Donnerstag, 9. November 2023

Geschichte des Knotens.

Die Buchmalerei aus dem 15. Jahrhundert zeigt eine Seilerei, in der Fangnetze hergestellt werden. aus Die Presse, Wien; 9. 11. 2023       Seilerei, in der Fangnetze hergestellt werden.  15. Jahrhundert.        aus Jochen Ebmeiers Realien

Eine kleine Geschichte des Knotens
 
von Günther Haller

Einen Knoten zu knüpfen war die archaische Methode, Dinge miteinander zu verbinden. Aus Fasern, Garn wurden Seile, Netze, Gewebe. Dass sie funktionierten, war existenziell für unsere Vorfahren in prähistorischer Zeit. Fingerfertigkeit ermöglichte das Überleben.

Kennen Sie den tiefen Frust, wenn ein Freund, eine Freundin im Kindergarten damit prahlte, sich selbst schon die Schuhe binden zu können, man selber aber nicht? Sie sehen: Der Verfasser dieses Textes ist in der Vor-Klettverschluss-Zeit aufgewachsen und kann sich noch an den Ärger der Kindergartentante erinnern, als sie die Lust am endlosen Binden der Schleifen verlor. In der Volksschule war dann der Zug endgültig abgefahren: Wer diese motorische Fähigkeit noch immer nicht besaß, war ein Loser.

Geht man heute durch ein Kinderschuhgeschäft, sieht man kaum noch Schnürriemen. Mit einem Mobiltelefon umzugehen, ist wichtiger für die Heranwachsenden. Hat das Schnüren eines Knotens als Kriterium für Zurechnungsfähigkeit und Reifegrad also ausgedient? Wenn im Alter die Demenz kommt, sehen wir uns mit derselben Hilflosigkeit konfrontiert wie als Kinder.  

Inspiziert man seinen Haushalt, stößt man auf Dinge, die hier schon in prähistorischer Zeit genauso zu finden waren wie heute, als unentbehrliche Werkzeuge. Dazu gehört alles, was in irgendeiner Weise verknotet werden kann. In all die Schnüre, Stricke, Kordeln und Fäden lassen sich Knoten machen, wir in Österreich nennen das meistens Knopf. Eine neuere Er-scheinung ist die Unmenge von Kabeln, die wir für unsere mehr oder minder notwendigen elektronischen Spielzeuge brauchen. Sie haben die Eigenschaft, sich ganz gern selbst zu verknoten. Das schafft jedes Mal Ärger.

Jedenfalls ist das ein Hinweis darauf, dass dieses Phänomen auch unabhängig von uns existiert. Offenbar haben wir uns da etwas von der Natur abgeschaut, von sich weit in die Höhe schlingenden Pflanzen, den Netzen der Spinnen bis hin zu den Nestern der Vögel und Menschenaffen. Wie es unsere Art ist, haben wir das enorm weiterentwickelt, um etwas zu befestigen, aufzuhängen, zu bündeln, zu spannen. Angeblich soll es 3000 verschiedene Knotenformen geben.

Seil und Knoten als Überlebenstechnik

„Das Funktionieren von Knoten hatte für unsere Vorfahren existenzielle Bedeutung“, schreibt Michael S. Karg in seiner soeben erschienenen Kulturgeschichte des Knotens und schlägt ein paar Gedankenexperimente vor. Seil und Knoten können für das nackte Über-leben wichtig sein, um sich an einem Baum hochzuziehen oder sich an einer steilen Wand abzuseilen. Mit ihnen lassen sich also Naturmächte austricksen, öffnet sich der Weg ins Unbekannte, über Seen, auf Gipfel, in Höhlen, im Labyrinth. Der Umgang damit war, so Karg, gleichsam „das anthropologische Starterkit für Kulturen“ und tauchte daher schon vor mehr als 40.000 Jahren in allen Teilen der Welt auf. Freilich: Im Unterschied zu Stein-werkzeugen sind die Stricke verrottet, also für die Forschung „extremely unsexy“ und in archäologischen Büchern nicht präsent. In Israel wurde der bisher älteste geflochtene Korb entdeckt: Er ist 10.500 Jahre alt.

Wie man sieht, seilt sich der kundige Sachbuchautor Michael S. Karg sehr tief in die Anfän-ge der vielleicht ältesten Technik, die wir Menschen kennen, ab. „Am richtigen Knoten entscheidet sich in der Frühzeit die Chance auf das Überleben“, schreibt er, „in der Finger-fertigkeit erkennt der Mensch eine Überlegenheit gegenüber den Tieren“. Speerspitzen mussten an einen Schaft gebunden werden, Steinklingen an einen Stiel, um ein Beil zu pro-duzieren. Die Seilherstellung aus Pflanzenfasern oder Sehnen der erlegten Tiere war eine der komplexesten Aufgaben der Altsteinzeit. Man kann sich gut vorstellen, wie unsere Vor-fahren jubelten, wenn es gelang, und fluchten, wenn nicht. Und wie sie um die Sprache ran-gen, um ihre Innovationen mitzuteilen. Die Forschung hat den kausalen Zusammenhang zwischen Werkzeugbau und Kommunikation mittels Sprache oft betont.

Nicht nur Seile und Stricke wurden in der Folge aus den Garnen entwickelt, auch feinere Objekte wie Gewebe. Aus vielen Schlingen entstanden Netze, in denen man gesammelte Früchte tragen und Fische fangen konnte. Waren die Netze feiner gewebt, wurden sie zu Taschen und letztlich zu Kleidungsstücken. Mit den Stricken konnten Tiere festgebunden und domestiziert werden, sie wurden ein Kontroll- und Herrschaftsinstrument. Man konnte damit Gefangene festbinden. Ein tonnenschwerer Stein konnte damit plötzlich bewegt werden, dicke Äste zum Floß gebunden werden: Jedes Mal wurde etwas bewerkstelligt, das bis dahin völlig unvorstellbar war, etwas Neues mit einer ganz neuen Wirkung.

Als Adam und Eva im Paradies den Sündenfall vollzogen, „wurden sie gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.“ Spannend ist, wie Michael S. Karg, ausgehend von dieser ersten überlegten Handlung von Menschen und von den in der Mythologie allgegenwärtigen Schlangenwesen, die Brücke schlägt zu den rätselhaften Knotendarstellungen in christlichen Kirchen. Man schrieb ihnen apotro-päische, also unheilabwehrende Funktionen zu. Das erklärt auch, warum in vielen Kulturen Knoten als Grabbeigaben zu finden sind. In der Renaissance wurden sie sinnbildlich als Probleme angesehen, die es zu lösen galt. Der Gordische Knoten der Antike ist bis heute Sinnbild eines scheinbar unlösbaren Problems. Und immer schon wurden damit Treue, Freundschaft sowie Verbundenheit symbolisiert.

Es gibt Myriaden an Beispielen von magischen Knoten zu allen Zeiten und in allen Kul-turen. Im Buddhismus und Hinduismus gibt es den ewigen, den Endlosknoten, er steht für den unendlichen Kreislauf aus Geburt, Tod und Wiedergeburt sowie die Verbundenheit allen Seins. Es ist nur ein Beispiel dafür, welch tiefe Assoziationen Knotendarstellungen in unterschiedlichen Kulturen und Religionen hervorrufen. Sie muten heute archaisch und irrational an, liefern aber Einblicke in die Gedankenwelt und in die Weltsicht früherer Generationen.  

Knoten zum Zählen und Rechnen

Gelegentlich empfehlen wir heute noch jemandem, der eine Gedächtnisstütze braucht, einen Knoten (etwa ins Taschentuch) zu machen. Diese Tradition der Knotenkalender, mit deren Hilfe der Mensch den Eintritt künftiger Ereignisse wie Feste und Rituale abzählte und mit anderen koordinierte, ist Tausende Jahre alt. Die berühmtesten Knoten zum Zählen, Rechnen und Führen der Buchhaltung erfanden die Inkas. Mit ihrer Knotenschrift Quipu waren sie in der Lage, komplexe Multiplikationen zu rechnen, sehr zum Erstaunen der spanischen Eroberer.

Durch die Industrialisierung verlor der Knoten an Bedeutung, Stahl und Draht lösten die Stricke ab. Das Flechtwerk geriet bei den Modernisierern in Verruf, galt als Symbol der Rückständigkeit und Zeitverschwendung. Lassoschwingende Cowboys sind wie die Henkersschlinge zwar noch fester Bestandteil der Trivialkultur, die Knoten moderner Fischereinetze haben aber mit der alten Tradition nichts zu tun, sie werden von Maschinen erzeugt. Frederick Winslow Taylor, der Vater des Fließbands, empfahl Arbeitern, Mokassins zu tragen, da sie dann keine Zeit mit dem Schuhebinden vergeuden würden. Der Designer Adolf Loos lehnte Zierornamente ab.

Heute scheint der Knoten nur mehr für Bergsteiger, Kletterer oder Segler relevant zu sein. „Die meisten Stricke dieser Welt können gar nichts, weil die Anwendenden nichts damit anzufangen wissen“, schreibt unser Autor. Karg gelingt es aber in den letzten Kapiteln, auch in der Gegenwart Ideen, Produkte und Lebensstile auszumachen, in denen die alte Idee des Knotens bei der Suche nach einfachen und nachhaltigen Lösungen merkbar ist. Und das ist weit mehr als der dreieckige Knoten am Männerhals, der lang ein schwer erklärbares Würdeverständnis verkörperte. „A well-tied tie is the first serious step in life“, schrieb Oscar Wilde. Durch die Krawatte schlüpfte der Träger körperlich und symbolisch in eine gehobene Rolle. Wie lang noch? Als Signal von Kompetenz funktioniert sie längst nicht mehr überall.

Als politisches Symbol eignet sich der Knoten nicht. Mehrdeutigkeit, Verwandlungsfähig-keit, Geschmeidigkeit sind bei Ideologen nicht gefragt. Der Knoten ist zu komplex, er besitzt zu viele Bedeutungen. „Was wäre wohl aus einer Arbeiterbewegung geworden, die auf ihre Fahnen anstelle von Hammer und Sichel einen Knoten aufgenäht hätte?“, fragte sich der italienische Journalist Adriano Sofri. Doch was ist mit den Rutenbündeln von Mussolinis faschistischer Bewegung?

Neurowissenschaftler haben die Gehirnaktivität während des Knüpfens gemessen. Die positiven Impulse waren eindeutig, Gehirnregionen wurden aktiviert. Vielleicht sollte man seinen Kindern doch nicht nur Schuhe mit Klettband oder Reißverschluss kaufen.

Michael Simon Karg: Am Anfang war der Knoten. Die zentrale Bedeutung des Knotens für die Menschheit. Eine Kulturgeschichte (Zu Klampen Verlag, 296 Seiten, 30 Euro)
Michael Simon Karg: Am Anfang war der Knoten. Die zentrale Bedeutung des Knotens für die Menschheit. Eine Kulturgeschichte (Zu Klampen Verlag, 296 Seiten, 30 Euro)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Blog-Archiv

Pausen sind gut und nötig; der Pausenhof ist ein Übel.

                                                          aus Levana, oder Erziehlehre Die Schule ist ein Ort, der Kinder in einer so ...