Mittwoch, 3. Dezember 2025

Das Gehirn wächst bis ins Alter.


aus spektrum.de, 

Wachsendes Gehirn? 
Adulte Neurogenese 
 
Von Ruzica Sedic  

Bis ins 20. Jahrhundert dachte man, dass das Wirbeltiergehirn nach der Geburt ein starres System sei, dessen Zellen sich nicht mehr teilen oder erneuern. Heute weiß man, dass das Gehirn ein dynamisches System ist, das sich lebenslang an neue Anforderungen und Erfahrungen anpasst und sogar im Alter noch adulte Neurogenese betreibt.

Die Entwicklung des Gehirns bei Wirbeltieren

Bei allen Wirbeltieren besteht das Gehirn aus fünf Teilen: dem Großhirn, dem Zwischenhirn, dem Mittelhirn, dem Hinterhirn und dem Nachhirn. Diese Abschnitte werden auch als Telencephalon, Diencephalon, Mesencephalon, Metencephalon und Myelencephalon bezeichnet und sind in ihrer Grundanlage bei Fischen, Amphibien, Reptilien, Vögeln und Säugetieren vorhanden (Bayer & Altman, 2006). Die Ausprägung dieser Abschnitte variiert dabei deutlich: Beispielsweise besitzen Vögel im Verhältnis ein größeres Kleinhirn (Cerebellum, Teil des Metencephalons), was unter anderem ihre außergewöhnliche Bewegungskoordination ermöglicht, wie zum Beispiel das Navigieren im dreidimensionalen Raum (Boire & Baron, 1994; Iwaniuk et al., 2007).

Das Gehirn entwickelt sich im Verlauf der Embryonalentwicklung aus dem sogenannten Neuralrohr. Das Neuralrohr ist eine röhrenförmige Struktur, die sich sehr früh nach der Befruchtung aus einer Zellplatte (Neuralplatte) abschnürt. Es bildet den Vorläufer des gesamten zentralen Nervensystems, also sowohl des Gehirns als auch des Rückenmarks. Das Neuralrohr ist zu Beginn noch relativ einfach aufgebaut; seine Zellen teilen sich jedoch rasch und bilden verschiedene Segmente, aus denen sich die einzelnen Gehirnabschnitte herausdifferenzieren (Colas & Schoenwolf, 2001). 

Abbildung 1: Wirbeltiergehirne im Vergleich. 

In den nächsten Entwicklungsschritten erfolgt die sogenannte Musterbildung (Patterning): Signale von bestimmten Regionen, zum Beispiel durch molekulare Botenstoffe wie „Sonic hedgehog“ oder „Wnt“-Proteine, sorgen dafür, dass im Neuralrohr verschiedene Funktionsbereiche entstehen. Diese Funktionsbereiche werden als Neuromere bezeichnet und legen die spätere Gliederung des Wirbeltiergehirns fest (Altman & Brivanlou, 2001; Le Dréau & Marti, 2002).

Im weiteren Verlauf setzen dann Prozesse wie die Neurogenese ein – also die eigentliche Entstehung und Vermehrung von Nervenzellen (Neuronen) sowie sogenannten Gliazellen, welche die Nervenzellen in ihrer Funktion unterstützen. Zunächst teilen sich Stammzellen symmetrisch, um die Zellzahl zu erhöhen. Später entstehen durch asymmetrische Zellteilungen differenzierte Neuronen und Gliazellen, die sich entlang von besonderen Bahnen aus dem Neuralrohr in ihr Zielgebiet bewegen (Zhong & Chia, 2008; Götz & Wieland, 2005). 

Sobald die jungen Nervenzellen ihren Bestimmungsort erreicht haben, reifen sie weiter aus: Sie verzweigen und vernetzen sich mit anderen Neuronen und bilden erste Synapsen. Bereits vor der Geburt entstehen so die grundlegenden Schaltpläne für spätere Wahrnehmung und Verhalten. Nach der Geburt kommt es durch Umwelteinflüsse und Aktivität zu einer weiteren Verfeinerung dieser Netzwerke: Überflüssige Verbindungen werden zurückgebaut, während nützliche verstärkt werden. Dieses Phänomen nennt man auch neuronale Plastizität (Kolb & Gibb, 2011).

Beim Menschen verändert sich das Volumen des Gehirns im Verlauf des Lebens deutlich. In den ersten Lebensjahren wachsen sowohl graue als auch weiße Substanz besonders schnell bis etwa zum sechsten Lebensjahr (Abbildung 1). Ab dem sechsten Lebensjahr sieht man vor allem einen Abfall in dem Volumen der grauen Substanz (Betlehem et al., 2022).

Abbildung 2: Betlehem et al., 2022
Was ist adulte Neurogenese?

Die Neurogenese beschreibt die Bildung neuer Nervenzellen aus Stamm- oder Vorläuferzellen und findet sowohl im sich entwickelnden als auch im erwachsenen Gehirn (adulte Neurogenese) statt (Gulati, 2015; Gage, 2002). 

Im Jahre 1913 stellte Santiago Ramón y Cajal fest, dass Nervenzellen nur während der Entwicklung des Gehirns generiert werden. Man ging davon aus, dass nach der Embryonalentwicklung keine neuen Neuronen entstehen würden. Erst seit Ende des 20. Jahrhunderts ist nachgewiesen, dass das erwachsene Gehirn über ein Reservoir neuronaler Stammzellen verfügt, die neue Nervenzellen hervorbringen können (Altman & Das, 1965). 

Adulte Neurogenese findet in Vögeln (Goldman et al., 1983), Nagetieren (Altman & Das, 1965), Primaten (Gould et al., 1999) und Menschen (Eriksson et al., 1998) statt.

Funktionell ist die adulte Neurogenese eng mit Lernen, Gedächtnisbildung und neuronaler Plastizität verknüpft (Ambrogini et al., 2000; Hairston et al., 2005).

Wie findet man sich teilende Zellen?

Wo Neurogenese stattfindet, teilen sich Zellen. Wo sich Zellen teilen, wird DNA synthetisiert. Ein Grundbaustein von DNA ist hierbei die Base Thymidin, deren Einbau bei der Synthese man sich zu Nutzen machen kann, indem man BrdU (5-Bromo-2’-deoxyuridin) verwendet. BrdU ist hierbei ein Analogon von Thymidin und wird an seiner Stelle in die neue DNA eingebaut. Die Verwendung von Antikörpern, welche an BrdU binden, ermöglicht die Detektion der neuen Zellen mit der neuen BrdU-enthaltenden DNA. Dadurch wird eine Visualisierung der Zellteilung und damit der Neurogenese ermöglicht (Thermo Fisher Scientific, o.D.).

Adulte Neurogenese bei unterschiedlichen Tieren

Bei Nagetieren und Vögeln findet die adulte Neurogenese vor allem in zwei spezifischen Bereichen des Gehirns statt: dem Gyrus dentatus, welcher zum Hippocampus gehört, und der Subventrikulären Zone (SVZ), welche sich entlang der Seitenventrikel befindet (Goldman et al., 1983; Altman & Das, 1965; Allen 1912). 

Eine 2025 publizierte Studie von Herold et al. kommt zu dem Ergebnis, dass sich der Prozess der adulten Neurogenese in Tauben und Mäusen nicht nur in den zuvor beschriebenen Zonen abspielt, sondern zudem im Striatum, wobei sie bei Tauben signifikant höher ist.

Auch bei Primaten, zu denen der Mensch gehört, findet die adulte Neurogenese im Gyrus dentatus des Hippocampus und in der subventrikulären Zone statt (Kukekov et al., 1999; Eriksson et al., 1998).

Quellen

Allen, E. (1912). The cessation of mitosis in the central nervous system of the albino rat. Journal of Comparative Neurology, 22(4), 547–568.

Altman, J., & Das, G. D. (1965). Autoradiographic and histological evidence of postnatal hippocampal neurogenesis in rats. Journal of Comparative Neurology, 124(3), 319-335. https://doi.org/10.1002/cne.901240303

Altmann, C. R., & Brivanlou, A. H. (2001). Neural patterning in the vertebrate embryo. International Review of Cytology, 203, 447-482. https://doi.org/10.1016/s0074-7696(01)03013-3

Ambrogini, P., Cuppini, R., Cuppini, C., et al. (2000). Spatial learning affects immature granule cell survival in adult rat dentate gyrus. Neuroscience Letters, 286(1), 21–24. https://doi.org/10.1016/s0304-3940(00)01074-0

Bayer, S.A., & Altman, J. (2006). The Human Brain During the Late First Trimester (1st ed.). CRC Press. https://doi.org/10.1201/9781420003277

Bethlehem, R. A. I., Seidlitz, J., White, S. R., Vogel, J. W., Anderson, K. M., Adamson, C., Adler, S., Alexopoulos, G. S., Anagnostou, E., Areces-Gonzalez, A., Astle, D. E., Auyeung, B., Ayub, M., Bae, J., Ball, G., Baron-Cohen, S., Beare, R., Bedford, S. A., Benegal, V., … Alexander-Bloch, A. F. (2022). Brain charts for the human lifespan. Nature, 604(7906), 525–533. https://doi.org/10.1038/s41586-022-04554-y

Boire, D., & Baron, G. (1994). Allometric comparison of brain and main brain subdivisions in birds. Journal für Hirnforschung, 35(1), 49-66.

Carlson, D. (2025). Vertebrate brain evolution illustration [Illustration]. Carlson Stock Art. https://www.carlsonstockart.com/photo/vertebrate-brain-evolution-illustration/

Colas, J. F., & Schoenwolf, G. C. (2001). Towards a cellular and molecular understanding of neurulation. Developmental Dynamics, 221(2), 117-145. https://doi.org/10.1002/dvdy.1144

Eriksson, P. S., Perfilieva, E., Bjork-Eriksson, T., et al. (1998). Neurogenesis in the adult human hippocampus. Nature Medicine, 4(11), 1313–1317. https://doi.org/10.1038/3305

Gage, F. H. (2002). Neurogenesis in the adult brain. Journal of Neuroscience, 22(3), 612-613. https://doi.org/10.1523/JNEUROSCI.22-03-00612.2002

Goldman, S. A., & Nottebohm, F. (1983). Neuronal production, migration, and differentiation in a vocal control nucleus of the adult female canary brain. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 80(8), 2390–2394. https://doi.org/10.1073/pnas.80.8.2390

Gould, E., Reeves, A. J., Graziano, M. S. A., & Gross, C. G. (1999). Neurogenesis in the neocortex of adult primates. Science, 286(5439), 548–552. https://doi.org/10.1126/science.286.5439.548

Gulati, A. (2015). Understanding neurogenesis in the adult human brain. Indian Journal of Pharmacology, 47(6), 583-584. https://doi.org/10.4103/0253-7613.169598

Götz, M., & Huttner, W. B. (2005). The cell biology of neurogenesis. Nature Reviews Molecular Cell Biology, 6(10), 777-788. https://doi.org/10.1038/nrm1739

Hairston, I. S., Little, M. T., Scanlon, M. D., et al. (2005). Sleep restriction suppresses neurogenesis induced by hippocampus-dependent learning. Journal of Neurophysiology, 94(6), 4224–4233. https://doi.org/10.1152/jn.00218.2005

Herold, C., Karsli, E., Delhaes, N., Mehlhorn, J., Bidmon, H., & Amunts, K. (2025). Adult striatal neurogenesis—A comparative approach between pigeons, mice, macaques, and human. Journal of Comparative Neurology, 533(11), e70107. https://doi.org/10.1002/cne.70107

Iwaniuk, A. N., Hurd, P. L., & Wylie, D. R. (2007). Comparative morphology of the avian cerebellum: II. Size of folia. Brain, Behavior and Evolution, 69(3), 196-219. https://doi.org/10.1159/000096987

Kolb, B., & Gibb, R. (2011). Brain plasticity and behaviour in the developing brain. Journal of the Canadian Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 20(4), 265-276. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3222570/

Kukekov, V. G., Laywell, E. D., Suslov, O., Davies, K., Scheffler, B., Thomas, L. B., et al. (1999). Multipotent stem/progenitor cells with similar properties arise from two neurogenic regions of adult human brain. Experimental Neurology, 156(2), 333–344. https://doi.org/10.1006/exnr.1999.7028

Kumar, A., Pareek, V., Faiq, M. A., Ghosh, S. K., & Kumari, C. (2019). Adult neurogenesis in humans: A review of basic concepts, history, current research, and clinical implications. Innovations in Clinical Neuroscience, 16(5–6), 30–37. https://doi.org/10.31662/jmds.2019.16.5.2 [oder PMID: 31440399]

Le Dréau, G., & Martí, E. (2012). Dorsal-ventral patterning of the neural tube: A tale of three signals. Developmental Neurobiology, 72(12), 1471-1481. https://doi.org/10.1002/dneu.22015

Thermo Fisher Scientific. (o. D.). BrdU Labeling and Detection Protocol. https://www.thermofisher.com/de/de/home/references/protocols/cell-and-tissue-analysis/protocols/brdu-labeling-and-detection-protocol.html (Abruf am 12. November 2025)

Zhong, W., & Chia, W. (2008). Neurogenesis and asymmetric cell division. Current Opinion in Neurobiology, 18(1), 4-11. https://doi.org/10.1016/j.conb.2008.05.002

 

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