte, konnte maximal eine
ebenso lange Reihe bilden. Ein Zahlenverständnis bis vier haben
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ebenso bei verschiedenen
Tierarten beobachtet wie Küken, Bienen oder Pferden. Es scheint eine
universelle Fähigkeit zu sein.
Einige
Fachleute gehen hingegen davon aus, dass Menschen auch ohne spezifische
Wörter, nur kraft ihrer Kognition weiter zählen können. Pitts
Forschungen legen allerdings das Gegenteil nahe. Mit Hilfe der Sprache,
vor allem für den Bereich jenseits der Zahl Vier, eröffnen sich Menschen
»neue konzeptionelle Fähigkeiten«, sagt Pitt, die ihnen anderenfalls
nicht zur Verfügung stünden.
Isolierte Sprachen wie die der
Tsimané bergen Erkenntnisse über das menschliche Denken. Weil ihre
Strukturen in keiner zugehörigen Sprachfamilie mehr erhalten sind, ist
Forschern und Forscherinnen sehr daran gelegen, sie zu untersuchen. »Wir
müssen unbedingt Informationen über isolierte Sprachen gewinnen«, sagt
Campbell. »Denn wenn wir sie verlieren, sind diese Informationen für
immer verloren.«
Dabei finden Fachleute auch Wege, wie sich
solche Sprachen retten lassen. Ane Ortega Etcheverry von der
Pädagogischen Hochschule Begoñako Andra Mari im Baskenland weiß aus
eigener Erfahrung, dass isolierte Sprachen entgegen allen Widrigkeiten
überleben können. Sie wuchs während der Diktatur von Francisco Franco
(1892–1975) auf. Franco unterdrückte jahrzehntelang die Sprachen der
Minderheiten in Spanien. Als Kind hatte Ortega Etcheverry daher wenig
Möglichkeiten, Baskisch zu lernen. Später, als Erwachsene, Lehrerin und
Philologin, widmete sie sich jahrelang der Frage, warum Baskisch
trotzdem überlebte.
Für eine Studie interviewten sie und ihr Team Menschen,
die sich Baskisch als Fremdsprache aneigneten. Dabei fiel ihnen auf,
dass Anfänger und Fortgeschrittene sich nicht nur im Umfang ihrer
Sprachkenntnisse unterschieden, sondern auch im Grad ihrer kulturellen
Adaption. So gibt es die »euskaldunberri«, die Baskisch neu erlernen.
Und dann gibt es die »euskaldun«, die Baskisch gut beherrschen und geübt
darin sind. Ortega Etcheverry stellte fest, dass die »euskaldunberri«
nicht auf Grund ihrer sprachlichen Leistungen zu »euskaldun« werden,
sondern dass der Status kulturell bedingt ist.
Anders
formuliert: Es sei nicht so wichtig, fließend Baskisch sprechen zu
können, sondern Familie und Freunde zu haben, die die Sprache gut genug
beherrschen. Einige Menschen, die Ortega Etcheverry befragte, waren
zudem überzeugt, dass sie weniger das formelle Schulbaskisch zu
»euskaldun« mache als vielmehr die Tatsache, eines der Dialekte mächtig
zu sein.
Mittlerweile arbeitet Ortega Etcheverry mit Sprechenden des Nasa Yuwe oder Paez zusammen, einer isolierten Sprache in Kolumbien. Mit schätzungsweise 60 000 Sprechenden gilt sie als gefährdet. »Schule allein reicht nicht aus«, sagt die Philologin. Wenn gefährdete Sprachen überleben sollen, dann muss das zugehörige kulturelle Umfeld gefördert werden. Auf diese Weise ließe sich besser garantieren, dass auch nach dem Tod der Ältesten wie im Fall von Cristina Calderón ihre Sprache weiterexistiert.
Vom Aussterben bedroht
Die Al-Sayyid-Beduinen-Gebärdensprache (ASBG) ist erst ungefähr 80 Jahre alt, dennoch gilt sie inzwischen als gefährdet, wie Fachleute der University of Central Lancashire, der UNESCO und der britischen Stiftung für gefährdete Sprachen bekannt gaben. Vermutlich verwenden heutzutage nicht mehr als 4000 Menschen ASBG. Für Tsimané in Bolivien zählen die Mitarbeiter des Endangered Languages Project etwa 4800 Sprechende. Tsimané gilt damit auch als gefährdet. Und Kusunda in Nepal beherrscht offenbar nur noch eine einzige Person. Purépecha in Mexiko ist ebenfalls ein Isolat, jedoch mit etwa 117 000 Sprechenden nicht vom Aussterben bedroht. Es weist allerdings Eigenheiten auf: Die Purépecha nutzen ein spezielles Zahlensystem.
In vielen Sprachen stellen Zahlen über zehn Kombinationen dar – 13 besteht aus drei und zehn oder 15 aus fünf und zehn. Bei den Purépecha gilt diese Regel bereits für die Zahlen sieben, acht und neun. Sie heißen fünf und zwei, fünf und drei sowie fünf und vier. Für 10 und 20 gibt es eigene Bezeichnungen, wobei 20 die Grundgröße für alle weitere Zahlen bildet – bis 400, das erneut mit einem eigenen Begriff benannt ist. Wie Kate Bellamy von der Universität Leiden in einer Studie schreibt, verwenden die Purépecha »ein hybrides Quinär-Dezimal-Vigesimal-System«.
Nota. - Digitalität, der wir unsere diskursive Denkweise verdanken, beruht darauf, dass wir den Phänomenen, die uns in unserer Umwelt begegnen, (gemeinsam) willkürlich gewählte Zeichen anheften, die durch die Anordnung, in die wir sie willkürlich bringen, einen uns gemeinsamen intelligiblen Sinn erhalten.
Wir nehmen Willkür zweimal an, erstens beim Entwerfen der Zeichen und zweitens beim Anordnen. Wobei Willkür im ersten Schritt nur ein anderes Wort für den Zufall wäre; nicht aber für eine willentliche Wahl. Echte Willkür ist es erst im zweiten Schritt: Die Anordnung der an sich bedeutungslosen Zeichen geschieht in der Erwartung, dass die andern sie ebenso herauslesen, wie ich sie hineingelesen habe. Die Sprachfähigkeit der Menschen beruhte also auf seinem freien Willen.
*
Die obige Erörterung beginnt an einem Punkt, an dem Menschen oder ihre Vorfahren schon gesprochen haben. Dass das Denken der Menschen zumindestens die Weiterent-wicklung ihrer Sprachen beeinflusst, liegt auf der Hand; für die Details gibt es Spezialisten. Dass Klang, Melodie, Rhythmus und folglich Atmung und Ausdrucksfähigkeit die Bedeu-tung des Gesprochenen modellieren, wird auch keiner bezweifeln, doch braucht es dafür im Detail schon mehr Experten. Das sind aber faktische Fragen, die durch gewissenhafte For-schung aufgeklärt werden.
Die anthrologogische Grundfrage 'Stammt das Denken aus dem Sprechen oder das Sprechen aus dem Denken?' ist aber nicht empirisch zu beantworten - weil naturgemäß keine Denkmäler vorliegen. Die Vorstellung, dem Sprechen müsse ein Denken vorher-gehen, lässt sich veranschaulichen mit allerlei expressiven Lauten und physischen Artiku-lationen, wie sie in den Gebärdensprachen kultiviert wurden. Die Sprache selbst müssen letztere nicht neu erfinden, sondern nur nachahmen. Aber die Mittel dazu sind gegeben. Die Gegner dieser Hypothese müssten schon die grundsätzliche mentale Kompetenz unserer Vorfahren bestreiten. Mit welcher Evidenz?
Die umgehrte Annahme, das Denken habe sich aus dem Sprechen entwickelt, hat dagegen ein metaphysische Voraussetzung, für die sich definitiv keine Evidenz findet: dass das Spre-chen fix und fertig im Menschenhirn präetabliert ist - und ergo einen an sich gegebenen Sinn zur Darstellung bringt. Soviel Weihrauch, wie ich dafür bräuchte, kann ich gar nicht inhalieren.
JE 7. 11. 23
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