Donnerstag, 13. Februar 2025

Kant über Einbildungskraft und die Ideen.

                                                        zu  Philosophierungen 

Geist, in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip im Gemüte. Dasjeni-ge aber, wodurch dieses Prinzip die Seele belebt, der Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d.i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt.

Nun behaupte ich, dieses Prinzip sei nichts anders, als das Vermögen der Darstel-lung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständ-lich machen kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.



Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mäch-tig in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt. Wir unterhalten uns mit ihr, wo uns die Erfahrung zu alltäglich vorkommt; bil-den diese auch wohl um: zwar noch immer nach analogischen Gesetzen, aber doch auch nach Prinzipien, die höher hinauf in der Vernunft liegen (und die uns eben so-wohl natürlich sind, als die, nach welchen der Verstand die empirische Natur auf-faßt); wobei wir unsere Freiheit vom Gesetze der Assoziation (welches dem empiri-schen Gebrauche jenes Vermögens anhängt) fühlen, nach welchem uns von der Na-tur zwar Stoff geliehen, dieser aber von uns zu etwas ganz anderem, nämlich dem, was die Natur übertrifft, verarbeitet werden kann.
 

Man kann dergleichen Vorstellungen der Einbildungskraft Ideen nennen: eines Teils darum, weil sie zu etwas über die Erfahrungsgrenze hinaus Liegendem wenigstens streben, und so einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe zu kommen suchen, welches ihnen den Anschein einer objektiven Realität gibt; andrerseits, und zwar hauptsächlich, weil ihnen, als innern Anschauungen, kein Begriff völlig adäquat sein kann. Der Dichter wagt es
[,] Vernunftideen von unsicht-baren Wesen, das Reich der Seligen, das Höllenreich, die Ewigkeit, die Schöpfung u.d.gl. zu versinnlichen; oder auch das, was zwar Beispiele in der Erfahrung findet, z.B. den Tod, den Neid und alle Laster, imgleichen die Liebe, den Ruhm u.d.gl. über die Schranken der Erfahrung hinaus, vermittelst einer Einbildungskraft, die dem Vernunft-Vorspiele in Erreichung eines Größten nacheifert, in einer Vollständigkeit sinnlich zu machen, für die sich in der Natur kein Beispiel findet; und es ist eigent-lich die Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen ästhetischer Ideen in seinem ganzen Maße zeigen kann. Dieses Vermögen aber, für sich allein betrachtet, ist eigentlich nur ein Talent (der Einbildungskraft).

Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft untergelegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungskraft hiebei schöpferisch, und bringt das
Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in Bewe-gung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken (was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann. 
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Kant, Kritik der Urteilskraft, §49, AkademieAusgabe Bd. V, S. 314f.


 
Nota. - Kant hat die Philosophie gewissermaßen neu erfunden und musste für völlig neue Bedeutungen die passenden Wörter finden - unter den bereits vorhan-denen. Ein Gutteil der Dunkelheiten in der Kritik der reinen Vernunft beruht dar-auf, dass ihm das beim ersten Entwurf der neuen Denkweise noch nicht recht ge-lungen ist. Terminologische Tüfteleien sind bei der Lektüre unumgänglich. Dies umsomehr, als der Wortgebrauch in den beiden folgenden Kritiken gelegentlich abweicht, in der Kritik der Urteilskraft zumal.

Begriff  heißt hier ein 'bestimmter Gedanke' - im Unterschied zu der gleich darauf-folgenden ästhetischen Idee: Die lässt sich gerade nicht durch einen bestimmten Gedanken ausdrücken, sie bleibt (wenigstens zu einem Teil) unbestimmt und wohl auch unbestimmbar. Ihr zur Seite steht die bestimmte Vernunftidee, der ihrerseits keine Anschauung entspricht. Gemeint ist hier neben der empirischen Anschauung
in Raum und Zeit, die den Erfahrungsbegriffen zu Grunde liegt, auch: keine 'Vorstel-lung der Einbildungskraft', keine innere Anschauung. Letztere wird nicht nach 'Ge-setzen der Analogie' (der Natur nach-) gebildet, sondern aus dem Gemüt selbst her-vorgebracht, 'produziert': etwas, das 'die Natur übertrifft'.

Und dies nach Prinzipien, die 'höher hinauf in der Vernunft' liegen, nämlich höher als die Analogiebildungen der Erfahrungsbegriffe, uns aber 'ebenso natürlich' sind wie jene. Sie stehen den intellektuellen Ideen alias Vernunftbegriffen zur Seite, in-dem sie nach 'etwas über die Erfahrungsgrenze hinaus Liegendem wenigstens stre-ben'. Das gibt ihnen so wie jenen den 'Anschein einer objektive Realität'. Denn wohlbemerkt: von einer objektiven Realität haben auch die Vernunftbegriffe - an-derswo Noumena - lediglich 'den Anschein'. Das rechtfertigt die Benennung ästhe-tische Ideen; zumal sie 'das Vermögen intellektueller Ideen', und das ist die Ver-nunft selbst, 'in Bewegung bringt'. Welche Bewegung? Die, im Denken über die Bestimmtheit ('Fasslichkeit') und Deutlichkeit der Begriffe hinauszugehen.

Sie werden so nicht Teil der Erkenntnis; aber immerhin ihr Stachel.


*

Bemerken Sie übrigens Kants phänomenalistisches Verfahren. Er beschreibt einerseits, was sich beobachten lässt. Die Begriffe, die er ordnend hineinträgt, entwickelt er aber nicht aus dem Material, sondern definiert aus eigner Vollmacht; nicht alles kann man nämlich als in den vorangegangenen Schriften begründet voraussetzen. Das Verfahren ist längst nicht so systematisch, wie es seiner Ver-tracktheit halber den Anschein hat.
 JE, 13. 4. 20




Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

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