Nach zwei Jahren sollte nun Bilanz gezogen werden auf der Fachtagung Ortsbe-stimmung der ambulanten Dienste für Kinder und Jugendlicheam 26.-29. 4. 1993. Der folgende Text ist die überarbeitete Fassung eines dort gehaltenen Referats.
„Ist der kommunale Bereich der adäquate Ort für die ambulanten Dienste?“, hieß die selbstkritische Frage.
Bei den stationären Angeboten könnte man sich ja noch vor-stellen, daß aus diesem oder jenem Grunde eine räumliche Trennung angezeigt wäre zwi-schen dem Ort, wo der Bedarf aufgetreten ist, und dem Ort, wo die Leistung erbracht wird (und in der Regel gilt für den Zeitpunkt dann dasselbe). Aber doch nicht bei den ambulanten Diensten, deren Raison d’être doch eben, wie im klassischen Drama, die Einheit von Ort und Zeit ist!
Doch ambulant wird die Sozialarbeit wohl werden müssen, wenn sie in natürlichen Lebenswelten wirken will statt auf künstlichen Stationen…
Die Sozialarbeit ist nicht aus Begriffen, nicht aus theoretischen Systemen entstan-den, sondern aus Problemen, die akut wurden und „sich zeigten“: nicht doktrinal, sondern ‚aporetisch’; nicht diskursiv, sondern pragmatisch. Ihre nachträglichen be-grifflichen Systematisierungen entstanden immer erst aus dem Bedürfnis, die tat-sächliche Praxis der Sozialarbeit ins Verhältnis zu setzen zu ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen. Will sagen, die theoretische Reflexion unserer Disziplin kommt notwendigerweise immer erst post festum (wie das Wort Reflexion ja vermuten lässt.) Systematische Erörterun-gen über ihre gesellschaftliche Sendung und ihre richtigen Methoden sollten daher sinnvollerweise nicht bei der Konstruktion eines „wahren Begriffs“ von Sozialarbeit ansetzen, sondern mit einer faktischen Be-standsaufnahme: Welches sind die Aufgaben, die die Sozialarbeit in unserer Gesell-schaft tatsächlich erfüllt ?
Danach kann man dann die Frage stellen, ob sie sie zufriedenstellend bewältigt, oder ob sie ihre Sache – so oder so – besser machen könnte…
Natürlich kann man sich für die Sozialarbeit immer auch andere Aufgaben ausden-ken als die, die sich ihr ‚von sich aus’ stellen; nur muß man sich dann darüber im Klaren sein, daß das keine fachimmanente, sondern eine im strengsten Sinn politi-sche Diskussion ist.
sich zurechtfinden
Zunächst einmal, was sicher nicht zu den Aufgaben der Sozialarbeit gehört: Mit Sicherheit weist sie den Menschen nicht den richtigen Weg durchs Leben. Sie sagt ihren Kunden nicht, wie „man“ es „richtig macht“. Nicht unbedingt, weil die ein-zelnen Sozialarbeiter das nicht wollten: Lebensläufe korrigieren und Schicksal spie-len gehört sprichwörtlich zu den Dauer-Versuchungen des Metiers.
Was sie ‚ihrem Begriff nach’ schon immer gewesen ist, ist sie in den letzten Jahr-zehnten auch in der Erlebenswirklichkeit des Durchschnittsmenschen geworden. „Ende der Normalbiographie“ nennen das die Soziologen und Kulturhistoriker. Individualisierung und Differenzierung der Lebensstile, Informalisierung der Verkehrsweisen sind die Charakteristika der an diesem Jahrtausendende ‚zu sich selbst kommenden’ bürgerlichen Gesellschaft.
Der Sozialarbeiter ist folglich auch nicht mehr Wegweiser, sondern helfender Bera-ter. Das Leben ist so unübersichtlich geworden, daß sich keiner mehr in allen Le-bensbereichen gleichermaßen gut zurechtfindet. Irgendwo, irgendwann ist jeder mal auf einen Experten angewiesen: Rechtsberatung, Steuerberatung, Schönheitsbera-tung, Gesundheitsberatung, Vermögensberatung… Und eben immer öfter auch: Beratung in Fragen der persönlichen Lebensführung; des Zusammenlebens zumal. Denn hier ist nun nichts mehr selbstverständlich. Wie eine ‘richtige Familie’ auszu-sehen hat, traut sich nichtmal mehr der Gesetzgeber zu sagen. Was früher als siche-rer Hafen und ruhender Pol gegolten hat, ist heute der riskante Teil des Lebens par excellence.
Der
helfende Berater ist nurmehr regulativ wirksam, als ein Faktor unter
vielen andern in einem vielfältig bedingten Prozeß; nicht mehr normativ
als einer, der einen Zustand herbeiführt nach Maßgabe eines fixierten
Solls.
Darum
ist sein Wirken immer ad hoc. Der gegebene Rat ‚greift ein’ in den
aktuellen Lebenslauf – die Auseinandersetzung des Ratsuchenden mit sich
und den anderen. Den Interaktionsfluß unterbrechen, den Ratsuchenden
‚aus dem Verkehr ziehen’, um ihn in einem – künstlich – dafür eigens
eingerichteten Milieu (der ‚Station’) ei-nem erdachten Behandlungsplan zu
unterziehen und ihn hernach in seine – ihrer-seits un'behandelte' –
Lebenswelt zurückzuversetzen: das kann nur ausnahmsweise Sache der
Sozialarbeit sein, und ähnelt eher dem Eingriff des Arztes. Der gegebene
Rat des Sozialarbeiters ist immer nur so gut wie das, was der
Ratsuchende daraus macht, und zwar zuerst einmal hier und jetzt. Der
‚günstigste Zeitpunkt’ ist immer der, wo der Verirrte merkt, daß er einen Rat braucht: wenn die Nachfrage ‚sich zeigt’. Just in place und just in time müssen das Motto der Sozialarbeit sein. Per Definition ist sie dynamisch – und also nicht „stationär“.
Und
will sie den Bedarf an helfender Beratung ‚erkennen’ können, so muß sie
sich dort aufhalten, wo er ‚sich zeigt’: in den Wohngebieten…
singuläres Ereignis
Der
Ausdruck „Defizit“ hat damit keinen Sinn mehr in Hinblick auf eine zu
erfül-lende Norm, sondern nur noch gemessen an dem je singulären
Lebensplan des Ratsuchenden. Der Berater mag ihn in seinem Kopf haben,
solange er noch auf der Suche ist nach einer Einsicht in das besondere
Lebensproblem seines Kunden. Aber gegenüber einem Dritten kann er ihn
sinnvoll nicht mehr aussprechen. Ich schlage vor, ihn ganz aus unserm
Repertoire zu streichen.
Das
gilt übrigens für alle klassifikatorischen und „diagnostischen“
Vokabeln. Sie haben, wenn überhaupt, nur noch den Sinn, mir einen Zugang
zum Problem des Andern zu öffnen. Sie sind ein Geländer, an dem ich
mich ins Durcheinander eines fremden Lebens vortaste. Stehe ich erst
einmal mittendrin, kann ich loslassen und mit meinen eigenen Augen
sehen. Seh-, Denk- und Verständnis-Prothesen brauche ich dann nicht
mehr. Und einem Dritten brauche ich sie schon gar nicht mitzutei-len…
Helfende Beratung ist nämlich, wenn sie zustandekommt, per-sonale Begegnung. Das ist im-mer ein singuläres
Ereignis, das sich seiner Natur nach nicht wiederholen, und auch keinem
Außenstehenden adäquat mit-teilen läßt. Positive Regeln, „wie man sowas
macht“, gibt es na-turgemäß nicht. Man muß es versuchen, und dann wird
man sehen, ob es gelang. Allerdings ist es ratsam, dabei Regeln zu
beachten ; doch keine positiven, erfolgverheißenden, sondern kritische,
‚apagogische’ – solche, die mich in Schutz nehmen gegen einige allzu
bekannte Fehlerquellen, als da sind: die Gutgläu-bigkeit gegenüber der
Stimme des eignen Herzens; die Selbstverständlichkeiten einer
wohlmeinenden Öffentlichkeit; meine eigenen Standesinteressen, die sich
gern als ‚das Bedürfnis des Klienten’ tarnen – und gegen das, was ich
in den Büchern ge-lesen habe…
Artisten
Wer
diesen Beruf ergreift, sollte wissen, daß er sich auf ein Abenteuer
einläßt. Es ist ein Wagnis, das sich jeden Tag wiederholt: Er muß sich
in jeder Situation neu ent-scheiden, hinter jeder Wegbiegung mit einer
Überraschung rechnen und in jedem Moment bereit sein, die Pläne von
gestern umzustoßen.
Er muß vom Typus her ein Unternehmer sein.
Menschen
dieses Typus haben es im Öffentlichen Dienst bekanntlich schwer. Denn
der vertritt die Belange der Allgemeinheit, nicht die singulären
Anliegen von Privat-leuten. Er muß – im demokratisch-repräsentativen
Gemeinwesen zumal – auf Re-gelhaftigkeit, Vorschrift, Sicherheit und
Berechenbarkeit bedacht sein, und das im Interesse eines Jeden von uns.
Denn wie anders wäre eine rechtsstaatliche Verwal-tung möglich?
Ich
stimme nicht die tausendunderste Jeremiade über eine schlimme Bürokratie
an. Ein Grundbestand von Bürokratismus ist für den Rechtsstaat
unerläßlich, man kann den einen nicht ohne den andern haben.
Daß
dieser Grundbestand hier und anderswo weit überschritten wird, bin ich
zu bestreiten weit entfernt; aber das ist ein allgemein
gesellschaftspolitisches Thema, doch kein Fachproblem der Sozialarbeit,
und stellt sich bei Daimler und IBM nicht minder. Das Kreuz mit dem
Öffentlichen Dienst ist bloß, daß es dort kein Gegen-gewicht gibt.
Der
Sozialarbeiter lebt in einer völlig andern Welt. Ihm ist es
ausschließlich um das ganz persönliche Lebensproblem dessen zu tun, der
zu ihm gekommen ist und ihn um seinen Rat gefragt hat. Ob er ihn als
‚Fall’ einer ‚Regel’ zuordnen kann oder nicht, darf ihm herzlich
gleichgültig sein, denn er ist nicht dazu da, Regeln zu re-staurieren und
Normen geltend zu machen. Seine Aufgabe ist, dem Ratsuchenden, dem der
Überblick über die vielen Fäden seines Lebens verlorengegangen ist und
der sich wie in einem Knoten darin festgezurrt hat, bei der
Suche nach einem Aus-weg aus seiner Verstrickung zu helfen. Wenn ihm das
eine oder andere dabei be-kannt vorkommt, dann mag es ihm als
einstweilige Sehhilfe dienen, aber mehr auch nicht. Ansonsten ist er an
seine produktive Einbildungskraft verwiesen.
Man sieht: Gefordert sind in beiden Bereichen Vertreter
höchst gegensätzlicher Menschenschla-ge; hier Artisten auf dem
Drahtseil, dort verläßli-che Felsen in der Brandung. Man kann ohne
Schaden für die eigne Person nicht das eine und das andre zugleich sein
wollen.
Nicht von ungefähr ist das Burnout-Syndrom
die charakteristische Berufskrankheit des Öffentlichen Dienstes: Die
Anforderungen, die hier gelten, sind allzu fremd in der Welt des
bürgerlichen Alltags. Und nicht von ungefähr leiden unter allen
öffent-lich Bediensteten die Sozialarbeiter quantitativ wie qualitativ am
stärksten unterm Burnout: Von ihrer sachlichen Aufgabenstellung –
‚Objektebene’ – sind sie ‚Unternehmer’ par excellence; von den
institutionellen Bedingungen ihrer Praxis her – ‚Metaebene’ – sollen sie
perfekte Funktionäre sein, wie der Büro-hengst.
Wer da nicht über kurz oder lang zur Flasche greift, kann nicht begriffen haben, was von ihm verlangt wird! So
viel über das persönliche Dilemma des Sozialarbei-ters im öffentlichen
Dienst. Aber da ist darüberhinaus ein fachliches Dilemma. Denn der
einzelne Sozialarbeiter ist eben nicht – einzeln: Er ‚arbeitet’
im institu-tionellen Rahmen dieses oder jenen ‚Dienstes’. Der Dienst ist
eine ‚Abteilung’, ein Subsystem des ganzen hoheitlichen Apparats. In
ihm spiegelt sich wider: „die Rechtslage“! So viele Paragraphen, so
viele Leistungen, so viele Bedarfe, so viele Ansprüche, so viele Töpfe,
so viele… Dienste. Auf jedem Töpfchen ein Deckel-chen.
Die
hoheitlich Verwaltung, ‚Vater’ Staat, läßt ihren Blick über die zivile
Gesellschaft gleiten und rechnet dieselbe sich zu. Ihre systematische
Prämisse ist die Selbstdefi-nition der Dienste und Abteilungen durch „die
Rechtslage“ und die durch sie ge-botene „Maßnahme“. Unter diesem Aspekt
blicken sie hinaus ins ‚Feld’ und spähen sie nach ‚Merkmalen’, nach
denen sie das Feld ‚auf sich beziehen’, nämlich – qua ‚Klientel’ – unter
sich aufteilen können.
Doch
diese Optik ist fachlich falsch und schädlich. In der Wirklichkeit des
sozialen Feldes gibt es keine Gesetze, Kategorien, Typen, Störungen…,
und folglich auch keine ‚Fälle’ und keine ‚Merkmale’. Da gibt es nur
lauter Leute, und von denen kommen einige mit ihren Lebensproblemen
selber klar und andre nicht. Letzteren bietet die Sozialarbeit ihren
helfenden Rat an. Welchen, das hängt immer davon ab, wo das Problem
liegt (die Ratsuchenden täuschen sich allzuoft in diesem Punkt). Ihr
wahres pragmatisches Problem besteht nicht darin, die „richtige
Diagnose“ zu finden (nach objektivierbaren Vorgängen ), sondern die
Ratlosen, die noch nicht bemerkt haben, daß sie Hilfe brauchen – und
ipso facto dringender als die andern! -, auf ihr Hilfsangebot aufmerksam
zu machen. Sie muß im Feld Präsenz zeigen und – buchstäblich – sich
interessant machen. Sie muß sich ausprobieren lassen. Kurz, die
Inanspruchnahme ihrer Dienste muß so informell geschehen können, wie –
die andern Verkehrsakte der neomodernen, neobürgerlichen Gesellschaft
auch.
Oder noch kürzer: Sie darf nicht länger Behörde sein.
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