Nun behaupte ich, dieses Prinzip sei nichts anders, als das Vermögen der Darstel-lung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständ-lich machen kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.
Die Einbildungskraft (als produktives
Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mäch-tig in Schaffung gleichsam
einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt. Wir
unterhalten uns mit ihr, wo uns die Erfahrung zu alltäglich vorkommt;
bil-den diese auch wohl um: zwar noch immer nach analogischen Gesetzen,
aber doch auch nach Prinzipien, die höher hinauf in der Vernunft liegen
(und die uns eben so-wohl natürlich sind, als die, nach welchen der
Verstand die empirische Natur auf-faßt); wobei wir unsere Freiheit vom
Gesetze der Assoziation (welches dem empiri-schen Gebrauche jenes
Vermögens anhängt) fühlen, nach welchem uns von der Na-tur zwar Stoff
geliehen, dieser aber von uns zu etwas ganz anderem, nämlich dem, was
die Natur übertrifft, verarbeitet werden kann.
Man kann dergleichen Vorstellungen der Einbildungskraft Ideen
nennen: eines Teils darum, weil sie zu etwas über die Erfahrungsgrenze
hinaus Liegendem wenigstens streben, und so einer Darstellung der
Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe zu kommen suchen,
welches ihnen den Anschein einer objektiven Realität gibt; andrerseits,
und zwar hauptsächlich, weil ihnen, als innern Anschauungen, kein
Begriff völlig adäquat sein kann. Der Dichter wagt es [,] Vernunftideen von
unsicht-baren Wesen, das Reich der Seligen, das Höllenreich, die
Ewigkeit, die Schöpfung u.d.gl. zu versinnlichen; oder auch das, was
zwar Beispiele in der Erfahrung findet, z.B. den Tod, den Neid und alle
Laster, imgleichen die Liebe, den Ruhm u.d.gl. über die Schranken der
Erfahrung hinaus, vermittelst einer Einbildungskraft, die dem
Vernunft-Vorspiele in Erreichung
eines Größten nacheifert, in einer Vollständigkeit sinnlich zu machen,
für die sich in der Natur kein Beispiel findet; und es ist eigent-lich
die Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen ästhetischer Ideen in
seinem ganzen Maße zeigen kann. Dieses Vermögen aber, für sich allein
betrachtet, ist eigentlich nur ein Talent (der Einbildungskraft).
Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der
Einbildungskraft untergelegt wird, die zu seiner Darstellung gehört,
aber für sich allein so viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in
einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst
auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungskraft
hiebei schöpferisch, und bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die
Vernunft) in Bewe-gung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung
zu denken (was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr
aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann.
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Kant, Kritik der Urteilskraft, §49, AkademieAusgabe Bd. V, S. 314f.
Nota. - Kant
hat die Philosophie gewissermaßen neu erfunden und musste für völlig
neue Bedeutungen die passenden Wörter finden - unter den bereits
vorhan-denen. Ein Gutteil der Dunkelheiten in der Kritik der reinen Vernunft
beruht dar-auf, dass ihm das beim ersten Entwurf der neuen Denkweise
noch nicht recht ge-lungen ist. Terminologische Tüfteleien sind bei der
Lektüre unumgänglich. Dies umsomehr, als der Wortgebrauch in den beiden
folgenden Kritiken gelegentlich abweicht, in der Kritik der Urteilskraft zumal.
Begriff heißt hier ein 'bestimmter Gedanke' - im Unterschied zu der gleich darauf-folgenden ästhetischen Idee: Die lässt sich gerade nicht durch einen bestimmten Gedanken ausdrücken, sie bleibt (wenigstens zu einem Teil) unbestimmt und wohl auch unbestimmbar. Ihr zur Seite steht die bestimmte Vernunftidee, der ihrerseits keine Anschauung
entspricht. Gemeint ist hier neben der empirischen Anschauung in Raum
und Zeit, die den Erfahrungsbegriffen zu Grunde liegt, auch: keine
'Vorstel-lung der Einbildungskraft', keine innere Anschauung. Letztere wird nicht nach 'Ge-setzen der Analogie' (der Natur nach-) gebildet, sondern aus dem Gemüt selbst her-vorgebracht, 'produziert': etwas, das 'die Natur übertrifft'.
Und dies nach Prinzipien, die 'höher hinauf in der Vernunft' liegen,
nämlich höher als die Analogiebildungen der Erfahrungsbegriffe, uns aber
'ebenso natürlich' sind wie jene. Sie stehen den intellektuellen Ideen alias Vernunftbegriffen zur Seite, in-dem sie nach 'etwas
über die Erfahrungsgrenze
hinaus Liegendem wenigstens stre-ben'. Das gibt ihnen so wie jenen den
'Anschein einer objektive Realität'. Denn wohlbemerkt: von einer
objektiven Realität haben auch die Vernunftbegriffe - an-derswo Noumena - lediglich 'den Anschein'. Das rechtfertigt die Benennung ästhe-tische Ideen; zumal sie 'das Vermögen intellektueller Ideen', und das ist die Ver-nunft selbst, 'in Bewegung bringt'. Welche Bewegung? Die, im Denken über die Bestimmtheit ('Fasslichkeit') und Deutlichkeit der Begriffe hinauszugehen.
Sie werden so nicht Teil der Erkenntnis; aber immerhin ihr Stachel.
*
Bemerken Sie übrigens Kants phänomenalistisches
Verfahren. Er beschreibt einerseits, was sich beobachten lässt. Die
Begriffe, die er ordnend hineinträgt, entwickelt er aber nicht aus dem
Material, sondern definiert aus eigner Vollmacht; nicht alles kann man nämlich als in den vorangegangenen Schriften begründet voraussetzen. Das Verfahren ist längst nicht so systematisch, wie es seiner Ver-tracktheit halber den Anschein hat.
JE, 13. 4. 20
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