aus scinexx.de, 26. 11. 2025 zu Jochen Ebmeiers Realien
Vom Baby zum Greis: Unser Gehirn entwickelt sich im Lebensverlauf nicht gleichförmig, sondern in fünf klar unterscheidbaren Phasen, wie Forschende entdeckt haben. In diesen fünf Lebensabschnitten verändert sich die Netz-werkstruktur und Effizienz unseres Gehirns auf jeweils charakteristische Weise. Die großen Umbrüche finden am Ende der Kindheit mit neun Jahren, mit 32 Jahren, mit 66 und dann mit 83 Jahren statt, wie das Team in „Nature Communications“ berichtet.
Unser Gehirn entwickelt sich unser Leben lang weiter: Hirnzellen vernetzen sich, bestehende Nervenverbindungen werden ausgebaut oder gekappt, funktionale Netzwerke geknüpft und optimiert. Dies ermöglicht es uns, Neues dazuzulernen und unsere geistigen Fähigkeiten auszubauen. Doch mit zunehmendem Alter ändert sich einiges: Das Gehirn reagiert weniger flexibel, die kognitiven Leistungen schwinden wieder.

Wie verändert sich die Netzwerkstruktur unsers Gehirns?
Jetzt zeigt sich, dass unsere Hirnentwicklung im Lebensverlauf klar abgegrenzte Phasen durchläuft. Entdeckt haben dies Alexa Mousley von der University of Cambridge und ihr Team, als sie die Gehirne von 3.802 unterschiedlich alten Menschen miteinander verglichen. Die Alterspanne der Testpersonen reichte von Neugeborenen bis zu 90-jährigen Greisen. Im Fokus der Analysen stand die Struktur der weißen Hirnsubstanz – der unzähligen „Kabel“, die unser Hirnzellen und Hirnareale miteinander vernetzen.
„Wir wissen, dass diese Verkabelung für unsere Hirnentwicklung entscheidend ist“, sagt Mousley. „Aber uns fehlte bisher der Überblick, wie diese sich im Laufe unseres Lebens verändert und warum.“ Mithilfe der Diffusions-Magnetresonanztomografie und KI-gestützten Analysen kartierte das Team daher systematisch, wie sich zwölf Parameter der Hirnstruktur und Vernetzung im Lebensverlauf verändern. Dazu gehörte zum Beispiel die Dichte und Kürze der Verbindungen, aber auch, wie global oder modular bestimmte Netzwerke arbeiten.

Die Analysen enthüllten: Die Verkabelung unseres Gehirns entwickelt sich nicht linear, sondern durchläuft vier große Umbrüche im Lebensverlauf – am Ende der Kindheit mit neun Jahren, als junge Erwachsene mit 32 Jahren, zu Beginn des Alters mit 66 Jahren und mit Eintritt in das Greisenalter mit 83 Jahren. Dadurch zeigt unser Gehirn fünf große Lebensabschnitte, die von jeweils unterschiedlichen Umbau- und Entwicklungsprozessen geprägt sind.
„Dies ist das erste Mal, dass solche Phasen der Hirnentwicklung im Lebensverlauf identifiziert wurden“, sagt Mousley. „Diese fünf Phasen liefern uns wichtige Informationen darüber, welche Stärken und Schwächen unsere Gehirn in unseren verschiedenen Lebensphasen hat.“ Gleichzeitig helfen sie zu verstehen, warum sich manche Gehirne an diesen entscheidenden Weichen abweichend entwickeln.
Die erste Phase unserer Hirnentwicklung beginnt mit der Geburt und dauert bis zum Alter von neun Jahren. In dieser Zeit ist unser Gehirn vor allem damit beschäftigt, sein Netzwerk „aufzuräumen“. Denn kurz nach der Geburt bildet das Babygehirn eine Flut neuer Synapsen aus, um die vielen neuen Eindrücke zu verarbeiten. Doch um effizient zu funktionieren und lernen zu können, baut das Gehirn nun unnötige „Kabel“ wieder ab und stärkt die „Autobahnen“ zwischen wichtigen Hirnzentren.
„Die ersten Lebensjahre sind von einer Konsolidierung und dem kompetitiven Abbau von Synapsen geprägt“, erklären die Forschenden. „Parallel dazu nimmt das Volumen von grauer und weißer Hirnsubstanz rasch zu.“ Die Faltung des Gehirns bekommt in dieser Phase ihre endgültige Form.
Die zweite Phase der Hirnentwicklung beginnt mit neun Jahren – den Anfängen der Pubertät. „Mit diesem Umbruch beginnt sich der Hormonhaushalt zu verändern und bewirkt deutliche neurologische Veränderungen“, erklären Mousley und ihre Kollegen. Bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen wächst die weiße Hirnsubstanz weiter, gleichzeitig werden die Kommunikationsnetzwerke des Gehirns optimiert: Wichtige Hirnzentren werden durch schnelle Leitungen effizienter miteinander verbunden, parallel dazu nimmt auch die Vernetzung innerhalb dieser Zentren zu.
„Die Jugendzeit ist die einzige Phase des Lebens, in der diese Effizienz der Vernetzung zunimmt“, erkärt Mousley. „Das neuronale Netzwerk verknüpft sich nun immer stärker global, entwickelt aber auch mehr lokale, spezialisierte Zentren.“ Diese lokalen Knotenpunkte ermöglichen eine parallele Verarbeitung und machen das Gehirn dadurch robuster gegen Störungen und Ausfälle.
Mittleres Alter: Hochplateau von Intelligenz und Persönlichkeit
Seinen Höhepunkt in puncto Ausbaustufe und Leistung erreicht unser Gehirn mit 32 Jahren. An diesem Umbruch beginnt die dritte und längste Phase unserer Hirnentwicklung. „Mit 32 Jahren sehen wir die größten Veränderungen in Bezug auf das Ausmaß und die Richtung, die die Hirnentwicklung nun einschlägt“, berichtet Mousley. Der rapide Ausbau der Vernetzung stoppt, stattdessen beginnt nun eine sehr stabile Phase mit nur langsamen Veränderungen.
„Diese Periode der Netzwerk-Stabilität bringt ein Hochplateau der Intelligenz und Persönlichkeit ,mit sich“, erklären die Forschenden. In dieser mehr als 30 Jahre dauernden Phase des Erwachsenenlebens durchläuft das Gehirn nur wenig komplexe Umbauprozesse. Stattdessen nimmt nun die Effizienz der Hirnnetzwerke allmählich wieder ab, erste überregionale Verbindungen werden wieder abgebaut.

Die vorletzte Phase unserer Hirnentwicklung markiert den Beginn des Alters: Sie beginnt mit rund 66 Jahren und ist durch weiteren langsamen Abbau geprägt. Die hirnübergreifende Vernetzung nimmt weiter ab, die verschiedenen Hirnregionen arbeiten immer weniger gut zusammen. „Wir haben festgestellt, dass sich die großräumigen Organisationsmuster in dieser Phase zunehmend vereinfachen, die Modularität nimmt zu“, berichten Mousley und ihr Team. „Dies spricht für eine allmähliche Ausdünnung des strukturellen Netzwerks im Alter.“
Die fünfte und letzte Phase beginnt mit 83 Jahren. „Dieser Umbruch markiert einen deutlicheren Abbau der Hirnstruktur“, so die Forschenden. Die Vernetzung zwischen den einzelnen Hirnarealen nimmt weiter ab und insgesamt ist das Hirnnetzwerk nun deutlich ausgedünnt. Das hat unter anderem zur Folge, dass Störungen in einem Areal nun nicht mehr so leicht durch „Umleitungen “ ausgeglichen werden können.
„Wenn wir auf unser Leben zurückschauen, haben viele von uns den Eindruck, dass wir unterschiedliche Phasen durchlaufen haben. Jetzt zeigt sich, dass auch unser Gehirn solche Lebensphasen aufweist“, sagt Seniorautor Duncan Astle von der University of Cambridge. „Wir verstehen nun, dass auch die Lebensreise unserer Hirnstruktur nicht stetig oder linear ist, sondern von großen Umbrüchen geprägt ist.“
Die neuen Erkenntnisse erklären auch, warum unser Gehirn in bestimmten Lebensphasen besonders anfällig für Störungen ist: Der Umbruch am Beginn der Pubertät zu Störungen bringt beispielsweise ein besonders hohes Risiko für psychische Störungen mit sich. Viele mentale Erkrankungen haben ihren Ursprung in dieser Phase. In der Umbruchsphase beim Beginn des Alters wiederum reagiert das Gehirn sensibel auf Störungen wie Bluthochdruck und kann dann besonders leicht in eine Demenz abgleiten, wie die Forschenden erklären..
„Viele neurologische, psychische und entwicklungsphysiologische Erkrankungen sind eng damit verknüpft, wie unser Gehirn verschaltet ist“, sagt Astle. „Aber auch unsere Aufmerksamkeit, Sprache, unser Gedächtnis und eine ganze Spanne weiterer Eigenschaften hängen mit der Vernetzung unseres Gehirns zusammen.“ (Nature Communications, 2025; doi: 10.1038/s41467-025-65974-8)
Quelle: Nature, University of Cambridge; 26. November 2025 - von Nadja Podbregar



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