Dienstag, 11. Juni 2024

Zwiespalt ist unser Nationalcharakter.

                                     zu öffentliche Angelegenheiten

Romantik ist allerdings “eine deutsche Affäre”, denn nirgends ist Ironie so nötig und in der Geschichte so gegenwärtig, wie bei uns! 

Der hervorragende Zug im deutschen Nationalcharakter ist, spätestens seit dem dreißigjährigen Krieg, seine Zerrissenheit. Was ‘das Deutsche’ sei, war daher immer umstritten. Was hat nicht alles schon – und mit demselben Recht! – als “typisch deutsch” gegolten: Pedanterie und Überschwang, Plumpheit und Poesie, Innerlich-keit und Aggression, gemütliches Selbstgefallen und himmelstürmender Größen-wahn, Tiefsinn und Technik, Dumpfheit und Dialektik, Romantik und Realpolitik, der gottergebene Fleiß des Ackerviehs ebenso wie faustisches Genie; Beamtendün-kel und versonnene Philosophen, Kunst und Ursprung, Dämon und Philister; Welt-anschauung und Schrebergarten, Todesverachtung und Vollwertkost. Aber alles gründlich! 

Gegensätze gibt es wohl auch bei den andern. Doch als typisch wird dort jeweils nur eins von beiden gelten. Bloß für uns sind die zwei Extreme immer gleich-charakteristisch: “Dass der Deutsche doch alles zum Äußersten treibet / Für Natur und Vernunft selbst, die nüchterne, schwärmt!” heißt es in Goethes Zahmen Xenien, und die zwei Seelen, ach, in seiner Brust kann ein Deutscher gar nicht mehr nennen, ohne dass es abgedroschen klingt. ‘Das Deutsche’ ist im-mer auch... das Gegenteil; seinem Wesen nach offenbar unbestimmt, aber das mit aller Schärfe.
 

Die andern großen Nationen schauen sich selbst in einem lebendigen ver-bindlichen Menschenbild an, in dessen charakteristischen Zügen die Spuren der gemeinsamen Geschichte lesbar sind. Der engli-sche gentleman personifiziert die historische Verei-nigung von Adel und Großbürgertum zur typisch britischen Oligarchie, im fran-zösischen citoyen verbinden sich der plebejische Stolz des Sansculotten mit römi-scher Staatsvergötzung, der amerikanische pioneer vereinigt den beengten Blick auf den nächstliegenden Vorteil mit einer kontinentalen Weite des Horizonts.

Die tausendfach zersplitterten Deutschen haben als Natio-naltype lediglich den Michel hervorgebracht, und zu ihrem legitimen Repräsentanten stieg er eben nach dem dreißig-jährigen Krieg auf! Michel ist das anschauliche Symbol für die Verspätung der deutschen Nationwerdung. Er verkörpert die Selbstverachtung und das Selbstmitleid der Deutschen, er ist eine Negativfigur, derer man sich schämen muss.

Kein Wunder! Denn die Bildung eines Volkes zur Nation ist Sache eines um seinen freien Inneren Markt siegreich kämp-fenden Bürgertums. Es waren aber die deutschen Städte, die vom dreißigjährigen Krieg verwüstet und entvölkert waren. Was an Bürgertum üb-rig war, duckte sich ängstlich unter den Stand der Duodez-”Reichsfürsten”, denen eine deutsche Nation ein Gräuel war. Das Problem der deutschen Verspätung war das Problem unserer rachitischen Bourgeoisie. An Emanzipation war nicht zu denken, als höchstes Lebensziel konnte unser Bürger davon träumen, “bei Hofe zugelassen” zu werden. Und wie ging das? Durch Anbiederung an das höfische Beamtentum. Und das Mittel dazu war Bildung! In den Salons, in den Theatern, Museen und Musiksälen konnten sich deutsche Bürger “gleichrangig” fühlen mit den Edelleuten, und – wer weiß? – vielleicht wurde man wie Goethe und Schiller sogar geadelt. Bildung war der deutsche Ersatz für bürgerliche Befreiung.

Genau 200 Jahre nach dem westfälischen Frieden hat dann die Pariser Juniinsurrektion dem Professorenpar-lament in der Paulskirche einen solchen Schrecken ein-gejagt vor der “roten” Revolution, dass unserer Bour-geoisie nichts anderes übrig blieb, als unter Bismarck dem preußischen Leutnant die Stiefel zu küssen. Das waren unsere Nationaltypen: der preußische Leutnant und der deutsche Professor, und dazwischen – wankend – der Korpsbursche; Vater, Sohn und hl. Geist: die Drei-einigkeit des deutschen Gesamtphilisteriums.

 Dagegen erwuchs vor guten hundert Jahren der Wandervogel, der zur Jugendbewegung ausuferte, zu der Jugendbewegung, die das Beiwort “deutsch” nicht braucht, weil sie sowieso einzig war. Sie knüpfte direkt und ausdrücklich an die Romantik an, und Ironie war ihr neben der Blauen Blume – wer weiß das schon noch? – gar nicht fremd; war doch ihr Ideal das vogelfreie Fahrende Volk, “ehrlos bis unter den Boden”!

Denn katzbuckelnde Spießer, rüpelnde Leutnants und dünkelhafte Akademiker waren nie das ganze Deutschland. Nur – während die kraftstrotzenden Bourgeoisien der andern Nationen ihre produktive Energie frei in ihre Tagesgeschäfte verausgaben konnten, musste das gede-mütigte niedere Volk in Deutschland seinen Drang gegen sich selber kehren, musste ‘das Ich sich setzen, indem es sich sich-selbst einem Nicht-Ich entgegensetzt’! Später sollte Marx spotten, bei den Deutschen fänden Revolu-tionen immer nur im Geiste statt. Aber immerhin – dort fanden sie statt; statter als sonst wo!

Nein, der deutsche Michel ist nicht das ganze Deutsch-land. Dazu gehören noch Kant und Fichte, Marx und Engels, Schopenhauer und Nietzsche – lauter, mit Verlaub, radikale Denker! Diese Radikalität ist sicher nicht für je-den Deutschen typisch geworden. Aber sie kommt doch nur bei uns vor. Nämlich immer da, wo sich deutscher Tiefsinn mit abendländischem Scharfsinn paart.

Auch der Hang zu Endlö-sungen stammt freilich aus dieser Mischung, er vereint Radikalität mit Pedanterie, und das nennt er gründ-lich. Aber da liegt der Abgrund: Er vereint! Wirft sie zusammen in einen Topf und verrührt sie zu einer trägen Masse. Sie gehören zusammen, allerdings – aber so wie Licht und Schatten, nicht als Grauton, sondern als Spannung, als Kon-flikt. Und das macht uns wiederum noch ein bisschen abendländischer als unsere Nachbarn.
 
Selbstverständlichkeit kennzeichnet nämlich nicht den Reichtum abendländischer Kultur, sondern die Fülle ihrer konkurrierenden Werte. Die reichste Kultur ist eine sol-che, wo die Anordnung, die Umordnung der Werte pro-zessierend immer wieder neu geschieht – im Meinungs-kampf der Öffentlichkeit. Es sind die Problematizität und der Widerstreit mannigfaltiger Gebote, die dieser Kultur ihren Tonus verleiht und dem Einzelnen die eigne Wahl, nämlich eine persönliche Bildung (da ist sie wieder!) zu-mutet. Das gibt es nur im Abendland, und in diesem Sinne kann man sagen, nir-gends sei das Abendland abendländischer als zwischen Rhein und Oder, zwischen Baum und Borke; bei uns. Da, wo alles, was gilt, stets voll und ganz gelten will, und sich ipso facto in der Schwebe hält. Ich sage nicht, dass jeder Deutsche zum Iro-niker taugt, ach herrje. Aber die deutsche Kultur als Ganze, ich meine: als ganzer Strom, ist selbst ironisch. Wenigstens, wenn man sie mit Abstand betrachtet.

Aber dann – ja, dann wird man selbst zum Ironiker.
im November 2008


 
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE

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