
Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegen-wart in der Anschauung vorzustellen.
Da nun alle
unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft, der
subjektiven Bedingung wegen, unter der sie allein den
Verstandesbegriffen eine kor-respondierende Anschauung geben kann, zur
Sinnlichkeit; sofern aber doch ihre Synthesis eine Ausübung der
Spontaneität ist, welche bestimmend, und nicht, wie der Sinn, / bloß
bestimmbar ist, mithin a priori den Sinn seiner Form nach der Ein-heit
der Apperzeption gemäß bestimmen kann, so ist die Einbildungskraft
sofern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre
Synthesis der An-schauungen, den Kategorien gemäß, muß die
transzendentale Synthesis der Einbil-dungskraft sein, welches eine
Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung
desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns
möglichen Anschauung ist.
Sie ist, als figürlich, von der intellektuellen Synthesis ohne alle
Einbildungskraft bloß durch den Verstand unterschieden.
Sofern die
Einbildungskraft nun Spontaneität ist, nenne ich sie auch bisweilen die
produktive Einbildungskraft, und unterscheide sie dadurch von der
reproduktiven, deren Synthesis lediglich empirischen Gesetzen, nämlich
denen der Assoziation, unterworfen ist, und welche daher zur Erklärung
der Möglichkeit der Erkenntnis a priori nichts beiträgt, und um
deswillen nicht in die Transzendentalphilosophie, sondern in die
Psychologie gehört.
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 151f.
Nota. - Kant
hat das phänomenologische Verfahren in die Philosophie eingeführt: Er
beobachtet, was die Intelligenz auf ihrem Wege wirklich tut, und zerlegt
es ana-lytisch, um einen Sinn darin erkenntlich zu machen. Dann
allerdings begnügt er sich mit einer Definition. So erhält er z. B.
nacheinander die drei Grundvermögen theo-retische Vernunft, praktische
Vernunft und Urteilsvermögen. Sie nach ihrer Herkunft alias Wesen zu
befragen, hält er nicht für seines Amtes. Zwar deutet er die Möglich-keit
an, dass es sich 'im Grunde' nur um verschiedene Handlungsweisen ein
und desselben menschlichen Gesamtvermögens handeln könnte, aber er kommt
darauf nicht wieder zurück.
Hier nun hat die Beobachtung die Einbildungskraft identifiziert: das Vermögen, einen
Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen.
So etwas kann die Intelligenz, wir können ihr dabei zusehen, aber woher
sie kommt, 'was sie ist', ist nicht weiter zu eruieren. Und dass sie
einmal produktiv, ein andermal nur reproduktiv tätig wird, muss
lediglich definitorisch unterschieden werden.
Dabei liegt eine Welt dazwischen, denn als bloß repoduktive fällt sie gar nicht in den Bereich der Philosophie, sondern der Psychologie. Als produktive
Einbildungs-kraft jedoch, als "eine Wirkung des Verstandes auf die
Sinnlichkeit und die erste An-wendung desselben (zugleich der Grund
aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung", fällt
sie geradezu ins Zentrum der Transzendentalphilo-sophie!
Fichte hat sie folgerichtig zum menschlichen Grundvermögen erklärt, aus dem alle andern Tätigkeiten der Intelligenz abzuleiten sind.
JE, 15. 3. 15
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