Freitag, 31. Januar 2025

"Wenn wir das damals besser gemacht hätten...

                 zu öffentliche Angelegenheiten

... wäre die AfD damals nicht in den Bundestag gekommen", entgegnet Merz der Kritik von Angela Merkel. Wo er recht hat, hat er recht: Hätten Seehofer und seine Chorknaben - Merz war auch darunter - diszipliniert mit angepackt, statt mit den täglichen Umfragen zu heulen; wenn sie an Europa gedacht hätten und an Deutsch-land in Europa - dann könnten wir heute eine offensive und robuste Mitte haben, an deren Rändern allenfalls gemurrt wird statt ohrenbetäubend krakeelt.
 
Dass das mit Leuten wie ihm je anders wird, wage ich nicht zu hoffen.


Diskursives und wirkliches Denken.

                                                zu  Philosophierungen

Das diskursive Denken geschieht in Stufen. Begriffe werden durch logische Opera-tionen zu einander in ein Verhältnis gesetzt. Auf Operation a folgt Operation b, und so weiter. Die Reihe a>b>c>d... ist der Diskurs. Jede einzelne Operation lässt sich überprüfen, ebenso das logische Folgen der einen aus der anderen.

Das wirkliche Denken geschieht in Vorstellungen, als ein Strom von unbestimmten Bildern, die in der Anschauung zu Diesem oder Jenem verdeutlicht werden. 

Man soll nicht sagen, dass es so ist. So kann man es sich vorstellen. So muss man es sich vorstellen, wenn man auf etwas hinauswill. Nämlich auf ein Verständnis von der wirklichen Ausbildung der Vernunft. Das ist kein Stufengang, sondern ein systemi-scher Prozess. Es 'ist' vielleicht nicht so, aber 'so kann man es sich vorstellen'...

Die Darstellung dieses Prozesses ist wiederum nur diskursiv möglich - so, als ob er sich als eine Abfolge von unterscheidbaren Etappen vollzöge. Es wird so getan, als ob in einer ersten Etappe ein (!) undeutliches Bild durch Momente, Agentien, Kunst-griffe in sich unterschieden und 'bestimmt' würde. 

So nämlich erscheint es der Reflexion eines entwickelten vernünftigen Bewusst-seins, das bereits über ein ganzes Repertoire solcher 'Momente' verfügt: Erinnerun-gen, Ahnungen, Probleme und - Begriffe. Man kann (sic) es so vorstellen, als wür-den sie prozessierend in die je erreichte Ausprägung der Vorstellung eingebracht, in deren Stoff sie zu einander in ein Verhältnis der Wechselbestimmung gebracht wer-den. 

Tatsächlich greifen sie ununterbrochen ineinander, sowohl die 'Momente' als die Etappen.

*

Um aber zu beurteilen, ob die mitttlerweile bestimmten Vorstellungen was taugen - und wozu -, ist der ganze diskursive Apparat unverzichtbar. Und nur in diskursiver Darstellung kann ich die Resultate meines Denkens im Gedächtnis behalten - und andern mitteilen, die sie ihrerseits beurteilen können.

Das ist dann wirklich eine neue Etappe.

PS.- Sowohl der Begriff der Systemik als die Vorstellung von einem Prozess waren zu Fichtes Zeit unbekannt. Er hat ihnen erst den Boden bereitet, aber es wird ihm nicht gedankt.
JE, 30. 12. 21 

 

Donnerstag, 30. Januar 2025

Der Fluch der bösen Untätigkeit.

         zu öffentliche Angelegenheiten

Dass Angela Merkel der Merz'schen Wende entgegentritt , ist menschlich verständ-lich, aber sachlich irreführend. Das Problem der wilden Zuwanderung stellt sich heute nicht mehr so, wie es sich 2015 gestellt hat - aber daran ist sie selber nicht ganz unschuldig. Was damals möglich und politisch richtig gewesen wäre, ist heute nicht mehr möglich. Sie ist nicht so energisch an der Sache drangebleiben, wie es nötig gewesen wäre. Dass sie es unterlassen hat, haben andere zu verantworten, und die sollte man heute wieder beim Namen nennen.

Wie war die Situation im Herbst 2015?

Das Problem der historischen Völkerwanderungen hat es immer gegeben, mal akuter und dann wieder schleichend. So krass, dass es kein denkender Europäer weiter verdrängen konnte, hat es sich mit der Zuspitzung des Bürgerkriegs in Syrien gestellt. 'Auf einmal' befanden sich hunderttausende Flüchtlinge in Ungarn. Sie wollten über Österreich nach Deutschland. Dass die nicht alle im kleinen Öster-reich bleiben konnten, war augenfällig. Die deutsche Regierung hätte die inzwischen gottlob offenen Grenzen böswillig schließen müssen, um sie von Deutschland fernzuhalten, und der Republik Österreich zurufen müssen: Seht zu, wie ihr zu-rechtkommt! 

 

 

Das wäre im Rahmen des um sein Zusammenwachsen bemühten Europas ein nuklearer Sprengsatz gewesen, und es sprang selbst Blinden ins Auge: Dieses Problem war ein kontinentales.

Es war richtig, ich möchte sagen: richtigst, dass Frau Merkel nicht telefonisch die Meinung der unmittelbar gar nicht betroffenen andern europäischen Regierungs-chefs eingeholt hat, die hätten sie nur wochenlang auf dem Schlauch stehenlassen, um dann den schwarzen Peter doch ihr selbst zu überlassen. Sie hat es gar nicht erst darauf ankommen lassen, und das war RICHTIGST. Sie hat Tatsachen geschaffen und die waren kein heißer Brei, um den die andern herumreden konnten.

Sie hat sich - für eine Politikerin höchst bedenklich - auf die euphorische Willkom-menskultur ihrer wohlmeinenden Deutschen verlassen, aber jedem nüchternen Be-obachter war klar: Das dauert nicht lang, bis es umkippt. Und es kippte schneller, als selbst Pessimisten befürchtet hatten. Seehofer & Co. fanden die Gelegenheit günstig, Tag für Tag diesen und jenen Punkt auf ihrem provinziellen Konto zu verbuchen. Der Politrentner Merz hat sich unter anderm auch vernehmen lassen.

Der Versuch, Europa durch die Tat zur Einheit zu zwingen, konnte nur glücken, wenn sich Deutschland seiner Berufung zum europäischen Motor bewusst und darin einig gewesen wäre. Das war es unglücklicherweise nicht, denn sie sind ja der Merkel in den Rücken gefallen. Wer heute sagt, diese oder jener wäre "in Wahrheit" für den späteren Aufstieg der AfD verantwortlich, ruft schamlos: Haltet den Dieb!

Sie haben dafür gesorgt, dass eine historische Chance, nein: eine historische Pflicht schändlich versaubeutelt wurde. Da stehen wir heute: Vor dem historische Problem der globalen Migration wird  heute wie vor Jahrhunderten wieder nur an den Lan-desgrenzen herumgeflickschustert.

Dass ausgerechnet die, die dafür die größte Verantwortung tragen, sich aufdrängen die, die den Karren aus dem Dreck ziehen, fügt dem Schaden auch noch den Hohn hinzu. 


Kant über Witz und Grundkraft.

stock                                                                          zu  Philosophierungen

Unter die verschiedenen Arten von Einheit nach Begriffen des Verstandes gehört auch die der Kausalität einer Substanz, welche Kraft genannt wird. Die verschiede-nen Erscheinungen eben derselben Substanz zeigen beim ersten Anblicke soviel Ungleichartigkeit, daß man daher anfänglich beinahe so vielerlei Kräfte derselben annehmen muß, als Wirkungen sich hervortun, wie in dem menschlichen Gemüte die Empfindung, Bewußtsein, Einbildung, Erinnerung, Witz, Unterscheidungskraft, Lust, Begierde usw. Anfänglich gebietet eine logi-sche Maxime, diese anscheinende Verschiedenheit soviel als möglich dadurch zu verringern, daß man durch Vergle-ichung die versteckte Identität entdecke, und nachsehe, ob nicht Einbildung, mit Bewußtsein verbunden, Erinnerung, Witz, Unterscheidungskraft, vielleicht gar Verstand und Vernunft sei. 

Die Idee einer Grundkraft, von welcher aber die Logik gar nicht ausmittelt, ob es derglei-chen gebe, ist wenigstens das Problem einer systematischen Vorstellung der Mannigfaltig-keit von Kräften. Das logische Vernunftprinzip erfordert diese Einheit soweit als möglich zustande zu bringen, und je mehr die Erscheinungen der einen und anderen Kraft unter sich identisch gefunden werden, desto wahrscheinlicher wird es, daß sie nichts, als verschie-dene Äußerungen einer und derselben Kraft sei-en, welche (komparativ) ihre Grundkraft heißen kann. Ebenso verfährt man mit den übrigen.

Die komparativen Grundkräfte müssen wiederum untereinander verglichen werden, um sie dadurch, daß man ihre Einhelligkeit entdeckt, einer einzigen radikalen, d. i. absoluten Grund-kraft nahe zu bringen. Diese Vernunfteinheit aber ist bloß hypo-thetisch. Man behauptet nicht, daß eine solche in der Tat angetroffen werden müs-se, sondern, daß man sie zugunsten der Vernunft, nämlich zu Errichtung gewisser Prinzipien, für die mancherlei Regeln, die die Erfahrung an die Hand geben mag, suchen, und, wo es sich tun läßt, auf solche Weise systematische Einheit ins Er-kenntnis bringen müsse.
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Kant, Kritik der reinen Vernunft,
A 649/B 677

 

Nota. - Das ist eine von den Stellen, wo Kant die Möglichkeit ins Auge fasst, dass es sich bei den 'Kräften' der Menschen im Grunde um eine einzige handeln könnte, die jeweils nur auf verschiedene Gegenstände verwendet wird - so wie es Fichte schließlich für die Vermögen feststellt; und nicht nur ins Auge fasst, sondern dem Erfahrungswissenschaftler als heuristisches Prinzip nahelegt. Er bezieht auch Lust und Begierde mit ein, um sie im folgenden Satz gleich wieder auszuschließen und sich auf die geistigen Gemütskräfte zu beschränken - nänlich jene, durch die Frei-heit und Selbstbestimmuung möglich werden.

Mhd. diu witze hat übrigens dieselbe Wurzel wie nhd. Wissen, bedeutet aber eher Intelligenz und Klugheit, was noch in unserm Adjektiv gewitzt nachklingt. Kant übersetzt den engl. common sense mit Mutterwitz, und Fichte nennt den Witz eine "sehr ernsthafte Sache".

In der Sache versteht Kant unter Witz das Aufspüren einer "versteckten Identität" in den erscheinenden Gegensätzen - ähnlich wie Lichtenberg: "Ohne Witz wäre eigentlich der Mensch gar nichts, denn Ähnlichkeit in den Umständen ist ja alles was uns die wissenschaftliche Erkenntnis bringt, wir können ja bloß nach Ähnlich-keiten ordnen und behalten."*

Und wenn wir uns heute einen Witz erzählen, dann lachen wir über eine unverhoff-te Ähnlichkeit zwischen zwei Phänomenen, die auf den ersten Blick gar nichts mit-einander zu tun haben - oder umgekehrt über einen entlarvenden Doppelsinn in ein und derselben Sache: in jedem Fall aber über eine Synthesis, die der verstandesküh-len Analysis spottet. Eine solche wäre die erwähnte Grundkraft.
*) Sudelbücher, Heft J, N° 936

JE, 26. 12. 21

Der Ablenker.


„Ich bin empört, wenn Behörden im Bund, in den Ländern und den Kommunen nicht alles tun, was rechtlich möglich ist“, sagt der einstweilige Kanzler. Erst gestern las ich irgendwo, seit er ein solcher ist, sei die Zahl der Mitarbeiter im Kanzleramt um zehn Prozent gestiegen, und seit bekannt ist, wie eng seine Einstweiligkeit ter-miniert ist, werden in allen Ministerien rasch noch ein paar dutzend Werktätige be-fördert. Eine durch Überwucherung gelähmte Verwaltung sorgt dafür, dass die Po-litik nichts zuwege bringt?!

Die akute Unmöglichkeit, die wilde Migration lenk- und begrenzbar zu machen, ist ein Epiphänomen. Die Entmachtung der Politik durch die Verwaltung ist das Kern-problem der repäsentativen Staatsform. Aber das ist nicht, was Scholz hat sagen wollen. Er wollte sagen, ich wasche meine Hände in Unschuld. Dabei ist die Büro-kratisierung der Welt das Grundübel der industriellen und zumal der postindust-riellen Zivilisation. Das ist keine administrative, sondern eine politische Aufgabe.

Die politische Formation, der Scholz voransteht, ist von allen Prätendenten am we-nigsten qualiziert, sie zu bewältigen. Seit sie besteht, und puh, das ist lange, galt ihr die Ausdehnung des Öffentliche Dienstes als Generalschlüssel zur sozialen Frage und, wenn ich so sagen darf, als der realexiststierende Sozialismus.

Fast wäre es in Deutschland zu einer ernstlichen Auseinandersetzung über die Her-ausforderungen der digitalen Revolution gekommen. Und fast möchte man meinen, der Klamauk um die Zuwanderung diene zur Ablenkung. Denn ihr vor- und über-geordnet ist die Frage der Zukunft der Arbeit. Aber damit lässt sich weder Stim-mung machen noch lassen sich Stimmen gewinnen. 

Es ist, wie gesagt, ein politisches Problem und kein administratives.


Mittwoch, 29. Januar 2025

Philosophieren auf der Metaebene.

  Beate Güldner                                                                                     zu  Philosophierungen

Alle Philosophie vor Kant redet auf der ersten semantischen Ebene, auf der Objekt-Ebene.

Die Transzendentalphilosophie redet nicht von den Objekten, sondern von der ersten se-mantischen Ebene. Sie ist eine zweite semantische Ebene: Metà-Ebene.


*

Die Scholastiker redeten vorzugsweise von der intentio, was mit 'Bedeutung' zu übersetzen ist; von den Dingen sei's in dieser, sei's in jener Bedeutung. Die Bedeu-tungen waren ihr Turnierplatz, nicht die Dinge. Aber so nahe sie transzendentalen Fragestellungen immer wieder kamen - ergriffen haben sie sie nie. 

Schon bei Kant gerät in der transzendentalen Sichtweise das Ding-an-sich arg in Zweifel, in der Folge wurde es ganz ausgetrieben. Das kam den Scholastikern gar nicht in den Sinn. Ihre dogmatische Prämisse waren Aristoteles' Entelechien. Die hatten, wie später die Leibniz'schen Monaden, "keine Fenster". Man durfte sie bei-seitelassen, ohne in logische Verlegenheit zu geraten.

Mit andern Worten, die Scholastiker redeten nicht von den Dingen, aber auch nicht von der ersten semantischen Ebene. Sie hielten auch keine Meta-Rede. Sie redeten - wie eine zeitgenössische philosophische Richtung - lediglich von 'den Wörtern und ihrer Verwendung'. Ihre 'Ebene' schwebt irgendwo im Niemandsland. Darum wirkt die eine heute so gegenstandslos und die andere so scholastisch; raten Sie, welche wie.
4. 5. 18

Dienstag, 28. Januar 2025

Cimabue im Louvre.


aus FAZ.NET, 28. 1. 2025                                                                                        

Cimabue im Louvre
Als Kaiser Napoleon den „Ochsenkopf“ stahl
Er gilt als Erfinder der italienischen Frührenaissance: Eine fulminante Ausstellung im Louvre wirft neues Licht auf den Maler Cimabue.

Von Bettina Wohlfarth, Paris

Von Cimabue wurden nur wenige dokumentarische Spuren überliefert. Umso größer war in der Vergangenheit die Versuchung, Legenden um sein Leben zu ranken. Durch Zu- oder Abschreibungen blieb auch der schmale Werkkorpus lange Zeit im Unklaren. Heute herrscht über etwa zehn Tafelgemälde Einigkeit, außer-dem stammen eine Freskengruppe in Assisi und Mosaike in Florenz und in Pisa von Cimabue.

Es gibt nur vier Dokumente, in denen der Maler zu Lebzeiten erwähnt wurde, entweder unter seinem tatsächlichen Namen Cenni di Pepo oder unter dem Spitznamen Cimabue, mit dem er schließlich in die Kunstgeschichte einging. Womöglich könnte dieser buchstäbliche „Ochsenkopf“ den Eigensinn und die Beharrlichkeit des Künstlers bezeichnen. ­Dokumentiert wurde, dass er aus Florenz stammte, sich um 1272 in Rom aufhielt, 1301 in Pisa lebte und 1302 starb. Das Geburtsjahr des Florentiners, 1240, nennt erst Giorgio Vasari, der dreihundert Jahre später seine berühmten Viten mit Cimabue beginnen lässt.

Eine Fliege auf der Nasenspitze

Vasari zufolge malte der junge Giotto eines Tages heimlich eine Fliege auf die Nase einer Figur des Meisters. Cimabue hielt sie für echt und wollte sie wegscheuchen. Mit diesem Späßchen hatte Giotto den Lehrer metaphorisch aus dem Feld geschlagen. Indirekt erzählt die Anekdote, dass die von Cimabue eingeführte realistischere, naturalistischere Art der Darstellung die symbolisch-schematische Malerei der mittelalterlichen Ikonen endgültig abgelöst hatte. Diesen Weg in die Renaissance zeigt die Ausstellung im Louvre unter dem Titel „Cimabue neu sehen – Zu den Ursprüngen der italienischen Malerei“.

Geißelung Christi: Cimabue malte die Szene aus der Passion um 1280 auf Holz
Geißelung Christi: Cimabue malte die Szene aus der Passion um 1280 auf Holz

Die Schau versammelt etwa vierzig Werke um zwei hauseigene Tafelgemälde des Florentiner Meisters, die in den vergangenen Jahren eingehend im Labor des Louvre untersucht und perfekt restauriert wurden: die monumentale Maestà, die Cimabue für die Kirche San Francesco in Pisa geschaffen hatte und Napoleon 1813 in den Louvre verschleppen ließ, außerdem ein kleines Tafelgemälde, das die „Verspottung Christi“ zeigt.

Letzteres gehörte zu einem Andachtsdiptychon mit Szenen der Passions­geschichte und wurde erst 2019 in einem Auktionsinventar in Frankreich als ein Cimabue erkannt. Der Louvre hatte die Tafel – als nationales Kulturgut eingestuft – nach der Versteigerung zum erzielten Preis von gut 24 Millionen Euro erworben. Die beiden Bildwerke wurden bei der Restaurierung von Übermalungen und Schichten oxidierten Lacks befreit, die mit den Jahrhunderten die Farben verdunkelt hatten. Feine Nuancen, Details und Inschriften sind nun sichtbar geworden. Durch die eingehende Befassung mit den beiden Gemälden konnten neue Erkenntnisse zu Cimabues künstlerischen Innovationen gewonnen werden, die nun in der vom Louvre-Kurator Thomas Bohl ausgerichteten Ausstellung und dem begleitenden Katalog vorgestellt werden. Immerhin versammelt die Schau sechs Werke des toskanischen Meisters.

Außergewöhnliche Leihgaben

Das künstlerische Umfeld in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, als Cimabue seine Ausbildung begann, wird durch außergewöhnliche Leihgaben veranschaulicht. Die „Kreuzigung“ von Giunta Pisano (um 1250), der als Lehrmeister Cimabues gilt, wurde vom Nationalmuseum in Pisa trotz ihrer Fragilität nach Paris geschickt. Die Gestaltung der Gesichtszüge und des Körpers der Jesusfigur sind noch stilisiert und schemenhaft.

Gern hätte man sie im Vergleich neben Cimabues „Triumphkreuzen“ aus Arezzo (um 1270) und Florenz (um 1287) gesehen, die leider nicht verliehen wurden. Mehrere Maestà-Darstellungen – darunter die „Kahn-Madonna“ und die „Mellon-Madonna“ aus der Washingtoner National Gallery oder eine Jungfrau mit Kind des anonymen Meisters von Bigallo – zeigen, dass der byzantinische Stil und die maniera greca der orientalischen Ikonenmalerei für die religiösen Gemälde der toskanischen Künstler noch bis über die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts hinaus Vorbild standen. Die Andachtswerke galten als Acheiropoíeta, als nicht von Menschenhand geschaffen.

Ein Hauch von Weltlichkeit

Cimabue führte in den hieratischen Darstellungsstil der religiösen Szenen etwas Weltliches ein. Zu seiner Zeit wurde das Renommee der Künstler wichtig, die deshalb nach Originalität suchten. Seine etwa vier auf drei Meter große Maestà, die in leuchtenden Farben neu erstrahlend im Mittelpunkt der Ausstellung steht, wird auf 1280 datiert. Die Franziskaner-Brüderschaft in Pisa hatte Cimabue als damals wichtigsten Maler der Toskana mit der Ausführung beauftragt. Durch die jüngsten Untersuchungen, die Reste von Eisenhalterungen zutage brachten, ergab sich, dass die monumentale Tafel auf dem Lettner der Kirche San Francesco hing.

Figuren mit Volumen vor Goldgrund: Von Engeln umgebende thronende Muttergottes mit Jesuskind
Figuren mit Volumen vor Goldgrund: Von Engeln umgebende thronende Muttergottes mit Jesuskind

Cimabue erfand für das geläufige Thema eine neue Darstellungsweise, ließ Volumen der Körper entstehen, malte in fast realistischer Anatomie etwa die Hände und gab seinen Figuren, der Jungfrau mit dem Kind und den sechs umgebenden Engeln, einen emotionalen Ausdruck. Ein Vergleich mit anderen Gemälden, die von den Achtzigerjahren des dreizehnten Jahrhunderts an das Thema „Jungfrau und Kind“ behandeln, macht deutlich, wie Cimabues Einfluss die Darstellungsweise veränderte, lebendiger werden ließ und etwa seinen Nachfolger Duccio beeinflusste.

Zum ersten Mal werden in der Ausstellung die drei bekannten kleinformatigen Tafelgemälde des einst aus acht Bildern bestehenden Andachtsdiptychons (etwa 1285 bis 1290) zusammen gezeigt. Alle drei wurden in jüngerer Zeit wiederentdeckt. Die „Geißelung Christi“ tauchte 1950 auf und befindet sich heute in der New Yorker Frick Collection, während „Jungfrau und Kind mit zwei Engeln“ aus der National Gallery in London 1999 entdeckt wurde. Bei der vom Louvre kürzlich erworbenen „Verspottung Christi“ treten durch die Restaurierung nun die Farben in ihrer ganzen Subtilität hervor.

Erst jetzt sieht man, wie ausdrucksstark die Gesichter der aufgewiegelten Volksmenge gemalt wurden. Cimabue gab seinen Figuren mit blauen, violetten und orangefarbenen Tuniken die Kleidung seiner Zeit und legte trotz Kleinformat Wert auf realistische anatomische Details. Neue Erkenntnisse zur Optik ließen ihn erste perspektivische Darstellungen verwenden. Dante Alighieri, der 1265 in Florenz geboren wurde und den „Ochsenkopf“ Cenni di Pepo durchaus gekannt haben könnte, erwähnt den Maler im elften, den Hochmütigen gewidmeten Gesang des Purgatoriums seiner „Göttlichen Komödie“ als einst größten Meister, dessen Stern jedoch sank, als er von seinem Schüler Giotto übertroffen wurde.

„Cimabue neu sehen – Zu den Ursprüngen der italienischen Malerei. Im Louvre“, Paris; bis zum 12. Mai. Der Katalog kostet 42 Eur
 
 
Nota. - Zu den Ursprüngen der italienischen Malerei, heißt die Austellung. Soll das heißen, dass die Art und Weise, wie vor Cimabue gemalt wurde, nicht "italienisch" war? Das wäre nicht einmal falsch, denn es wurde im Stil der griechischen Ikonen gemalt. Träger dieser Kunst waren die ostgotischen Herrschaften in Norditalien gewesen mit ihrem Zentrum in Ravenna. 

 
Nicht nur den Begriff Renaissance - rinascità - hat Vasari geprägt, sondern auch die gängigen Vokabeln maniera greca und stilo gotico für die vorangehende Kunst-epoche - und Anklänge an Chartres und Reims sucht man daher in Italien vergeblich.
 
Die leb- und körperlosen byzantinischen Heiligenbilder sind mit Cimabue schlagartig aus Italien verschwunden, und Giotto hatte freie Bahn.
JE
 


Vernunftwesen und Übermensch.

Hercules Farnese                                                                                        aus

Ein »Ding an sich« ebenso verkehrt wie ein »Sinn an sich«, eine »Bedeutung an sich«. Es gibt keinen »Tatbestand an sich«, sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es einen Tatbestand geben kann. 

Das »was ist das?« ist eine Sinn-Setzung von etwas anderem aus gesehen. Die »Es-senz«, die »Wesenheit« ist etwas Perspektivisches und setzt eine Vielheit schon vor-aus. Zugrunde liegt immer »was ist das für mich?« (für uns, für alles, was lebt usw.).

Ein Ding wäre bezeichnet, wenn an ihm erst alle Wesen ihr »was ist das?« gefragt und beantwortet hätten. Gesetzt, ein einziges Wesen mit seinen eignen Relationen und Perspektiven zu allen Dingen fehlte, so ist das Ding immer noch nicht »defi-niert«.

Kurz: das Wesen eines Dings ist auch nur eine Meinung über das »Ding«. Oder vielmehr: das
[als was] »es gilt« ist das eigentliche »es ist«, das einzige »das ist«.

Man darf nicht fragen: »wer interpretiert denn?« sondern das Interpretieren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein »Sein«, sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt.

Die Entstehung der »Dinge« ist ganz und gar das Werk der Vorstellenden, Den-kenden, Wollenden, Empfindenden. Der Begriff »Ding« selbst ebenso als alle Eigenschaften. – Selbst »das Subjekt« ist ein solches Geschaffenes, ein »Ding« wie alle andern: eine Vereinfachung, um die Kraft, welche setzt, erfindet, denkt, als solche zu bezeichnen, im Unterschiede von allem einzelnen Setzen, Erfinden, Den-ken selbst. Also das Vermögen im Unterschiede von allem Einzelnen bezeichnet: im Grunde das Tun in Hinsicht auf alles noch zu erwartende Tun (Tun und die Wahrscheinlichkeit ähnlichen Tuns) zusammen-gefaßt.
[556]   
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Nietzsche, Aus dem Nachlass  (XII)



Nota. - Und wieder schleicht er um den Eingang zur Transzendentalphilosophie herum. Aber mehr auch nicht. Wenn "alle" ihre - zufälligen? - Meinungen über das Wesen des Dings zu Protokoll gegeben hätten - dann wäre es "definiert"? Nicht ein einziger dürfte fehlen, schiebt er als Einschränkung nach, aber dadurch wird es nicht besser. Denn "alle" ist genauso zufällig wie "alle minus einem".

Nämlich wenn es um empirische Subjekte geht. Doch was die meinen, ist ohnehin zufällig, wie viele sie auch wären. Geltend - 'geltend an sich' - könnte ihre Meinung nur sein, wenn sie selber als nicht zufällig gedacht würden, sondern in irgendeiner Weise als notwendig. Was ist aber das einzig überindividuell und gewissermaßen notwendig Geltende an Nietzsches empirischen Subjekten? Ihre Teilhabe am Wil-len zur Macht. Die geschieht aber immer nur als ein Willen zu seiner eignen Macht. Es ist sein Wille zur Übermacht - über die andern. Es ist etwas, was sie trennt, sogar feindlich gegeneinander werden lässt. Welche Art von Notwendigkeit könnte daraus entstehen?

Angenommen, zum Schluss bleibt ein einziger Übermensch übrig. Dann aber nicht aus Notwendigkeit, sondern durch Kampf - Sieg und Niederlage. 'Nicht bloß Zu-fall, sondern natürliche Auslese', sagt der Darwinist. Da hätte er aber gleich sagen können: Der Stärkere hat Recht. Nietzsche, dafür wären Ihre Abstecher zur kriti-schen (transzendentalen) Philosophie nicht notwendig, sondern ganz überflüssig gewesen.

Notwendig ist an den empirischen Subjekten derjenige Anteil, der sie zu Vernunft-wesen macht. Nicht, weil sie vernünftig sein sollen (wer könnte das bestimmt ha-ben?), sondern weil der Mensch der Gegenwart das faktisch von sich voraussetzt: indem er mit Andern verkehrt wie mit seinesgleichen - nämlich solchen, die mitein-ander vernünftige Zwecke auf vernünftige Weise ermitteln und teilen. Vernünftig sind sie nicht überhaupt, sondern lediglich in dem Maße, wie sie so verfahren: Das ist das Kriterium. Es ist eine historische Gegebenheit. In logischer Hinsicht ist sie daher zufällig. Aber für die historischen Subjekte unserer Tage ist sie gegeben. Für ihre Selbstbewusstheit ist es notwendig.

Je mehr vernünftige Zwecke sie auf diese Weise gemeinsam bestimmen, umso wei-ter reicht das Reich der Vernunft und reicht die Geltung ihrer Bestimmungen.* Sie werden auf diese Weise nie zu einem Schluss kommen? Nein. Wozu auch? Dann bliebe der Vernünftigkeit ja nichts mehr zu tun.

*) Dass es ständig Streit darüber gibt, was vernünftig ist, versteht sich. Aber nicht anders geschieht das Ermitteln.
JE, 17. 1. 19
 
 

Montag, 27. Januar 2025

Das Verlangen nach Gewissheit.

Paul Feyerabend                                                          aus Philosophierungen

2 Das intellectuale Gewissen. — Ich mache immer wieder die gleiche Erfahrung und sträube mich ebenso immer von Neuem gegen sie, ich will es nicht glauben, ob ich es gleich mit Händen greife: den Allermeisten fehlt das intellectuale Gewissen; ... Ich will sagen: die Allermeisten finden es nicht verächtlich, dieses oder jenes zu glau-ben und darnach zu leben, ohne sich vorher der letzten und sichersten Gründe für und wider bewusst worden zu sein und ohne sich auch nur die Mühe um solche Gründe hinterdrein zu geben, — die begabtesten Männer und die edelsten Frauen gehören noch zu diesen "Allermeisten." 

Was ist mir aber Gutherzigkeit, Feinheit und Genie, wenn der Mensch dieser Tu-genden schlaffe Gefühle im Glauben und Urtheilen bei sich duldet, wenn das Ver-langen nach Gewissheit ihm nicht als die innerste Begierde und tiefste Noth gilt, — als Das, was die höheren Menschen von den niederen scheidet! Ich fand bei gewis-sen Frommen einen Hass gegen die Vernunft vor und war ihnen gut dafür: so ver-rieth sich doch wenigstens noch das böse intellectuale Gewissen! 



Aber inmitten dieser rerum concordia discors und der ganzen wundervollen Unge-wissheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen und nicht fragen, nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens, nicht einmal den Fragenden hassen, vielleicht gar noch an ihm sich matt ergötzen — das ist es, was ich als verächtlich empfinde, und diese Empfindung ist es, nach der ich zuerst bei Jedermann suche: — irgend eine Narrheit überredet mich immer wieder, jeder Mensch habe diese Empfindung, als Mensch. Es ist meine Art von Ungerechtigkeit.
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Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Buch 4. 1882


Nota I. - Das ist kein philosophisches Argument, sondern ein metaphilosophisches Motiv, und lässt sich nicht begründen, sondern muss gerechtfertigt werden.


Nota II. - Hätten Sie von Nietzsche erwartet, dass er aus der Dynamik seiner hero-isch-nihilistischen Lebensphilosophie heraus die Notwendigkeit der Kritischen alias Transzendentalphilosophie behauptet? - Ebendas hat er hier getan; und sei es nur der Schönheit halber.
JE
28. 7. 14

 

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Das neue 'ganz zentral'...

...heißt essenziell. Verwenden Sie es bald und oft, je schneller wir es abnutzen, sind wir's wieder los; wenn wir Glück haben .