Freitag, 28. Juni 2024

Heilkunst und Wissenschaft.

Rembrandt, Anatomie Dr. Tulp                zu Jochen Ebmeiers Realien

Der Überlieferung nach ließ Iwan der Schreckliche dem Baumeister der Moskauer Basilius-Kathedrale -  Jakowlew -, als das Werk vollendet war, die Augen ausstechen und die Zunge herausreißen, damit er sein Wissen nicht weitergeben konnte. 

Das ist wohl nicht wahr, aber vorstellbar. Denn so ist die Baukunst entstanden: in-dem ein Meister seine Schüler in seine Geheimnisse einweihte. Eine breitere Basis erhielt sie in Europa, als bei den großen Kathedralen Bauhütten entstanden, wo viele Meister viele Schüler anlernen konnten - und die eifersüchtig über ihre Exklu-sivität wachten. Aber nicht alle Meister blieben am Ort, sondern zogen quer durch Europa von einer Baustelle zur andern.

Doch bloßes Erfahungswissen bleibt, wie sorgfältig es auch bewahrt wird, unzuver-lässig. Es geschah immer wieder, dass große Bauwerke noch während ihres Entste-hens einstürzten. Überprüfbares Wissen, Wissenschaft, wurde daraus erst, als Gal-ileo die mathematische Statik begründete.

Begriffe ohne Anschauung sind leer, das ist wohl wahr, aber Anschuung ohne Be-griff ist blind. Das ist eine Theorie: ein Satz von Begriffen, die untereinander in einem systematischen Verhältnis stehen, die erlauben, bloßes Erfahrungswissen von Zufälligkeiten zu reinigen und kostspielige Misserfolge zu vermeiden. Und doch konnte Andreas Schlüter noch zwei Generationen nach Jakowlew nicht verhindern, dass ihm sein Berliner Münzturm einstürzte. Alle Wissenschaft hat immer auch Lücken.

Die aufzuspüren ist wiederum Sache der Theorie selbst. Sie ist an ihrem Anfang - an ihrem sachlich-positiven Anfang - Kritik, denn so sind die Begriffe entstanden: aus kritischen Reflexion auf die Erfahrungsdaten. Aber nicht nur auf die, sondern ebenso auf die Erzeugnisse der bloßen Spekulation. Erfahrung und Einbildung begrenzen das Feld des bewährten geprüften Wissens, in der Spannung zwischen beiden behauptet es seine Unabhänigkeit. Erfahrung kann täuschen, dauerhaft ist allein der Begriff - dieser eleatische Grundgedanke hat über die platonische Ideen-Lehre das westliche Denken und unsern gesunden Menschenverstand geprägt und ist bis heute unausrottbar. 

Kommen wir endlich auf die Medizin. Sie ist, wie die Baukunst, entstanden als ein Spezialwissen - medecine men nannten die Euro-Amerikaner die Schamanen der dortigen Eingeborenen  - von Eingeweihten, anvertraut vom Vater auf den Sohn. Das waren chirurgoi, wörtlich: Hand-Werker. In den poleis, den kultivierten städti-schen Zentren, fanden sich wohl auch gelehrte Köpfe, die mit Dichtern und Phi-losophen zur intellektuellen Elite zählten, und von denen - von denen allein: Hip-pokrates, Galenus et. al. - sind Texte überliefert, die ein Philologe zitieren kann, und die werden vornehmlich andere Angehörige der Elite kuriert haben. Keine Texte haben hinterlassen die weisen Frauen auf dem Lande und die Wundheiler, die die Krieger nach geschlagener Schlacht wieder zusammenflickten. Und an die werden sich auch jene Bewohner der kultivierten Zentren gehalten haben, die nicht zur Elite zählten.

Dass medizinisch Gelehrte und chirurgoi nicht nur faktisch, sondern auch förmlich und standesmäßig auseinandertraten, war historisch gesehen ein Fortschritt, der un-mittelbar aber einem Rückschritt geschuldet war, nämlich dem Untergang der anti-ken Kultur während der sogenannten Völkerwanderung. Als deren isolierte Restpo-sten waren die Bischofssitze übriggeblieben, und was an Gelehrsamkeit überlebt hatte, sammelte sich hier. Hier und nirgend anders entstanden Schulen und Univer-sitäten, die nun keine privaten Wandelhallen mehr waren, sondern hochoffizielle, sozusagen "öffentliche" Einrichtungen. Hier war die Gelehrsamkeit unter sich, sie unterstand als solche der römischen Kirche, die allein sie gegen die weltlichen Her-ren schützen konnte und - wollte.

So wurde aus dem Unterschied zwischen gewöhnlichen Wundheilern und den ge-lehrten Ärzten der Vornehmen ein Standesunterschied zwischen Praktikern, die "alles konnten und nichts wussten", und akademishen Medizinern, die alles wussten und nichts konnten.

Eine Wissenschaft für alle und ein allgemeiner Berufsstand ist daraus geworden, als... nein, nicht die Gelehrsamkeit in die ärztliche Praxis, sondern das praktische Experiment in die Gelehrsamkeit eingebrochen ist; nämlich die Anatomie. Die kam - wie "die Vernunft" überhaupt - im 17. Jahrhundert auf. Sie hatte gegen die Theo-logen aller Konfessionen über Generationen ein schweren Stand und musste ihr Material des Nachts von den Galgen und den Gottesackern stehlen. 

Den Treffpunkt verkörpert der als Doktor historisch gewordene François Quesnay. Der war ein Kupferstecher, und als solcher illustrierte er das Werk des englischen Mediziners William Harvey über den Blutkreislauf. In die Geschichtsbücher gelang-te er als der Begründer der Politischen Ökonomie (das Wort hat ein andrer erfun-den), die er ebenfalls als Kreislauf darstellte. Doch in unsern Zusammenhang ge-hört er, weil er noch als Kupferstecher gegen die damals grassierende Mode der Aderlasse aufgetreten war: Sie hätten überhaupt nur eine Wirkung, schrieb er unter Berufung auf Harvey, wenn sie in unmittelbarer Nähe des Krankheitsherdes vorge-nommen werden. Seine Schrift machte Furore, und er wandte sich ganz diesem Thema zu. Da er Medizin nicht studiert hatte, brachte er es nur zum Chirurgicus, doch immerhin berief ihn die Gräfin Pompadour zu ihrem Leibarzt und er bezog Wohnung im Schloss von Versailles. Und schließlicn erlangte er doch noch den akademischen Doktograd, der ihn bis heute in allen Lehrbüchern an Stelle seines Vornamens ziert. Die ökonomische Lehre, die ihm dort seinen Platz eingetragen hat, entwickelte er erst in Versailles.

 

 

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde - nicht zuletzt im Namen der Nation - Volksgesund-heit zu einem öffentlichen Auftrag, und heilende Tätigkeit zum Monopol einer akademischen Ärzteschaft. Nicht nur die Ausübung des Berufs, sondern schon die Ausbildung dazu wurde allgemeinen Normen unterworfen. Wissenschaftlichkeit wurde dem Ärztestand okroyiert, indem er öffentlich bestallt und öffentlich kontrolliert wird. Kritik ist institutionell geworden, und dass sie ihrem Wesen nach ohne Grenzen ist, macht sie zum Beispiel gegen große Seuchen unentschlossen und langatmig; doch ein anderes Mittel, dauerhaften Schaden zu verhindern, gibt es schlechterdings nicht.

Kommentar zu Heilkunst und Wissenschaft. JE, 4. 1. 22


 

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