Vieles, das wir tagtäglich erleben, wandert in das Langzeitgedächtnis, wo es unsere Persönlichkeit mitgestaltet und dabei hilft, dass wir uns in der Welt zurechtfinden. Weitaus nicht alle flüchtigen Eindrücke, Gedanken und schmerzhaften Momente bleiben nachhaltig im Gedächtnis haften – und das ist gut so.

Damit das Gehirn wichtige Informationen speichern kann, muss es Irrelevantes aussieben. Dieser Filter im Arbeitsgedächtnis unterscheidet ziemlich trennscharf zwischen wichtig und unwichtig. Das liegt unter anderem daran, dass dieser Teil des Erinnerungsvermögens eine vergleichsweise geringe Kapazität hat.

Zwei Hirnregionen für das Gedächtnis

Über Jahrzehnte konzentrierte sich die Gedächtnisforschung auf zwei Hirnregionen: den Hippocampus, Sitz des Kurzzeitgedächtnisses, und den Cortex, der als Speicherort für Langzeiterinnerungen galt. Letzterer schien gesammelte Eindrücke hinter biologischen An- und Ausschaltern zu verwahren. In diesem Modell galt: War eine Kurzzeiterinnerung für die langfristige Speicherung markiert, blieb sie dort unbegrenzt.

Allmählich ahnte man, dass das Modell zu simpel war, unter anderem etwa, weil es nicht erklären konnte, warum manche Langzeiterinnerungen nur Wochen halten, andere jedoch ein Leben lang. Vor drei Jahren entdeckte man eine Verbindung im Gehirn, die Kurz- und Langzeitgedächtnis miteinander verknüpft. Dennoch blieben bisher grundlegende Fragen ungeklärt: Was geschieht mit Erinnerungen, nachdem sie im Hippocampus kurzfristig gespeichert wurden? Und welche molekularen Mechanismen steuern den Sortierprozess, der Wichtiges von Belanglosem unterscheidet?

Zentrale "Türsteher" sortieren aus

Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen nun, dass sich das Langzeitgedächtnis durch eine Serie molekularer Timer in verschiedenen Hirnregionen bildet. Anhand eines Mäusemodells konnte ein Team um Priya Rajasethupathy von der Rockefeller University (New York) nachweisen, dass langfristige Erinnerungen von zentralen Regulatoren gesteuert werden.

Diese Moleküle überführen die Erinnerungen entweder schrittweise in immer stabilere Formen oder sie stufen sie zurück, bis sie verblassen. Dabei zeigte sich, dass mehrere Hirnregionen zusammenwirken. "Das ist eine entscheidende Erkenntnis, weil sie erklärt, wie wir die Beständigkeit von Erinnerungen anpassen", sagte Rajasethupathy. "Woran wir uns erinnern, ist ein kontinuierlich fortschreitender Prozess – und nicht das einmalige Umlegen eines Schalters."

Virtual-Reality-System für Mäuse

Für ihre im Fachjournal Nature veröffentlichte Studie schufen die Forschenden um Rajasethupathy ein Verhaltensmodell auf Basis eines Virtual-Reality-Systems, in dem Mäuse spezifische Erinnerungen bildeten. "Indem wir die Häufigkeit bestimmter Erfahrungen variierten, konnten wir erreichen, dass sich die Mäuse an manches besser erinnerten als an anderes", sagte zu Forscherin. "Damit konnten wir untersuchen, welche Mechanismen im Gehirn mit der Persistenz dieser Erinnerungen zusammenhingen."

Doch es ging dem Team nicht alleine um Korrelation. Um Kausalität aufzuzeigen, manipulierte Kohauptautorin Celine Chen auf Basis der Genschere CRISPR gezielt Erbinformation im Thalamus und Cortex. Dies ermöglichte es den Forschenden zu zeigen, dass das Ausschalten bestimmter Moleküle die Dauer einer Erinnerung beeinflusst, und zwar je nach molekularen Komponenten auf unterschiedlichen Zeitskalen.

Mehrstufiger Entscheidungsprozess

Die Ergebnisse sprechen dafür, dass das Langzeitgedächtnis nicht durch einen einzigen molekularen Ein/Aus-Schalter erhalten bleibt, sondern durch eine Abfolge von genregulierenden Programmen, die sich über Zeit und Hirnregionen entfalten – wie eine Serie molekularer "Türsteher": Frühe solche Timer schalten sich rasch ein und wieder ab, was ein schnelles Vergessen ermöglicht. Nachgeschaltete Timer wirken langsamer, erzeugen dafür aber stabilere Erinnerungen.

Dieser schrittweise Prozess erlaubt es dem Gehirn, bedeutsame Erfahrungen für die langfristige Speicherung auszuwählen, während andere verblassen. "Wenn Erinnerungen nicht auf diese Timer gehoben werden, glauben wir, dass sie sehr schnell verloren gehen", sagte Rajasethupathy.

Interessanterweise zählt eines der beteiligten Regulatormoleküle namens Ash1l zu einer Familie von Proteinen, die auch in anderen biologischen Systemen eine Rolle bei der Gedächtnisbildung spielen: Im Immunsystem helfen diese Moleküle dem Körper, sich an vergangene Infektionen zu erinnern. Das Gehirn könnte diese universellen Formen zellulären Gedächtnisses zweckentfremden, um kognitive Erinnerungen zu unterstützen, vermuten die Forschenden.

Mögliche Therapiegrundlagen

Bei den neuen Ergebnissen geht es nicht ausschließlich um Grundlagenforschung, sie könnten ganz konkret auch für Erkrankungen, bei denen das Gedächtnis angegriffen wird, relevant sein. Rajasethupathy vermutet, dass die Identifizierung jener Genprogramme, die Gedächtnisinhalte stabilisieren, langfristig helfen könnte, Erinnerungen über alternative Schaltkreise zu leiten und so beschädigte Hirnregionen – etwa bei Alzheimer – zu umgehen.

"Wenn wir wissen, welche zweiten und dritten Stationen für die Gedächtniskonsolidierung wichtig sind, und in der ersten Region sterben Neuronen ab, könnten wir die beschädigte Region vielleicht meiden und gesunde Bereiche übernehmen lassen", sagte die Neurowissenschafterin.

Rajasethupathys Team blickt bereits über die aktuellen Resultate hinaus: Als Nächstes wollen die Forschenden klären, wie die unterschiedlichen molekularen Timer aktiviert werden – wie das Gehirn also bestimmt, wie wichtig eine Erinnerung ist und wie lange sie halten soll. Dabei rückt insbesondere der Thalamus in den Fokus, den das Team als zentrale Entscheidungsinstanz in diesem Prozess identifiziert hat. "Uns interessiert das Leben einer Erinnerung jenseits ihrer initialen Bildung im Hippocampus", sagte Rajasethupathy. (tberg, red.)