zu öffentliche Angelegenheiten
Die Welt hat sich letzthin drastisch verändert. Jeder ist sich selbst der Nächste be-deutet Jeder gegen Jeden. Russland,
China und Trumps Amerika denken an sich selbst zuerst. Wenn Europa
dazwischen nicht zerrieben und aufgeteilt werden will, muss es
voranschreiten und nicht auf der Stelle treten: Stillstand heißt hier
Rück-schritt.
Als Schrittmacher kommt nur Deutschland in Frage. Selbst wenn Macron
wollte - Frankreich kann es nicht. Nicht nur sind wir die Stärksten,
sondern wir haben - eben darum - auch am meisten zu verlieren. Ist das
nicht ungerecht? Zwei Weltkrie-ge hat Deutschland um die Vorherrschaft in
Europa geführt und verloren, dann hat es sie im Frieden gewonnen, und
jetzt - spielt Europa in der Welt nur noch die zwei-te, dritte Geige und
droht, zur Einflusszone der Andern zu werden.
Aber warum denn nicht? fragt der Gutmensch. Wenn andernorts der Nationalismus blüht, müssen wir doch nicht mitmachen; klein, aber mein. Und die Laubenpieper-patrioten akklamieren: Genau!
Sie stecken mit dem Kopf noch im 19. Jahrhundert. Wenn sich in Europa
zwei Dut-zend Nationen überwinden und vereinen, ergäbe das einen neuen, kontinentalen
Nationalismus? Sollen wir größer und stärker sein wollen als die anderen, nur weil wir's sind und weil wir in unserm Winkel nunmal
aufeinanderhocken?
Der entscheidende Punkt ist aber: Womit und wodurch werden wir die zwei
Dut-zend Nationen überwunden haben? Durch das, was ihnen bleibt, wenn man
das beiseite lässt, was sie unterscheidet. Und das ist nicht etwas, das
sie immer schon gewesen wären, sondern etwas, das sie mit und gegen
einander geworden sind.
*
Der
Reichtum Europas und das, was die Welt von uns bekommen kann, ist die
Mannigfaltigkeit von zwei dutzend Kulturen, die auf kleinstem Raum nicht
neben-einander, sondern schon immer miteinander bestehen, jahrhundertelang im Krieg, seit siebzig Jahren eher im Frieden. Sie werden durch
ihre Unterschiede mehr an-einander gebunden als getrennt, denn jeder
Unterschied zwischen zweien wird, wenn man auf ihn reflektiert und von
den andern absieht, ein Gegensatz, und diese Gegensätze teilen wir miteinander.
In Europa wurde die Vernunft geboren. Nicht aus unserer Weisheit, eher
aus der Torheit, aber eben den widerstreitenden Torheiten von so
vielen. Vor fünfhundert Jahren - wir haben eben das Jubiläum gefeiert -
zerriss das einigende Band, das die Römische Kirche um die
gegensätzlichen Kulturen gelegt hatte, und die Glaubens-spaltung trieb
Europa in einen kontinentalen Bürgerkrieg, den Dreißigjährigen. Ge-führt
wurde er von vielen Mächten, aber auf deutschem Boden. Was nachgeborene
Historiker den deutschen Sonderweg nannten, hatte dort seinen Anfang.
Doch auch die Vernunft. Sollten die politischen Mächte wieder zu einem
friedlichen Verkehr miteinander finden, bedurfte es einer mit
unstrittiger Autorität ausgestatte-ten Instanz über den Glaubensbekenntnissen, deren Urteile einem jeden Individu-um von gesundem Verstand zuzumuten wären.
*
Genau genommen ist das, was man heute unter Europa versteht, begründet worden im Westfälischen Frieden von 1648. Es
hat seine Zeit gebraucht, doch schlicßlich ging aus der Vorstellung von
einem Recht, das 'allein schon aus unserer Natur' folgt, unausweichlich
die Idee der allgemeinen unveräußerlichen Menschenrechte hervor.
Hätte sie auch anderswo aufkommen können als in Europa? Sie ist es nicht. Aber hier ist sie mit Notwendigkeit
aufgekommen. Mit Notwendigkeit, weil sie gerade nicht
selbstverständlich war und - selbst in Europa - noch heute nicht
geworden ist: Nur hier ist sie nicht beiläufig, nicht "umständehalber",
nicht 'durch Nichtwissen', sondern ausdrücklich und grundsätzlich bestritten
worden; nicht ideell, sondern praktisch in Fleisch und Blut und Rauch
und Asche. Das war in Europa, und wer sollte davon zeugen, wenn nicht
wir Deutschen in Europa?
Mit
andern Worten, die Zukunft Deutschlands liegt in Europa nicht, weil es
uns so am besten passt; sondern weil die Zukunft der Welt im
entscheidenden Punkt an Europa hängt, und weil es unsere wenn schon sonst niemand Anderes Pflicht ist, darüber zu wachen.
28. 6. 18
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