
aus FAZ.NET, 7. 2. 2025 Lot und seine Töchter 1939 zu Geschmackssachen
Neusachlichkeit, c’est moi
Die
neue Dauerausstellung zu Otto Dix in seiner Geburtsstadt Gera ist
brillant komponiert. Sie lehrt, den Künstler mit anderen Augen zu sehen.
Um mit dem Naheliegenden zum hundertjährigen Jubiläum der Neuen Sachlichkeit zu beginnen: Otto Dix nannte sich zu Recht Erfinder dieses Stils, der die zweite Hälfte der Zwanzigerjahre entscheidend prägte. Bereits 1923 sind in seinem „Bild mit Spiegel“ alle neusachlichen Merkmale vollständig ausgeprägt. Das allein wäre hinreichender Grund, um ihn mit einer „neuen Werkschau“, so der Untertitel der Ausstellung „Otto Dix. Trau deinen Augen“ in seiner Geburtsstadt Gera, zu ehren. Die Kuratorin dieser überragenden Dauerpräsentation, Ulrike Lorenz, als Präsidentin der Stiftung Klassik Weimar arbeitstechnisch an sich gut ausgelastet, wäre nicht die erfolgreiche Großveranstaltungslogistikerin und Autorin maßgeblicher Publikationen zu Dix, wenn sie den Kairos nicht gleich ganz beim Schopf gepackt hätte: Waren in der Geraer Rokoko-Orangerie bereits in den vergangenen Jahren immer ausgewählte Gemälde aus der von Singen und Hemmenhofen, Dix’ Bodensee-Exil im Nationalsozialismus, ins liechtensteinische Vaduz gewanderten Stiftung des Malers zu sehen, ist nun der gesamte Schlosstrakt angefüllt mit einer feinen Auswahl aller Schaffensphasen des Künstlers und zugleich als zweiter Ausstellungsteil sein nur wenige Minuten entferntes Geburtshaus im pittoresken Stadtteil Untermhaus – das in einer Schrift von 1911 einst als das „Westend Geras“ bezeichnet wurde – neu und instruktiv gehängt.
Dix' neusachliche Werke bebildern heute noch die Zwanzigerjahre in den Geschichtsbüchern
Auch wenn es einen der populären, aus den Geschichtsbüchern vertrauten Spitzenwerke wegen sofort in die Orangerie zieht, sei dennoch der Start mit den biographisch-künstlerischen Anfängen im Geburtshaus empfohlen, lässt sich doch hier am meisten Unbekanntes über Dix erfahren. Denn es ist ja nicht so, dass es an Ausstellungen über ihn mangelte – erst vergangenes Jahr war in Hamburgs Deichtorhallen „Dix und die Gegenwart“ mit dem beträchtlichen Einfluss des Künstlers auf mehrere nachfolgende Generationen zu sehen. Was aber bei diesem Begründer der Neuen Sachlichkeit bislang zu kurz kam, waren die frühen Prägungen, die ihn dann in den Zwanzigern zu einem der überragenden Künstler Europas werden ließen.
Selbstbildnis als Raucher, um 1913
Wo aber könnte man diesen Einflüssen authentischer nachspüren als im vollständig erhaltenen Elternhaus des Künstlers, das zweihundert Dix-Werke aus seiner Kinder- und Jugendzeit besitzt und direkt an die spätgotische Marienkirche unterhalb des von Ulbricht größtenteils gesprengten Reußen-Schlosses Osterstein auf dem Felsrücken hoch über der Weißen Elster angebaut ist, sodass die kurzen Wege dieser Künstlersozialisation mit Händen zu greifen sind? Tatsächlich brachte ein Stipendium des Fürsten Heinrich XXVII. Reuß den Durchbruch zum Künstler, nachdem Dix 1906 erst einmal die anspruchslose Dekorationsmalerei erlernt hatte. In die Wiege war ihm als Arbeiterkind eine Künstlerkarriere keinesfalls gelegt, doch erkannte bereits sein Zeichenlehrer Ernst Schunke in der Schule Dix’ beträchtliches Talent, förderte den Knaben nach Kräften und verschaffte ihm finanzielle Förderung durch den Fürsten, die das Studium an der Königlich-Sächsischen Kunstgewerbeschule in Dresden ermöglichte – wo er von 1927 an an der Kunstakademie die Malereiprofessur innehaben sollte.
Christophorus IV, 1939
Aber schon seine frühen freien Arbeiten erweisen den Achtzehnjährigen als stets eigenständig zeichnenden und eigenwillig denkenden Kopf. Zwar atmen die junge Angeschmachtete in ihrem fließenden Hauch von Nichts vor einem kontrastiv massiv-schmiedeeisernen Gitter wie auch ihr zarter Japanschirm auf der Zeichnung „Romantische Szene“ von 1909 noch kräftig den Geist des Jugendstils. Jedoch liegt ihr ältlicher Verehrer mit Gehstock und langem weißen Bart so unglücklich verquält der Länge nach vor ihr auf dem Boden, dass man unwillkürlich an des jungen Dix’ Lektüre und Weiterspinnen des 1905 erschienenen „Professur Unrat“ von Heinrich Mann denken will. Die drei Jahre zuvor entstandene Bleistiftstudie einer „Hand mit Früchteteller“ laviert den dargereichten Apfel und eine Zitrone derart schwebend zart und zugleich abstrakt in Wasserfarben aus, dass des Fünfzehnjährigen Kenntnis von Cézannes Apfelstillleben unvermeidbar scheint. Was aber verblüffenderweise auch schon für Dix’ erstes Skizzenbuch von 1903 gilt, in dem es vor Cézannismen nur so wimmelt.
Was neben dem spielerisch freien Durchmustern und Verschmelzen von Stilen – in der Federzeichnung „Verregneter Sonntag“ etwa verschneidet Dix Spitzweg-Figuren frech mit feinstem französischen Impressionismus der sie umgebenden Landschaft – erstaunt: Wie früh er bereits die Präzision der mittelalterlichen und altdeutschen Malerei in seine Werke einfließen lässt, vielleicht von Kindesbeinen an beeindruckt vom bemerkenswerten Flügelaltar des frühen fünfzehnten Jahrhunderts in der an sein Zimmer buchstäblich andockenden Marienkirche. Sein metallicgrün schimmernder Käfer im Skizzenbuch von 1906 mit einem ungeheuren Triple-Schatten wie ein Rorschachtest könnte auch eins der brillanten Aquarelle Dürers sein (ein direktes Zitat von dessen „Drahtziehmühle“ erscheint in Dix’ überirdisch strahlendem Bild „Ideale Bodenseelandschaft“ von 1939). Die skurrilen Heiligenwelten Albrecht Altdorfers und Hans Baldung Griens fesselten den Knaben ohnehin erkennbar.
Mit diesem Rüstzeug setzt man über zur Orangerie, wo nicht nur die bekannten dreiteiligen Kriegsaltäre in ihrer Komposition als Triptychon mittelalterlich bestimmt sind, sondern auch deren Formen. Inmitten einer expressiv gebrochenen Ausstellungsarchitektur und mittels digitaler Vergrößerungen wird unaufdringlich die Herkunft der Motive auf dem als Reproduktion vorhandenen Antikriegsaltar „Der Krieg“ aus Dresdens Albertinum erläutert: Grünewalds Isenheimer Altar, eine Pietà, Holbeins Baseler „Leichnam Christi im Grabe“ in der Predella, Kreuzigungen und Martyrien in Stacheldraht und Schützengraben, Ikonographien einer ruinierten Welt. Während seines inneren Exils identifizierte sich Dix in der NS-Zeit mit dem „Christusträger“ Christopherus, der auf seinen Riesenschultern die Last der lasterhaften Welt trägt und darunter in die Knie geht. Von den sechs zwischen 1938 und 1944 entstandenen, fast lebensgroßen Varianten dieses seines Kryptoporträts sind zwei in Gera zu sehen. Sie zeigen im Hintergrund weite Weltlandschaften in Vogelschau wie auf Altdorfers „Alexanderschlacht“. Nur dass es sich bei Dix um Konstanz und die Hügel des Hegau am Bodensee handelt, die Exillandschaft, in die er 1933 vor dem NS flüchtete, die er aber „zum Kotzen“ idyllisch fand. Prophet der Apokalypse: Auf Dix’ „Lot und seine Töchter“ aus dem Jahr 1939 brennt im Hintergrund nicht etwa das biblische Sodom nieder, sondern Dresden, fünf Jahre bevor es tatsächlich in Schutt und Asche gelegt wurde.
Die von der Pike auf gelernten künstlerischen Techniken des Mittelalters kommen Dix nun zugute, der lasierende Farbauftrag in vielen hauchdünnen Schichten verleiht sowohl den Wasserstrudeln, durch die seine Christopherus-Selbstbildnisse waten, als auch dem Dunstschleier über den Weltlandschaften im Hintergrund etwas Surreal-Transparentes. Ebenso hauchfein ist das anrührende Porträt seiner Tochter „Nelly, 10 Jahre alt“ von 1933 oder das des Sohnes Jan aus dem selben Jahr, die auch zwei von Holbeins Silberstiftzeichnungen vierhundert Jahre zuvor sein könnten. Und für Kenner der mittelalterlichen Bildsprache waren sein monumentales „Lot und seine Töchter“ von 1939 mit dem schon damals prophezeiten brennenden Dresden statt des biblischen Sodom im Hintergrund wie auch sein apokalyptischer „Johannes auf Patmos“ oder der in politische Versuchung geführte „Heilige Antonius im Walde“, beide 1941 entstanden, offene Bücher. Dazu passt immer noch Dix' Definition der Neuen Sachlichkeit aus den Zwanzigern sehr gut: „Kunst machten die Expressionisten genug. Wir wollten die Dinge ganz nackt, klar sehen, beinahe ohne Kunst.“
Nach dem Krieg wechselt er die christliche Identifikationsfigur und sieht sich jetzt als „Hiob“. Das 1946 entstandene nun wieder expressiv und pastos-fahl-fehlfarbene Bild – die Schwären auf dem Leib der Leidensinkarnation Hiob etwa sind antinaturalistisch hellblau, weil seinerzeit nicht mehr alle Farben zu bekommen waren und erst einmal auf die weniger beliebten zurückgegriffen werden musste – ist ein gemaltes Mahnmal. Dix zeigt seinen vergesslichen Landsleuten, die plötzlich alle Widerständler waren, dass de facto nur einige wenige in den eben erst vergangenen „tausend Jahren“ die unmenschlich harte Prüfung Gottes auf sich nahmen – und überlebten. Die Bohlen des verkohlten Dachstuhls über dem prophetischen Mahner krümmen sich zu einer zerborstenen Swastika. Dix bleibt am Bodensee wohnen, fährt aber regelmäßig zu seinem in Dresden noch stets unterhaltenen, nicht ausgebombten Atelier. Ein Jahr nach dem „Hiob“ stellt er in zwei Ausstellungen in seiner Heimatstadt aus, die gezeigten Bilder sind moderat expressionistisch oder solche der Neuen Sachlichkeit, jene Stile, mit denen der unkorrumpierte Dix den sich formierenden „sozialistischen Realismus“ durchaus beeinflusste.
Nicht der Geruch eines Gebäckstücks, sondern der von Ölfarbe brachte ihn zum Malen
Bis zu seinem Tod im Jahr 1969 bleibt er ein Pendler zwischen den Welten. Im jetzt fast ausschließlich abstrakt malenden Westen mit seiner figürlichen Malerei ist er ein bald vergessener Fremdkörper. Seien es die Schlaganfälle 1969, sei es der Versuch des stilistischen Umsteuerns: Sein letztes großes Bild „Selbstbildnis mit Marcella“ könnte in seiner ungeschlachten Kantigkeit, mit der er die winzige Enkelin in den Riesenpranken hält, auch aus Picassos Alterswerk stammen. Nur drei Jahre davor hatte er Untermhaus ein letztes Mal besucht, wo ein Defa-Film über ihn gedreht wurde. Die darin prousthaft erinnerte Kindheitsempfindung war keine Madeleine im Kolonialwarenladen des Onkels gegenüber, vielmehr die herrlich duftende Ölfarbe im Atelier des Vetters, die ihn verführte, Maler zu werden.
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