Samstag, 1. Juni 2024

Was von Kant wirklich übriggeblieben ist.

Nahaufnahme des Denkmal für Immanuel Kant in der Stadt Kaliningrad
aus spektrum.de, 1. 6. 2024                                                                                      zu Philosophierungen

Was Kant so berühmt machte
Kaum ein Philosoph vermochte es, die Welt so nachhaltig mit seinen Werken zu beschäftigen wie Immanuel Kant. Worauf gründet sich sein Ruhm?  

Immanuel Kants Geburtstag jährt sich 2024 zum 300. Mal, darauf habe ich bereits zum Jahreswechsel in dieser Kolumne hingewiesen. Entsprechend war der bekannte Philosoph um den 22. April herum Thema in zahlreichen Medien. Etliche Journalisten beschäftigten sich mit der Frage, wie modern seine Ansichten sind und was man heute noch von ihm lernen kann. Doch warum ist Kant eigentlich so ein wahnsinnig großer philosophischer Name?

Im Prinzip gibt es drei Hauptgründe für Kants Ruhm: erstens die Breite seines Beitrags zur Philosophiegeschichte; zweitens die Tiefe der Wirkung, die er damit erzielte; und drittens ihre fortwährende Dauer.

Kants Werk hat eine bemerkenswerte Breite. Er hat bedeutende Schriften in einer ganzen Reihe philosophischer Disziplinen verfasst, um nicht zu sagen in praktisch allen, die zu seiner Zeit existierten. Die »Kritik der reinen Vernunft« aus dem Jahr 1781 behandelt Themen der Metaphysik und der Erkenntnistheorie. Verschiedene andere Werke, darunter die »Kritik der praktischen Vernunft« (1788), beschäftigen sich vor allem mit Fragen der Ethik, während es in der »Kritik der Urteilskraft« (1790) unter anderem um Ästhetik geht. In seinen Hauptwerken, aber auch verschiedenen kleineren Schriften, zum Beispiel dem berühmten Aufsatz »Zum ewigen Frieden« von 1795, finden sich zudem Überlegungen zur politischen Philosophie, zur Geschichts-, Rechts- und Religionsphilosophie.

Kant wirkte in die Tiefe. Schon zu seinen Lebzeiten wurde seine Philosophie intensiv und kontrovers diskutiert. In allen oder nahezu allen der oben genannten philosophischen Feldern ist er nicht einfach nur jemand, der signifikante Beiträge geleistet hat, sondern gilt als revolutionärer Denker. Diesen revolutionären Charakter vertrat er durchaus selbstbewusst, wenn er etwa seinen Neuentwurf der theoretischen Philosophie mit dem Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild und sich damit selbst mit Kopernikus verglich. Kant zufolge können wir daraus, wie uns die Welt erscheint, keine unmittelbaren Rückschlüsse darauf ziehen, wie die »Dinge an sich« sind, sondern lediglich auf bestimmte Rahmenbedingungen, in denen unser Wahrnehmen und Denken stattfindet. Ebenso bahnbrechend war seine bis heute kontrovers diskutierte Ethik, in deren Zentrum der Grundsatz steht, dass Handlungen nicht nach ihren Folgen, sondern nach ihrer Motivation beurteilt werden müssen. Der Maßstab für diese Beurteilung ist für Kant der kategorische Imperativ, ein Testverfahren, das beansprucht, Handlungen lediglich danach zu beurteilen, ob die dahinterstehende Begründung sich widerspruchsfrei verallgemeinern lässt.

Und schließlich hat Kants Werk nicht nur einen großen, sondern auch einen äußerst anhaltenden Einfluss entfaltet. Der durch ihn angestoßene Umbruch in der Philosophie gilt als Kernkomponente des geistesgeschichtlichen Umschwungs im 18. Jahrhundert, den man Aufklärung nennt – und zu dem er mit seinem Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« 1784 geradezu das Programm geschrieben hat. Im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert arbeiten sich weite Teile der Philosophie in der europäischen Tradition an Kant ab, im Zweifelsfall auch durch engagierte Ablehnung. Und obwohl in Deutschland traditionell kaum Philosophie an Schulen unterrichtet wird, gehören einige Passagen aus Kants Werken zu den wenigen philosophischen Klassikertexten, die heute als gängiger Schulstoff gelten können.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Aufklärung durchaus eine düstere Seite hatte, an der Kant beteiligt war. Aktuell wird darüber intensiver diskutiert als bei vorangegangenen Kantjubiläen, und das ist sehr gut so. Dennoch ist es sicher nicht falsch, das Kantjahr 2024 ein wenig zu feiern: als das Jubiläum eines Mannes, der selbst nicht vollkommen war, aber dennoch wie kaum ein anderer wirkmächtig darüber geschrieben hat, wie die Menschen sich aus eigener Kraft zum Besseren hin entwickeln können.

 

Nota I. - Matthias Warkus' Text spottet seiner selbst. Die Philosophen wollten weniger gelobt und mehr gelesen sein, möchte man sagen! 'Was macht Kant so berühmt?' Und dann zählt er auf... Aber das Wichtigste, das Weltstürzende und Kopernika-nische daran - erwähnt er nicht einmal dem Namen nach. Ich hab es, bevor ich es gepostet habe, mehrmals durchgelesen: Da fehlt sowohl das Wort kritisch als auch transzendental. Warkus wird sagen: Das lässt sich mit ein paar Zeilen ja auch nicht abmachen, das ist viel zu komplex. Und Recht hat er. Und darum hat er so wie alle andern von Kants Berühmtheit das A und O fortgelassen; und hat weggelassen, dass bei aller Berühmtheit seine Wirkung, ich meine: die, die er beabsicht haben wird, schon in der folgenden Generation vom Winde verweht oder von der Fama spekulativer Marktschreier übertönt worden ist.

Dafür hat er allerdings selber den Boden bereitet. Noch in den Einleitungen zur Kritik der reinen Vernunft lässt er keine Zweifel daran, dass er in der Sache erst hat Eingangskapitel bewältigt hatte und das kritische Unternehmen fortgeführt werden müsste. Allerdings hat er auch schon eingeräumt, aber auch einräumte, er wolle "das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen": Respektvoll blieb er beim Apriori stehen und überließ der Vorsehung neidlos das Feld.

Jugendliche Brauseköpfe unter seine ersten Adepten taten einen Coup de Chapeau vor der lutherischen Bigotten ab, aber als die Radikalen um Niethammers Philoso-phisches Journal dann wirklich begannen, "über Kant hinaus" zu gehen, war er gar nicht angetan; und hat sich durch seinen gehässigen Angriff auf Fichte während des Atheismusstreits öffentlich auf die Seite der Orthodoxen Kantianer gestellt, die sein kritisches Arsenal zu einer Sammlung positiver Lehrsätze trivialisiert hatten. 

Ein gegenwärtiges Echo finden Sie oben in Warkus' Bemerkung über die Klassiker-texte, die heute gängiger Schulstoff wären. Genau das ist Kant nie geworden und konnte es gar nicht, denn sein Werk ist kein "Stoff", sondern ein Verfahren, das wohl der Welt einen neuen Stoff zum Denken beschert hat, den man aber durch Selberdenken nachschaffen muss, um ihn für sich behalten zu können. In einer Schule gelehrt werden kann er definitiv nicht.

So hätte das kritische, transzendentalen Denken nur aktuell bleiben können, wenn es fortgesetzt worden wäre. Aber Fichte, der einen Großteil der Arbeit schon ge-schafft hatte, hat ihn schließlich selber preisgegeben und war - nein, nicht vor den Orthdoxen, sondern von dem Glaubensphilosophen Johann Heinrich Jacobi ein-geknickt: So hatte Kant schließlich doch noch "für den Glauben Platz" geschaffen.

Weiter ging es mit den einander überbietenden phantastischen Konstruktionen von Schelling und seinem Plagiator Hegel, die rasant das anfängliche romantische Feuer-werk erst in still delirierende Schwärmerei und am und schließlich, nach dem Zerfall des Hegelschen Systems, mit dem anfänglichen Fichte-Schüler Schopenhauer in mürrischen Katzenjammer überging.

Das war aber schon außerhalb der Philosophie, die sich inzwischen selbst an den Universitäten unter ihren Kathedern verstecken musste. Auf dem Marktplatz gab der Materialismus von Büchner, Schott und Moleschott den Ton an. Und als sich die Philosophie dann doch wieder ans Tageslicht wagte, war es der Gymnasiallehrer Friedrich Albert Lange, der 1866 mit seiner Geschichte des Materialismus den Neu-kantianismus ins Leben rief.  

Die Neukantianer durchdrangen bis über den Ersten Weltkieg hinaus das gesamte deutsche Geistesleben und drangen im Austromarxismus weit über das akademi-sche Milieu hinaus bis tief in die revolutionäre Arbeiterbewegung. 

War Kant da endlich wieder zurück? Halb und halb. Dass jeder Redner ehrfürchtig erstirbt, sobald sein Name fällt, hat sich bis heute kaum geändert. Auch nicht geändert hat sich die Tasache, dass mit der Kantforschung Kritische oder Transzendentalphilosophie mehr ein Sache der Philologie als der Philosophie geworden ist. Erkenntnistheorie wurde in der nördlichen oder 'Marburger' Schule hauptsächlich als Textexegese betrieben, während die süddeutsche oder 'Heidelberger' Richtung zwar stoffliches Neuland erschloss, aber hauptsächlich, indem sie die Kantschen Ergebnisse auf empirische Forschungen bezog, nicht aber, indem sie die Transzendentalphilosophie weiter auf ihr Ende hin fortführte.

Die Weiterarbeit der Kritischen Philosophie von dem Punkt aus, wo Fichte sie verlassen hat, wäre zwar ein Möglichkeit, das unfruchtbare Nebeneinander von 'Systematikern' und 'Kontinentalen' zu überwinden. Aber populär will sie nicht werden, so wund ich mir auch die Finger tippe.

 

Nota II. -  Ich bedanke mich bei dem aufmerksamen follower meines Blogs, der mich auf meinen statistics immer wieder an die posts erinnert, die ich zum jewei-liegen content bereits eingestellt habe. Oftmals müsste ich sonst selber suchen.
JE


 

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